Montag, 26. August 2013

GLI ULTIMI - Spät-Neorealismus und Vogelscheuchen aus Friaul

GLI ULTIMI (DIE LETZTEN)
Italien 1962
Regie: Vito Pandolfi
Darsteller: Adelfo Galli (Checo), Lino Turoldo (Zuan), Margherita Tonino (Anute), Laura De Cecco (Josette), Vera Pescarolo (Lehrerin)


Ein Off-Sprecher stimmt auf Thema und Schauplatz ein: "In den 30er Jahren begann die Landflucht auch in Friaul. Diese scheinbar zufälligen Ereignisse erzählen die Geschichte eines Jungen, der fühlte, wie die Tragödie von vielen auch sein Heim bedrohte. War es richtig zu bleiben, oder besser zu gehen?" Friaul im Nordosten Italiens war damals, abgesehen von der Provinzhauptstadt Udine, eine agrarisch geprägte Gegend, doch der Landbevölkerung ging es schlecht. Die Weltwirtschaftskrise hatte auch in dieser randständigen Region Italiens zugeschlagen, und die mühsam beackerten Böden gaben oft nicht viel her. So kam es zur angesprochenen Landflucht: Einzelne Familienmitglieder oder ganze Familien verließen die Dörfer zeitweise oder dauerhaft, um sich anderswo Arbeit zu suchen. Um das mit Zahlen zu veranschaulichen: Die Gemeinde Sedegliano, zu der das Dorf Coderno di Sedegliano, der Hauptschauplatz des Films, gehört, rund 20 km von Udine entfernt, hatte 1931 5775 und 1936 5350 Einwohner.

Eine Vogelscheuche wird aufgestellt
Der Held des Films ist der zehnjährige Checo. Auch seine Familie ist von der Armut betroffen. Seine ältere Schwester Nerina arbeitet bereits als Dienstmädchen im fernen Novara in Piemont, sein Bruder Roberto, der älteste der Geschwister, hat sich sogar in einem Kohlebergwerk in Belgien verdingt, obwohl er noch keine 18 ist. So leben nur noch Checo und seine kleine Schwester Liana bei ihrem Vater Zuan und ihrer Mutter Anute. Die Landwirtschaft, die sie betreiben, besteht aus einer Kuh, drei Schafen, und etwas mühsamem Ackerbau. Weil das nicht ausreicht, muss Zuan gelegentlich auch als Tagelöhner arbeiten, z.B. beim Bau eines Bewässerungskanals mit Hacke und Schaufel. Checo hat es doppelt schwer: Unter den Kindern im Dorf ist er ein Außenseiter. Er ist kleiner und schmächtiger als seine Klassenkameraden, und dabei der Klassenbeste - eine ungünstige Kombination. So wird er ständig gehänselt, als Schandfleck und Vogelscheuche bezeichnet, und auch körperlich malträtiert. Da er oft die drei Schafe hüten muss, ist er regelmäßig mit sich und den Schafen allein auf freiem Feld, wo eine echte Vogelscheuche zu einem Anlaufpunkt und einer Art von Freund für ihn wird, und er gibt sich dann seinen Tagträumereien hin. Seine einzige echte Freundin wird das kleine belgische Mädchen Josette. Ihr Vater, ein Bergmann, war an Tuberkulose gestorben, und einer seiner Kollegen, ein alter Freund von Zuan, hat sie adoptiert und in seine Heimat Friaul mitgenommen, wohin er wegen seiner Staublunge zurückkehrte.

Anute und Zuan
Wie der Satz von den "scheinbar zufälligen Ereignissen" schon andeutet, besteht GLI ULTIMI aus etlichen nur lose miteinander verbundenen Episoden. Der Tod eines noch relativ jungen Mannes, in dessen Haus Zuan mit anderen Dorfbewohnern Totenwache hält, versetzt Checo, der wohl zuvor noch nicht mit dem Tod konfrontiert wurde, in Schrecken. - Zwischen den Episoden gibt es immer wieder Szenen, die im Haus, vor allem in der Wohnstube, spielen, und die sowohl die Armut veranschaulichen als auch die Familie charakterisieren. Die Einrichtung ist karg, fast spartanisch, und zu essen gibt es meist nur Polenta mit irgendeinem Salat. Aber trotz zweier abwesender Kinder - die regelmäßig schreiben - ist die Familie intakt. Zuan liebt seine Kinder, und er zeigt es auch, auch wenn er gelegentlich streng zu Checo ist. Bezeichnend ist eine Szene beim Abendessen: Zuan gibt Checo und Liana je ein Stück Polenta, und sagt "das ist die Polenta". Dann gibt er ihnen noch ein Stück Polenta, und sagt "das ist der Käse". Die beiden nehmen es mit Humor, aber eigentlich schämt sich Zuan etwas, und er verspricht, dass es bald richtigen Käse gibt. Zuan ist auch kein Patriarch. Wenn Anute anderer Meinung ist als er, hört er auf sie, und wenn er böse auf Checo ist oder zuviel von ihm verlangt, gelingt es ihr schnell, ihn ohne große Worte zu besänftigen. - In der Schule hört Checo, der gut zeichnen kann, von der Lehrerin die legendenhafte Geschichte von Giotto di Bondone, dem Pionier der Renaissancemalerei, der Schäferjunge war, bevor er für die Kunst entdeckt wurde, und später identifiziert er sich in einem seiner Tagträume mit dem Genie, indem er mit Kreide einen Kreis auf einen Felsbrocken zeichnet - Giotto soll einmal als Talentprobe einen perfekten Kreis mit freier Hand gezeichnet haben. Doch Checo vernachlässigt dabei die Aufsicht über die Schafe, und eines frisst von mit Gift verseuchtem Boden und stirbt wenig später, was Checo gehörigen Ärger mit Zuan einhandelt.

In der Wohnstube
Im Dorfgasthaus unterhalten sich einige Männer über die gegenwärtige Lage, darunter auch ein faschistischer Funktionär. Es ist dies eine von nur zwei kurzen Stellen im Film, in denen "große Politik" und die Tatsache, dass Italien ein faschistisches Land ist, thematisiert wird. Wieder im Freien, wiederholt Zuan eine der Phrasen des Faschisten und macht dazu eine abschätzige Handbewegung - ein dezenter, aber doch eindeutiger Hinweis auf seine Position: Er ist kein Freund des Faschismus. Die zweite Stelle mit Politik folgt kurz danach: Ein Musterungsbefehl wird angeschlagen, weil, wie drei Männer meinen, "dieser Kerl in Österreich" ermordet wurde (ich nehme an, dass Engelbert Dollfuß gemeint ist), und einer der drei räsoniert über falsche Versprechungen des Staats. - Eine Nachbarsfamilie bricht, das ganze Hab und Gut auf einen Leiterwagen gepackt, nach Udine auf. - Checo geht in der Kirche dem Küster und dem Pfarrer zur Hand und wird zur Belohnung zur Hochzeit eines wohlhabenden Paars eingeladen. Doch dort nimmt niemand irgendeine Notiz von ihm, abgesehen vom Fotografen, der ihn aus dem Bild scheucht. Checo fühlt sich als der Fremdkörper, der er auch tatsächlich ist, und zieht bedrückt wieder ab, ohne etwas vom Festessen abbekommen zu haben. Es ist schlimmer, als wenn man ihn überhaupt nicht eingeladen hätte. Bei "seiner" Vogelscheuche, wo er in der Abenddämmerung einen wilden "Vogeltanz" aufführt, findet er Trost.

Totenwache für einen verstorbenen Dorfbewohner
Zuan muss die Kuh verkaufen, weil sie weniger einbringt, als der Unterhalt kostet. Wenigstens kann vom Erlös ein neues Schaf gekauft werden, um das tote zu ersetzen. - Mit einigen ihrer Nachbarn und Freunde beraten Zuan und Anute, ob man nicht auch das Land verlassen und in die Stadt ziehen sollte. Einige betrachten das als Option, aber Zuan ist strikt dagegen. Er fühlt sich an das Land gebunden und fürchtet anderswo die Entwurzelung. - Zwei junge Männer brechen mit dem Zug nach Belgien auf, um in den Kohlegruben zu arbeiten. Ihre jüngeren Brüder, etwas älter als Checo, kündigen an, so bald wie möglich nachfolgen zu wollen. - Checo vernachlässigt wieder einmal die Aufsicht über die Schafe, die in das Feld eines reichen Bauern eindringen. Dieser verjagt sie und beschimpft Zuan und seine Familie als "Sack Flöhe". Zuan ist stinksauer auf Checo und bezeichnet ihn jetzt selbst als "Vogelscheuche". - Checo erhält zuhause einen Klaps, fühlt sich ungerecht behandelt und haut ab. Aber er kommt nicht weit. Im Tal des Tagliamento läuft er einer kleinen Militäreinheit in die Arme, die mit aufgesetzten Gasmasken gerade eine Übung abhalten. Checo bekommt einen Riesenschreck und kehrt um. Zuhause gibt es wegen seiner Abwesenheit wieder Ärger. - Checo beobachtet eine Gruppe der Dorfjungen, die einen "Geheimbund" gegründet und irgendwo eine Flasche Wein abgestaubt haben. Checo gesellt sich zu ihnen und wird zum ersten Mal in ihrer Runde akzeptiert.

Checo schließt Freundschaft mit Josette
Checo unternimmt mit Josette einen Sonntagsausflug zu einer Mühle, die ihnen als Abenteuerspielplatz dient. Am Ende bekommt er von Josette einen Kuss. - Ein tragisches Ereignis verändert Checos Situation grundlegend: Sein Bruder Roberto stirbt bei einem Grubenunglück in Belgien. Neben dem Schock und der Trauer gibt es auch materielle Auswirkungen: Es fehlt das wenige Geld, das Roberto regelmäßig überwiesen hat, und Checo muss einspringen. Obwohl er der beste Schüler im Dorf ist und irgendwann studieren wollte, muss er die Schule verlassen, um demnächst irgendwas zu arbeiten. - Beim Münzenwerfen gewinnt Checo etwas Kleingeld von den anderen Dorfjungen und kauft Zuan davon eine Zigarre. Dieser ermahnt ihn, das Geld lieber Anute zu geben, aber insgeheim freut er sich über die Zigarre. - Checo wird von einer wohlhabenden Bäuerin wieder einmal "Vogelscheuche" genannt. In einer Mischung aus Wut, Verzweiflung und Selbstbehauptungswillen rennt er zu seiner Vogelscheuche, schreit "Ich bin keine Vogelscheuche! Ich bin keine Vogelscheuche!", bewirft sie mit Steinen, reisst sie um und trampelt darauf herum. - Letzte Szene: Checo, allein unterwegs und mit sichtlich gestiegenem Selbstbewusstsein, sucht und findet eine Arbeit beim Abschlagen von Ästen auf hohen Bäumen. Als guter Kletterer ist er dafür prädestiniert. Wie am Anfang werden die letzten Bilder von einem Off-Sprecher begleitet: "Als diese Ereignisse stattfanden, war Checo 10 Jahre alt. Heute ist er ein erwachsener Mann. Aber wo ist er? Würden wir ihn immer noch finden, wenn wir in sein Friaul gehen würden?"

Die Dorfschule
GLI ULTIMI wurde von Vito Pandolfi inszeniert, aber der Film ist ebensosehr das Werk von David Maria Turoldo. Turoldo (1916-1992) war ein progressiver katholischer Priester und Pater des Servitenordens, und er war ein in Italien bekannter Poet und Schriftsteller. Turoldo wurde 1916 als neuntes von zehn Kindern einer Bauernfamilie in Coderno di Sedegliano geboren, also im Milieu und am Handlungsort von GLI ULTIMI. Nach dem Theologie- und Philosophiestudium war er, gefördert vom dortigen Erzbischof, in den 40er Jahren in Mailand tätig, wo er 1943-45 auch mit dem antifaschistischen Widerstand verbunden war und die Untergrundzeitschrift L'Uomo herausgab. 1948 gründete der linke katholische Priester Don Zeno Saltini aus einem Vorgängerprojekt heraus das Kinderheim Nomadelfia, das damals vor allem Kriegswaisen beherbergte, und das in Form einer selbstverwalteten katholischen Kommune organisiert war und die Kinder auf Adoptivfamilien verteilte, ähnlich wie etwas später die SOS-Kinderdörfer (Saltini hatte seinerzeit erhebliche Probleme mit den Kirchenbehörden und war sogar jahrelang vom Priesteramt entbunden, ist aber inzwischen auf dem Weg zur Seligsprechung). Turoldo war von Anfang an ein begeisterter Förderer von Nomadelfia. Um 1950 herum trat er auch erstmals mit Gedichtbänden hervor.

Vogelscheuchen
Nach zwei Jahren in ausländischen Niederlassungen seines Ordens, darunter auch in Österreich und Bayern, und dann einigen Jahren in Florenz wurde Turoldo 1961 in ein Konvent in Udine versetzt. Zum ersten Mal seit langer Zeit war er wieder in seiner Heimat, die sich inzwischen stark verändert hatte. Italien hatte in den 50er-Jahren eine Turbo-Industrialisierung erlebt, und eine zweite Welle der Landflucht dauerte immer noch an (hier kann man einige der Zahlen für Sedegliano nachlesen). Die Probleme der verbliebenen Landbevölkerung waren teilweise noch die selben wie vor 30 Jahren. Da hatte Turoldo die Idee, über die im Schwinden begriffene Welt seiner Kindheit einen Film zu machen. Zugleich sollte der Film zeigen, wie man auch in der Armut seine Würde bewahren konnte. Turoldo hatte sogar weitergehende Pläne zu einer Trilogie, die Checos Leben weiter verfolgen sollte, aber da GLI ULTIMI ein kommerzieller Fehlschlag wurde, zerschlug sich das. Unter Vermittlung von Pier Paolo Pasolini, der auch teilweise in Friaul aufgewachsen war, und mit dem Turoldo befreundet war (er hielt 1975 auch seine Grabrede), versammelte er ein Häuflein von Mitstreitern, die für die Produktion die Firma "Le Grazie Film" gründeten. Den Verleih von GLI ULTIMI übernahm Henry Lombroso, der mit seiner Firma "Globe Films International" auch Werke von Dreyer, Bergman und Tarkowskij nach Italien brachte. Als Regisseur gewann Turoldo den mit ihm befreundeten Vito Pandolfi, und Pandolfi und Turoldo schrieben gemeinsam das Drehbuch (unter Mitarbeit eines Mario Casamassima), basierend auf Turoldos bis dahin unveröffentlichtem autobiographischen Text "Io non ero un fanciullo", was wohl ungefähr "Ich hatte keine Kindheit" heißt. Checo ist also in einem gewissen Ausmaß das alter ego von Turoldo als Kind.

Eine Familie bricht nach Udine auf
Vito Pandolfi (1917-1974) war ein linksintellektueller Theaterautor, -regisseur und -kritiker. Ein Theaterwissenschaftler, der an der Universität Genua lehrte und mehrere Bücher schrieb, war er auch. Als Jean Renoir 1952 in Italien DIE GOLDENE KAROSSE drehte, engagierte er Pandolfi als Berater für die Commedia dell'arte. Im Gegensatz zu Turoldo, der von großer körperlicher Statur und kräftiger Stimme sowie von unkompliziertem und impulsivem Charakter war, wird Pandolfi als sehr zurückhaltend geschildert. Ebenso wie Turoldo war Pandolfi, ein Marxist und Mitglied der Kommunistischen Partei Italiens, in den 40er Jahren im Mailänder Raum Mitglied der Widerstandsbewegung gegen die Nazis, und seitdem waren die beiden miteinander befreundet. 1966 sagte Pandolfi in einem Interview, dass er schon immer Filme liebte, und zwar insbesondere Dokumentarfilme (hier nennt er als Beispiel den Namen Flaherty) und den italienischen Neorealismus, und nur durch Zufall beim Theater gelandet sei. Beides - Neorealismus und eine Spur Flaherty - findet sich auch in GLI ULTIMI wieder. Der Film wurde in klassischer neorealistischer Manier gedreht: Ausschließlich an den Originalschauplätzen in Friaul, und komplett mit Laiendarstellern. Wie Pandolfis Aussage im Interview belegt, war das in erster Linie künstlerisch begründet, auch wenn es natürlich den Anforderungen eines knappen Budgets entgegenkam. Checos Darsteller Adelfo Galli kam aus Nomadelfia, dem Kinderheim, für das Turoldo unermüdlich Spenden einwarb. Die Einnahmen von GLI ULTIMI sollten nach Deckung der Herstellungkosten komplett an Nomadelfia fließen, aber nach dem kommerziellen Misserfolg konnte kein oder allenfalls sehr wenig Geld an das Heim überwiesen werden. Zwar fielen die Laiendarsteller finanziell nicht ins Gewicht, aber die Techniker bekamen die üblichen Löhne einer kommerziellen Filmproduktion. Neben Galli, der als "der kleine Adelfo aus Nomadelfia" als einziger Darsteller namentlich in den Credits genannt wird, war Vera Pescarolo, die die Dorfschullehrerin spielt, die einzige Darstellerin, die nicht aus Friaul stammte. Sie war die Schwester von Pandolfis Regieassistenten Leo Pescarolo, der später ein erfolgreicher Film- und Fernsehproduzent wurde. Die meisten anderen Laiendarsteller kamen aus Coderno di Sedegliano oder der engeren Umgebung. "Zuan" Lino Turoldo war ein Bruder von David Maria Turoldo, und "Anute" Margherita Tonino (in der IMDb wird sie mit der spanischen Schauspielerin Margarita Torino verwechselt) wurde zufällig von Pater Turoldo entdeckt, als er eigentlich ihren Sohn als Kandidaten für Checo testen wollte. Die Laiendarsteller verleihen dem Film in vielen Szenen dokumentarische Glaubwürdigkeit. Wenn etwa Zuan mit vollkommener Beiläufigkeit die Polenta mit einer Schnur teilt, dann glaubt man ihm jede Sekunde, dass er selbst mit Polenta aufgewachsen ist und nicht mit Saltimbocca alla romana, und ähnlich verhält es sich mit den landwirtschaftlichen Handgriffen. Und in solchen Szenen wandelt GLI ULTIMI auch in den Spuren von Robert Flahertys ethno-dokumentarischen Filmen, insbesondere in denen von MAN OF ARAN (1934), den Flaherty auf einer kleinen sturmumtosten Insel vor der irischen Westküste gedreht hat, wo ähnlich karge Lebensbedingungen wie in GLI ULTIMI herrschen, und in dem sich die Inselbewohner - im Rahmen einer von Flaherty zusammengestellten fiktiven Familie - selbst spielten.


Einige kleinere Rollen wurden von friaulischen Freunden von Turoldo übernommen, so spielte der Schriftsteller Riedo Puppo den Küster und der Fotograf Elio Ciol den unfreundlichen Fotografen bei der Hochzeit. Ciol war auch der Standfotograf bei den Dreharbeiten und machte fast 2000 Aufnahmen, von denen eine Auswahl 2002 in einem 200-seitigen Bildband erschien. Ein 1998 erschienenes 52-seitiges Büchlein über GLI ULTIMI mit dreisprachigem Text wird ebenfalls von Ciols Bildern illustriert. Eine Ausstellung von Ciols Bildern vom Set im Jahr 1990 war auch der wichtigste Auslöser dafür, sich ernsthaft um die Erhaltung und Wiederbelebung des Films zu kümmern. - Adelfo Galli spielt seine Rolle sehr natürlich und ausdrucksstark, und Michelangelo Antonioni hat ihn seinerzeit als den besten Kinderdarsteller im italienischen Film bezeichnet (weitere Filmrollen hatte er aber nicht mehr). Freilich benutzte Pandolfi auch fragwürdig anmutende Mittel, die damals aber als normal galten. Im schon erwähnten Interview von 1966 bekannte er: "Ich musste ein System für ihn [Adelfo Galli] erfinden. Um eine bestimmte Emotion zu produzieren, musste ich eine entsprechende Reaktion auslösen. Wenn ich zum Beispiel wollte, dass er weinte, gab ich ihm ein paar Schläge. Er weinte. Wenn er lächeln sollte, zog einfach jemand hinter der Kamera Grimassen." GLI ULTIMI hat einige sehr emotionale Momente, aber er ist nie auch nur annähernd sentimental. Im Gegenteil - die strenge Inszenierung des Films hat ihm Vergleiche mit Dreyer, Bergman und Bresson eingetragen. Zugleich erweist sich GLI ULTIMI auch als thematischer Vorläufer von Filmen wie DER HOLZSCHUHBAUM und PADRE PADRONE, die rund 15 Jahre später entstanden. Einen wichtigen Anteil an der Wirkung des Films hat Kameramann Armando Nannuzzi, dem sehr klare und schöne Aufnahmen der bäuerlichen Lebenswelt und der friaulischen Landschaft gelingen, ohne je in die Nähe von Postkartenklischees zu geraten. Später drehte Nannuzzi so unterschiedliche Filme wie Bernhard Wickis DER BESUCH (der alten Dame), GENOSSE DON CAMILLO, A. Pietrangelis ICH HABE SIE GUT GEKANNT, Viscontis LUDWIG, EIN KÄFIG VOLLER NARREN, FLUCHT NACH VARENNES und Stephen Kings MAXIMUM OVERDRIVE. David Maria Turoldo war ständig am Filmset und nahm aktiv an den Dreharbeiten teil. Die eigentliche Regie überließ er Pandolfi, aber sonst kümmerte er sich um alles. Man kann ihn ohne weiteres als Produzenten von GLI ULTIMI bezeichnen, auch wenn in den Credits kein Produzent genannt wird. Dagegen war Henry Lombroso, dem verschiedentlich diese Funktion zuerkannt wird, nur für den Verleih zuständig.

Abenteuer am Tagliamento
GLI ULTIMI war der erste Spielfilm, der in Friaul gedreht wurde, und Turoldo und die anderen Macher hofften auf entsprechende Resonanz, wurden aber enttäuscht. 1962 lief GLI ULTIMI in seiner ursprünglichen Länge von 96 Minuten bei den Filmfestspielen von Venedig, allerdings nicht im Wettbewerb, sondern in einer Nebenreihe in einem kleinen Saal, wo er wenig Aufmerksamkeit auf sich zog. Im Januar 1963 kam eine von Pandolfi um sieben Minuten gekürzte Fassung in die friaulischen Kinos, die Premiere war in Udine. Aber die von Turoldo und seinen Mitstreitern erhoffte Begeisterung blieb aus, und viele im Publikum und unter den Kritikern fühlten sich und ihre Region sogar als rückständig verunglimpft und protestierten dagegen. Außerhalb Friauls lief GLI ULTIMI in größeren Städten, aber nicht flächendeckend, ebenfalls mit sehr bescheidenem Erfolg. Unter den Wenigen, die uneingeschränkt positive Kritiken verfassten, waren Pasolini und der Schriftsteller Giuseppe Ungaretti. Die Sprache des Films ist übrigens - auf Turoldos ausdrücklichen Wunsch - allgemeinverständliches Italienisch, mit nur wenigen lokalen Ausdrücken wie dem Grußwort "mandi" aus dem Friaulischen (Furlan), das eine eigene Sprache darstellt. - Vito Pandolfi drehte 1965 PROVINCIA DI LATINA, eine Dokumentation in Spielfilmlänge, die die Entwicklung der Arbeitswelt einer bestimmten Region aus soziologischer Sicht beleuchtet, von der bäuerlichen Lebensweise über Handwerk und Industrie bis zur Arbeit in einem Kernkraftwerk. Im erwähnten Interview von 1966 sagte Pandolfi, dass er viel lieber Filme dreht, als Theater zu inszenieren, weil letzteres körperlich viel anstrengender ist und ihm an die Nerven und auf den Magen schlägt. Aber weitere Filme von ihm gibt es nicht. Die Leitung eines von ihm gegründeten Theaters in Rom und seine universitären Verpflichtungen ließen ihm wohl keine Zeit mehr dafür.


GLI ULTIMI erfüllte also alle Voraussetzungen, um komplett in der Versenkung zu verschwinden, doch dazu kam es nicht. Schon 1982, zum 20-jährigen Jubiläum, sendete die RAI vier kurze Gesprächsrunden mit Turoldo und je einem oder zwei Gästen, in denen an den Film erinnert wurde. Und friaulische Lokalpatrioten, Filmliebhaber und Filmhistoriker bemühten sich, diese Rarität zu erhalten und ihre Entstehungsgeschichte zu dokumentieren. Koordiniert wurden diese Anstrengungen in den letzten gut 20 Jahren von der Cineteca del Friuli in Gemona in Zusammenarbeit mit dem Centro Espressioni Cinematografice in Udine und weiteren Institutionen. 2002 wurde die Verleihfassung des Films in restaurierter Form wiederveröffentlicht und auch auf VHS herausgebracht. Diese Fassung von 2002 wurde gelegentlich auch im deutschsprachigen Raum gezeigt, so 2006 im Italienischen Kulturinstitut Köln und 2009 im Österreichischen Filmmuseum in Wien sowie im Verein Lichtspiel/Kinemathek Bern. 2012 schließlich, pünktlich zum 50-jährigen Jubiläum, wurden sowohl die Verleih- als auch die originale Venedig-Fassung mit allen Finessen digital restauriert präsentiert, und es erschien ein 2-DVD-Set, das beide Versionen des Films enthält, regionalcodefrei und mit englischen und spanischen Untertiteln. Damit war ein außerhalb seiner engeren Heimat weitgehend vergessenes Meisterwerk endgültig wiederauferstanden. Leider kam man bei der Cineteca nicht auf die Idee, auch das reichhaltige Bonusmaterial mit Untertiteln zu versehen, und die sicher sehr informativen Texte im 43-seitigen Booklet wurden auch nicht übersetzt. Obwohl diese Ausgabe also nur halbherzig für den internationalen Markt tauglich gemacht wurde, gewann sie beim diesjährigen Festival Cinema Ritrovato in Bologna den Preis für die beste DVD. - Für hilfreiche Informationen danke ich Luca Giuliani von der Cineteca del Friuli.

Samstag, 17. August 2013

UTU - Maori auf dem Kriegspfad

UTU
Neuseeland 1983
Regie: Geoff Murphy
Darsteller: Anzac Wallace (Te Wheke), Bruno Lawrence (Williamson), Kelly Johnson (Lt. Scott), Tim Elliott (Col. Elliot), Wi Kuki Kaa (Wiremu), Tania Bristowe (Kura), Merata Mita (Matu), Faenza Reuben (Henare), Martyn Sanderson (Vikar)


Neuseeland 1870: In der britischen Kolonie gibt es bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen den Kolonialtruppen und europäischen Siedlern (von den Maori Pakeha genannt) einerseits und den Maori andererseits. Aber nicht wenige Maori dienen auch als Soldaten und Scouts in der britischen Armee, darunter Te Wheke. Am Anfang wird ein Maori-Dorf ohne Anlass von einer Einheit der Armee überfallen und alle Einwohner - Alte, Frauen, Kinder - niedergemetzelt. Kurz darauf erscheint ein weiterer Trupp, der nichts davon weiß, und Te Wheke erkundet mit zwei anderen Soldaten die Lage. Entsetzt betrachtet er das Resultat des Gemetzels, dem auch sein Onkel zum Opfer gefallen ist, und er wechselt auf der Stelle die Fronten: Er erschießt den einen Soldaten und schickt den anderen mit einer Botschaft zum kommandierenden Colonel Elliot: Diese Rechnung wird bald beglichen werden. Mit einer Schar von Gleichgesinnten beginnt er nun einen Guerillakrieg gegen die Truppen und die Siedler. Nach außen hin dokumentiert er das dadurch, dass er sich eine traditionelle polynesische Tätowierung verpassen lässt, sozusagen als neue Uniform als Ersatz für die britische. Te Whekes erstes Opfer ist ein Vikar, und zwar mitten im Gottesdienst. Er predigt gerade über eine Stelle im Matthäus-Evangelium, vor einem Publikum aus Maori: "Denn wer zum Schwert greift, wird durch das Schwert umkommen!" Doch es handelt sich um keine pazifistische Botschaft, sondern um eine Polemik gegen die Aufständischen, die als Jünger des Teufels gebrandmarkt werden. Der Vikar kann die Predigt nicht vollenden: Te Wheke erscheint in der Kirche und enthauptet ihn mit einer Axt. Dann setzt er selbst die Predigt fort, als Plädoyer in eigener Sache.

Mr. und Mrs. Williamson
Ungefähr zur selben Zeit trifft der junge Lieutenant Scott bei der Truppe ein. Er bringt zwei nützliche Voraussetzungen mit: Im Gegensatz zum arroganten Engländer Col. Elliot ist er in Neuseeland geboren, und er konnte in Südafrika in den Kriegen zwischen Buren und Einheimischen erfolgreiche Guerilla-Taktiken studieren. Doch seine einheimische Geburt macht ihn zu "a colonial", wie ihn der versnobte Elliot mit deutlichem Naserümpfen wissen lässt, was ihm einen schweren Einstand verschafft. Nur widerwillig nimmt Elliot Scotts Vorschlag an, Te Wheke mit kleinen schnellen Einheiten zu bekämpfen, statt mit großem Aufgebot in geschlossener Formation, wie es das Regelbuch vorsieht. - Eines von Te Whekes nächsten Zielen ist die Farm von Jonathan Williamson und seiner Frau Emily, ein für damalige Verhältnisse luxuriöses Anwesen - es gibt im Haus sogar ein Klavier. Die meisten ihrer Nachbarn haben sich in den Schutz einer größeren Stadt oder Garnison geflüchtet, doch die Williamsons wollen ausharren, mit genug Vorräten und Munition und vernagelten Fenstern. Doch die Vorbereitungen waren nicht ausreichend, und Te Wheke und seine Leute dringen ins Haus ein und verwüsten es. Dabei stirbt Emily Williamson - zwar nicht durch Vorsatz, sondern weil sie von einer Brüstung im Obergeschoß zu Tode stürzt, aber das macht für ihren Mann keinen Unterschied. Williamson selbst wird angeschossen und für tot gehalten, aber er überlebt, und nun ist er es, der blutige Rache schwört. War er bisher schon ein vierschrötiger Typ, so wird er nun durch seine Rachebesessenheit zum halbverrückten Sonderling. Das macht ihn aber nicht weniger gefährlich, ganz im Gegenteil. Er spricht die Sprache der Maori, er kennt die Gegend fast ebenso gut wie sie, und er braucht auf nichts und niemand Rücksicht zu nehmen. Seine zweiläufige Schrotflinte rüstet er so um, dass er beide Läufe gleichzeitig laden und auch beide gleichzeitig abfeuern kann. Nach einiger Zeit reicht ihm das nicht mehr, und er montiert zwei solche Schießeisen nebeneinander, so dass er nun vier Läufe gleichzeitig laden und abfeuern kann. Der Rückstoß bläst ihn fast um, aber in einem Test zerlegt er damit eine Holzhütte in wenigen Sekunden zu Kleinholz.

Te Wheke vor und nach seinem Austritt aus der britischen Armee
Unterdessen hat Lt. Scott seine Operationen aufgenommen. In Streifzügen in die feuchten Bergwälder Neuseelands versucht er mit seiner kleinen Kavallerie-Einheit, Te Wheke zu stellen. Auf seine Spur setzt er sich mit Hilfe von Wiremu, einem Maori, der als Corporal in der Truppe dient, und den, wie man erst am Ende des Films erfährt, ein Geheimnis mit Te Wheke verbindet. In einer Kampfpause lernt Scott die junge Maori Kura kennen, und sie werden ein Liebespaar. Mit Wiremu als Scout kommt Scotts Einheit den Gegnern zwar immer wieder nahe, aber es kommt nur zu kleinen Scharmützeln ohne Entscheidung. Auch Williamson, der, wie er meint, die Maori riechen kann, taucht gelegentlich auf und greift ins Geschehen ein. Als aber für Scott schnelle Erfolge ausbleiben und er auch noch angeschossen wird, wird er von Col. Elliot zurückgepfiffen. Nun will der Colonel selbst in voller Truppenstärke ausrücken, um die Rebellen zur Strecke zu bringen. Als das Regiment in einer Siedlung auf freiem Feld Stellung bezieht, will Te Wheke den Colonel düpieren, indem er ihn hier angreift, wo es keiner erwartet. Dazu lässt er einen Teil seiner Männer als bewegliche Büsche getarnt vorrücken. Wer sich dadurch an "Macbeth" erinnert fühlt, liegt richtig - Te Wheke las daraus bei der Verwüstung von Williamsons Haus, offenbar genau an der richtigen Stelle. Später wird er aus dem Gedächtnis eine Zeile des Barden zitieren: "It is a tale told by an idiot, full of sound and fury, signifying nothing." Aber mit dem Überfall überhebt sich Te Wheke trotzdem - Williamson ist auch in der Siedlung, und durch seine Wachsamkeit wird der Plan vereitelt. Te Whekes Truppe wird stark dezimiert und muss fliehen. Er ist nun eindeutig in der Defensive und versucht, mit seinen Leuten, darunter etlichen Verwundeten, in ein schwer zugängliches Bergmassiv zu flüchten. Doch die Soldaten unter Wiremus Führung sind ihm dicht auf den Fersen, stellen ihn schließlich im dichten Bergwald und schießen seine Leute zusammen, wobei auch tragbare Mörser zum Einsatz kommen. Te Wheke wird gefangen genommen, und ein improvisiertes Kriegsgericht an Ort und Stelle unter Vorsitz von Lt. Scott verurteilt ihn zum Tod. Doch gleich mehrere der Anwesenden beanspruchen jetzt das Recht, aufgrund ihrer Rache das Urteil auszuführen und Te Wheke zu erschießen: Williamson, Kuras Tante Matu, und auch Scott selbst als kommandierender Offizier. Die Frage wird auf unerwartete Weise entschieden ...

Ein Vikar wird einen Kopf kürzer gemacht
Es ist nicht falsch oder despektierlich, wenn man UTU als Maori-Western bezeichnet, aber ganz bekommt man ihn damit nicht zu fassen. Viele Motive und Versatzstücke aus den Filmen über die Indianerkriege findet man hier wieder. Etwa den blasierten, aber wenig befähigten Colonel, der etwas an Colonel Thursday in FORT APACHE erinnert, und den von seiner Rache zerfressenen Williamson, der an Ethan Edwards aus THE SEARCHERS denken lässt. Und natürlich erinnert Te Wheke - mit seiner Tätowierung als "Kriegsbemalung" - an einen Indianerhäuptling, der erst durch schreiendes Unrecht auf den "Kriegspfad" gebracht wurde. Es gibt auch grandiose Landschaftsaufnahmen wie etwa bei Anthony Mann. Aber UTU ist deutlich komplexer als die meisten dieser Western. Weder die Weißen noch die Maori werden einseitig verteufelt oder glorifiziert, weder als Gruppe noch als Individuen. Am Ende haben fast alle Schuld auf sich geladen, und viele haben aus unterschiedlichen Gründen das Bedürfnis nach Rache, nach Utu. Dieses Maori-Wort bedeutet in erster Näherung "Rache", aber dahinter steht ein Konzept einer ausgeglichenen Bilanz (mehr darüber kann man z.B. hier lesen). Geoff Murphy sagte in einem Interview, das er seinem Bruder Roy Murphy gab: "UTU made extremely complex statements about the absurdity of trying to alter people's political and philosophical thinking by shooting bullets into their heads. At times that absurdity was expressed very coldly, like at the end, and at times it was expressed with pure absurdity so that the madman becomes devastating in the battlefield because that's the place of a madman." Nicht nur bei den Pakeha, sondern auch bei den Maori gibt es große individuelle Unterschiede in Ansichten und Begabung. So ist Te Wheke in der Lage, aus einem Drama von Shakespeare Nutzen für einen Angriff zu ziehen, und Wiremu spielt gut Schach, und er kann Französisch. Andere Maori wiederum können nicht lesen und wollen es auch nicht können, weil das nur Blendwerk der Weißen sei - was Wiremu mit Kopfschütteln zur Kenntnus nimmt.

Lieutenant Scott und Colonel Elliot
Die Charaktere und konkreten Ereignisse in UTU sind erfunden, aber frei nach damals tatsächlich stattgefundenen Kriegen und Massakern gestaltet. Vieles aus dieser wenig ruhmreichen kolonialen Vergangenheit, und auch aus dem nachkolonialen Neuseeland, war um 1980 noch nicht aufgearbeitet, und so kam es in den 80er Jahren zu manchen Spannungen zwischen Maori und weißen Neuseeländern. In dieser teilweise recht aufgeheizten Atmosphäre verstand Murphy seinen Film ausdrücklich dazu, auch dem Maori-Standpunkt Ausdruck zu verschaffen. Das war Neuland im neuseeländischen Film, denn zumindest in Filmen von weißen Regisseuren waren bis dahin für Maori nur stereotype Nebenrollen reserviert. Unterstützt wurde Murphy dabei von Neuseelands wichtigster Maori-Regisseurin Merata Mita, die bei UTU nicht nur die Rolle der Matu spielt, sondern auch Murphys Beraterin für Maori-Kultur sowie zuständig für das Casting war. Murphys Frau war Mita auch, aber ich weiß nicht, ob sie damals schon verheiratet waren. Ein Überraschungscoup und kleiner Geniestreich gelang Mita und Murphy bei der Besetzung von Te Wheke mit Anzac (oder kurz Zac) Wallace, der hier seine erste Rolle spielt. Er war in jungen Jahren auf die schiefe Bahn geraten, und erst, als er wegen bewaffneten Raubüberfalls im Gefängnis saß, begann er, sich Gedanken über eine andere Laufbahn zu machen. Er bildete sich fort, und nach seiner Entlassung wurde er Gewerkschaftsaktivist. Murphy sah ihn in einem Fernsehbericht, verpflichtete ihn, und Wallace entpuppte sich als Naturtalent, der Te Wheke mit enormer Intensität verkörpert. Auch Bruno Lawrence versieht seinen leicht durchgeknallten Williamson mit viel Intensität, aber auch mit grimmigem Humor. Lawrence, der auch ein guter Schlagzeuger war und die Musik professionell betrieb, war ein alter Freund von Murphy. Beide gehörten ab 1971 zur Mannschaft des Hippie-Musicals "Blerta", so etwas wie das neuseeländische "Hair" (der Name steht für Bruno Lawrence's Electric Revelation and Travelling Apparition). Lawrence spielte auch Hauptrollen in Murphys erstem großen Erfolg, dem schrägen Roadmovie GOODBYE PORK PIE, sowie im nächsten Film nach UTU, dem SciFi-Mystery-Thriller THE QUIET EARTH (in dem Anzac Wallace eine kleinere Rolle hat).

Kura und Wiremu
UTU wurde in Neuseeland ein enormer Publikumserfolg (auch beim speziellen Publikum der Maori), die einheimischen Kritiker mochten ihn dagegen nicht besonders. Anders im Ausland: UTU lief 1983 in Cannes, angeblich als erster neuseeländischer Film überhaupt, wenn auch außerhalb des Wettbewerbs. Und er lief 1984 erfolgreich in den USA. Hier hatte er nicht nur beim Publikum Erfolg (angestachelt durch eine aufwendige PR-Kampagne), sondern auch bei vielen Kritikern. Insbesondere Pauline Kael erging sich in ausführlichen Lobeshymnen. Dieser Erfolg (sowie der von THE QUIET EARTH) bedeutete für Murphy die Eintrittskarte nach Hollywood, wo ihm allerdings der ganz große Durchbruch versagt blieb. Öfters inszenierte er Sequels (YOUNG GUNS II, UNDER SIEGE 2 und FORTRESS 2), und gelegentlich war er auch Second Unit Director, wie bei DANTE'S PEAK (dessen Regisseur Roger Donaldson auch Neuseeländer ist) und bei DER HERR DER RINGE - und das ist ja auch nicht das Schlechteste. Daneben drehte er auch wieder eigene Filme in Neuseeland. Murphys Regieassistent bei UTU und THE QUIET EARTH war Lee Tamahori, der Sohn eines Maori und einer Britin. Nach seinem Durchbruch mit ONCE WERE WARRIORS (1994) zog es auch ihn nach Hollywood (MULHOLLAND FALLS, DIE ANOTHER DAY).

Williamson mit seinem monströsen Schießgerät
UTU liegt mittlerweile in drei verschiedenen Versionen vor. Die ursprüngliche neuseeländische Fassung von 1983 dauert zwei Stunden und erzählt die Geschichte chronologisch. Sie erschien vor gut zehn Jahren auf einer amerikanischen und einer australischen DVD (die vermutlich weitgehend identisch sind, weil bei beiden Kino Video im Spiel ist). Die Grundlage meiner Besprechung ist die australische DVD, die ein sehr matschiges Bild und keine Extras hat (was laut einschlägigen Berichten auch für die US-Ausgabe gilt). Beide Versionen sind out of print, aber von der austr. DVD könnte man bei dem einen oder anderen neuseeländischen Versender noch Restexemplare zu einem vernünftigen Preis bekommen. Ich würde aber erst mal abwarten (siehe unten). Als 1984 Don Blakeney, der Produzent von UTU, den Film auf dem US-Markt platzieren wollte, hatte er zunächst keinen Erfolg, aber man gab ihm zu verstehen, dass eine etwas andere Schnittfassung doch noch Chancen haben könnte, und Blakeney machte sich daran. Es war klar, dass das eine rein kommerziell begründete Entscheidung war. Blakeney, der Murphys Anliegen bezüglich der Darstellung der Maori teilte, war nicht sehr wohl dabei, und Murphy selbst war nicht gerade begeistert, gab aber seine Zustimmung, ohne sich selbst zu beteiligen. So kürzte Blakeney mit dem Cutter UTU um eine Viertelstunde, und er änderte die Schnittfolge. Die lineare zeitliche Struktur wurde aufgebrochen, indem kurze Ausschnitte aus dem Tribunal gegen Te Wheke vom Ende des Films herausgelöst und als Flashforward an verschiedenen Stellen weit früher in der Handlung eingefügt wurden. Blakeney hat seine Eindrücke von dieser Operation später so zusammengefasst: "We didn't even think of recutting it, but it kept coming up. It was not what Geoffrey wanted to hear, obviously, and it wasn't what I wanted to hear. As it happened, it took almost a year to do and terrific heartache and soul-searching. But with the reviews we've had and the general interest, the facts are, we did the right thing. There's no doubt now." Ich bin geneigt, ihm Recht zu geben. Nicht nur hatte diese Version, wie schon erwähnt, kommerziellen Erfolg in den USA und anderswo, sie war auch künstlerisch durchaus überzeugend. Ich sah diese Version vor langer Zeit im Fernsehen, und wenn mich die Erinnerung nicht trügt, dann wirkte UTU darin noch etwas komplexer (ohne irgendwie unverständlich zu sein) und zugleich noch etwas wuchtiger als die Fassung auf DVD. Auf jeden Fall hat mich diese Erstsichtung komplett vom Hocker gerissen, während viele Jahre später bei der DVD die Begeisterung immer noch groß, aber nicht ganz so durchschlagend war. Damit kein falscher Eindruck entsteht: UTU ist in jeder Version ein grandioser Film, der mich in seiner Wucht etwas an Sergio Leone erinnert.


Wie ich erst jetzt bei der Arbeit am Artikel erfahren habe, haben Murphy, sein damaliger Kameramann Graeme Cowley und sein Cutter Michael Horton seit drei Jahren an einer dritten Version gearbeitet. Auslöser war eine Ausstrahlung von UTU im neuseeländischen Maori-TV in miserabler Bildqualität, die Cowley in tiefe Betrübnis versetzte. So nahmen die drei mittlerweile älteren Herren das Originalnegativ (das bei Blakeneys Recut zerstückelt worden war) und weiteres Ausgangsmaterial, gingen in das mit allen technischen Errungenschaften ausgestattete Studio Park Road Post von Peter Jackson (mit dem Murphy ja bei HERR DER RINGE gearbeitet hatte) in Wellington und ließen das Negativ digital abtasten und mastern. Und zugleich wurde wieder neu geschnitten. Nach dem, was ich jetzt in kurzen Presseberichten gelesen habe, orientierte sich Murphy an seiner ursprünglichen chronologischen Fassung, aber um etwa zehn Minuten gekürzt, also nicht ganz so stark wie die internationale Verleihfassung. In der Originalfassung hatte Murphy einige versteckte Referenzen an die damals aktuelle politische Debatte um die Maori-Frage untergebracht (ich habe davon nichts bemerkt, aber dafür muss man sicher Neuseeländer sein). Diese Referenzen haben auch für ein heutiges neuseeländisches Publikum keine Bedeutung mehr, und Murphy hat sie entfernt. Außerdem ließ er einige seiner Meinung nach überflüssige kurze Schlenker der Handlung weg, um den Fluss etwas zu beschleunigen. Als Nebenprodukt dieser Arbeit wurde die Gründung einer New Zealand Film Foun­da­tion angeregt. Einen ausführlichen Bericht von Cowley kann man hier lesen. Die dreijährige Arbeit an dieser Fassung hat 250.000 neuseeländische Dollar gekostet, und sie hat sich offenbar gelohnt: UTU REDUX, wie die Fassung offiziell getauft wurde, hatte vor drei Wochen beim Wellington International Film Festival Premiere, und die neuseeländische Presse war sehr angetan. Die Straffung wurde gelobt (freilich ohne dass ich einen direkten Vergleich mit einer der beiden früheren Versionen gelesen hätte), und auf jeden Fall erstrahlt das Bild in bisher ungesehener Qualität. Tatsächlich sieht bereits ein Trailer auf YouTube wesentlich besser aus als meine DVD. Es würde mich wundern, wenn die Redux-Fassung nicht in absehbarer Zeit auf DVD und/oder Blu-ray erschiene (und hier würde sich Blu-ray sicher lohnen).

UPDATE: Inzwischen gibt es eine deutsche DVD von UTU, es handelt sich aber nicht um UTU REDUX! Bei der Veröffentlichung der DVD kam es zu gewissen Unregelmäßigkeiten.

Finale vor einem Kriegsgericht im Bergwald

Sonntag, 11. August 2013

Die große Rache eines kleinen Fußballers

COUP DE TÊTE (DAMIT IST DIE SACHE FÜR MICH ERLEDIGT)
Frankreich 1979
Regie: Jean-Jacques Annaud
Darsteller: Patrick Dewaere (François Perrin), Jean Bouise (le président Sivardière), Michel Aumont (Brochard), Paul Le Person (Lozerand), France Dougnac (Stéphanie), Maurice Barrier (le patron du „Pénalty), Patrick Floersheim (Berthier), Robert Dalban (Jeanjean), Hubert Deschamps (le directeur de prison), Dorothée Jemma (Marie), Gérard Hernandez (l‘inspecteur de police)




Jean-Jacques Annaud ist sicherlich einer der interessantesten und vor allen Dingen vielschichtigsten Regisseure, die Frankreich in den letzten Jahrzehnten hervorgebracht hat. Seit den 1990er Jahren dreht er mit gemischtem Publikums- und Kritiker-Erfolgen vor allen Dingen (überwiegend englisch-sprachige) Blockbuster-Koproduktionen. Den Grundstein für diese Karriere legte er 1986 mit DER NAME DER ROSE, einer Verfilmung eines als praktisch unverfilmbar geltenden Romans. Gezwungenermaßen bildgewaltig waren seine beiden anderen Filme aus den 1980er Jahren, da sie entweder keine klassischen Dialoge enthielten (LA GUERRE DU FEU, 1981) oder nur extrem wenige (L‘OURS, 1988). Annauds erster abendfüllender Spielfilm (er war vorher TV-Spot-Regisseur), LA VICTOIRE EN CHANTANT aus dem Jahr 1976, erhielt bei den 49. Academy Awards ein Jahr später den Oscar als bester fremdsprachiger Film – und zwar offiziell als Beitrag der Republik Côte d‘Ivoire! Die Kolonialismus- und Militarismus-kritische Satire war nämlich eine ivorisch-französisch-bundesdeutsch-schweizerische Koproduktion und wurde zu den Oscars als Film aus der Côte d‘Ivoire ins Rennen geschickt. Annaud drehte also seinen zweiten Film als Regisseur eines Oscar-prämierten ivorischen Films. In seinem Gesamtwerk dürfte COUP DE TÊTE als sein „normalster“ und sicherlich „französischster“ Film (was Story, Setting, Schauspieler und Drehteam betrifft) gelten – und vielleicht gerade deshalb als sein untypischster.

François Perrin ist Reserve-Stürmer in der Zweitliga-Fußballmannschaft des Provinzstädtchens Trincamp. Zweifelsohne ist er der beste Fußballer der Truppe, doch sein sozialer Status ist nicht besonders hoch. Als er bei einem Training aus Versehen Berthier, den Liebling des Club-Präsidenten Sivardière, verletzt, wird Perrin aus der Mannschaft gefeuert. Im „richtigen“ Leben ist Perrin Arbeiter in der größten lokalen Fabrik, die ebenfalls Sivardière gehört und wo Berthier Vorarbeiter ist: seine Entlassung aus dem Unternehmen kommt folgerichtig nur wenige Zeit später. In der Gosse gelandet würde der unglückliche Fußballer zwar am liebsten das miefige Provinz-Kaff Trincamp verlassen, aber er verdingt sich als Hilfsarbeiter in der Straßenreinigung, um weiterhin in der Nähe seiner Geliebten Marie zu sein – die allerdings schon verheiratet ist. Nach einer durchzechten Nacht will Perrin, nachdem er aus dem Café „Pénalty“ von der Berthier-treuen Fußballer- und Fantruppe rausgeschmissen worden ist, sich von Marie verabschieden. Einige Akrobatik-Einlagen und Fummeleien auf dem Malergerüst vor ihrem Fenster später muss Perrin wieder flüchten, für einige Meter gar mit herunter gelassenen Hosen.

Komplott bei Tee und Gebäck: Sivardière;
Brochard & Lozerand
In der selben Nacht wird eine junge Frau von einem Mann auf einer Landstraße angegriffen und fast vergewaltigt. Der Autohändler Brochard und der Möbelverkäufer Lozerand, beide feste Stützen von Präsident Sivardières eiserner Provinzkaff-Diktatur und des Fußball-Clubs, sind Augenzeugen dieses Angriffs. Wenig später wird Perrin am Bahnhof verhaftet und der versuchten Vergewaltigung angeklagt. Stéphanie, das Opfer, steht noch sichtlich unter Schock und ist sich bei der Täteridentifizierung unsicher, ob Perrin der Aggressor war. Doch ein übereifriger Inspektor, der Perrin sowieso verabscheut, nötigt sie zu einer Aussage. Perrin kommt ins Gefängnis.

Zurück bleiben der Präsident Sivardière, Brochard und Lozerand, die mit ihrem zynischen Komplott höchst zufrieden sind. Denn nicht Perrin hat auf der dunklen Landstraße die junge Frau zu vergewaltigen versucht, sondern der allseitige Liebling Berthier. Da Berthier und Perrin sich etwas ähnlich sind (lockige braune Haare mit Schnurrbart) war es ein leichtes, ersteren aus der Patsche zu helfen und letzteren einfach zum Sündenbock zu machen. Die drei Verschwörer sind sich einig: Perrin ist so oder so ein Schuft und wird von einem kleinen Gefängnisaufenthalt keinen Schaden nehmen, und wenn Berthier sich von dem Tritt in den Knie erholt hat, den ihm „diese Schlampe“ (O-Ton Brochard und Lozerand) verpasst hat, dann kann er auch wieder rasch spielen. Was ja schlussendlich das wichtigste ist: das Fußballspiel!

Monate später ist der Club Trincamp relativ weit in der Zweitliga-Meisterschaft gekommen. Das erfährt auch Perrin, der immer noch im Knast schmort. Auf der Fahrt zum nächsten Spiel jedoch passiert ein kleines Malheur in der Buskolonne aus Trincamp: Im Fanbus sprechen einige der Passagiere etwas zu stark dem Wein zu und die Übelkeit eines einzelnen Fans führt innerhalb weniger Sekunden zur Massenkarambolage der Trincamp-Fahrzeuge. Bilanz: ein Spieler ist verletzt, und die Mannschaft müsste mit zehn Leuten spielen. Nach langem Grübeln zwischen den Stadt- und Fußball-Notabeln bringt der alte Jeanjean (wahrscheinlich ein ehemaliger Trainer oder Spieler) die Idee ein, dass es ja durchaus einen guten Ersatzspieler gäbe...

Perrin und Stéphanie verstehen sich rasch.
Dank den engen Beziehungen Sivardières zu den relevanten Personen aus Rechtsprechung und Justizvollzug kommt Perrin so blitzschnell aus dem Gefängnis, wie er reingekommen ist: vorerst für lediglich einen Abend, nämlich um bei der Auswärtspartie zu spielen. Doch Perrin denkt nicht daran, für die Leute, die ihn eingebuchtet haben, in die Bresche zu springen und entflieht seinen Begleitern. Vielmehr erstattet er „seinem Vergewaltigungsopfer“ einen Besuch: er will Stéphanie aus Rache für ihre Identifizierung und für seine darauffolgende unrechtmäßige Haftstrafe "à posteriori" vergewaltigen. Vor Ort merkt Perrin sehr schnell, dass er zu einer solchen Tat unfähig ist. Wenig später kommen Stéphanie und er ins Gespräch. Sie versichert ihm, wie verschreckt sie an dem Abend gewesen sei und wie sie im Schockzustand zu einer Identifizierungs-Aussage quasi genötigt wurde. Sie trennen sich in Freundschaft, als Lozerand und Brochard den Fußballer mit Hilfe der Polizei abfangen, um ihn zum Spiel zu bringen.

Das Spiel zwischen Trincamp und der bekanntermaßen erheblich stärkeren Gegnermannschaft beginnt. Bis zur ersten Halbzeit kassiert Trincamp ein Tor. In der Spielerkabine treiben Sivardière und co. die Einsätze in die Höhe: Geld- und Materialprämien werden dem Spieler angeboten, der zumindest ein Ausgleichstor schießt. In der zweiten Halbzeit stellt sich die Trincamp-Mannschaft wie auch in der ersten etwas tollpatschig. Mehr aus Versehen denn aus Kalkül kommt es dazu, dass Perrin ein Tor „schießt“ (der Ball prallt an seinem Bein ab und landet glücklich im Tor der Gegner). Das Publikum feiert Perrin. Sogar Lozerand und Brochard fangen an, dem verfemten Außenseiter zuzujubeln. Dieser hat mittlerweile nicht nur seine Form, sondern auch sein Selbstbewusstsein wieder gefunden und schießt kurz vor Spielende ein zweites Tor. Das Unmögliche, oder zumindest Unerwartete, wird wahr: Trincamp siegt!

Der Plan, Perrin für ein Spiel aus dem Gefängnis rauszuholen und ihn danach wieder dorthin zurückzubringen, geht plötzlich nicht mehr ganz so glatt auf. Der wegen einer versuchten Vergewaltigung (freilich zu Unrecht) verurteilte Mann ist nämlich bei den Fan-Massen der Held des Tages. Hier beginnt die eigentliche Erzählung des Films: der Vorspann zeigte Perrins Siegesparade durch die Straßen von Trincamp, es folgte dann seine Erzählung, wie es zu diesem seiner Meinung nach völlig unwahrscheinlichen Vorgang gekommen ist. In dieser bequemen Position des Volkshelden holt unser gebeutelter Protagonist zu seiner großen Rache gegen seine früheren Peiniger aus...

Die Zusammenfassung des Inhalts mag etwas düster klingen: Vergewaltigung, Dysfunktionalität zivilgesellschaftlichen Lebens in der Provinz, massives Mobbing und fingierte juristische Verfolgungen unschuldiger Menschen sind schließlich per se keine sehr witzigen Themen. Doch COUP DE TÊTE ist in erster Linie eine Komödie, wofür nicht zuletzt der Name des Drehbuchautors und Dialogschreibers steht: Francis Veber. Dieser hat sich seit Beginn der 1970er Jahre als Verfasser von überaus witzigen und gewitzten Komödien einen Namen gemacht. Für und mit Georges Lautner, Yves Robert, Édouard Molinaro, Philippe de Broca, Pierre Granier-Deferre und Henri Verneuil hatte Veber bereits für zahlreiche Komödien, aber auch für einige wenige Krimis, zusammengearbeitet, bevor er COUP DE TÊTE verfasste.

Was mich bei der wiederholten Sichtung des Films nun besonders frappiert hat, ist die erstaunliche Ökonomie der Erzählung, der flotte Rhythmus des Films, sein narrative Dichte. In den knapp ersten 20 Minuten (bei ziemlich genau Minute 21 liegt Perrin auf seiner Gefängnispritsche) werden alle Parameter der Geschichte auf den ersten Blick etwas unscheinbar, aber mit großer Präzision eingeführt. Mittels Perrins Off-Kommentaren und einer relativ raschen Abfolge an kleinen episodischen Szenen wird der Zusammenbruch von Perrins Leben dargestellt. Auf teils sehr subtile Weise werden Informationen vermittelt (ein kurzer Kameraschwenk offenbart uns etwa, dass Berthier leitender Vorarbeiter ist, mit weißem Kittel und eigenem Arbeitstelefon). Die stickige Atmosphäre des Kleinstädtchens Trincamp wird uns deutlich gemacht, da nach jeder Station der Ausschluss Perrins erfolgt: vom Fußball-Feld, von der Fabrik, dann folgt der Verweis aus dem Café „Pénalty“, die Entlassung aus dem respektablen Leben in die Gosse (wenn er zusammen mit anderen Außenseitern, namentlich westafrikanischen Immigranten, die Straße fegt), und schließlich der Ausschluss aus Maries Leben, als deren Ehemann sie auf dem Malergerüst in flagranti ertappt. Diesen Sumpf aus Korruption, Klüngel, Klientelismus, Borniertheit, Rassismus und provinzieller Feindseligkeit, der ihm nur Hass und Verachtung entgegen bringt, will er schließlich freiwillig verlassen, aber ausgerechnet dann verhaftet ihn die Polizei. Auch der Rest des Films verknüpft fast untrennbar und oft gleichzeitig Humor-Pointen, das Vorantreiben der Erzählung und die Vertiefung der Atmosphäre.

Perrin posiert als Geheimagent – in einem
Kellner-Jackett; Perrin mit den anderen
sozialen Außenseitern Trincamps.
Die Komödie COUP DE TÊTE ist vor allem auch eine ätzende Satire: über Fußball-, Fan- und Star-Kultur, über politisch-wirtschaftliche Klüngeleien, über Klassenkonflikte, über zynische Menschenverachtung und Doppelmoral. In der kleinen Welt, in der der Film spielt, dreht sich alles um Fußball. Das lenkt auch gut von anderen Dingen ab, oder wie der Präsident Sivardière gerne sagt: „J‘entretient 11 imbéciles pour en calmer 800. [Ich unterhalte 11 Idioten, um 800 ruhig zu stellen.]“ Wenn ein Fußballspiel stattfindet, dann ist das öffentliche (und private) Leben lahm gelegt. Ein kleines Krankenhaus mutiert zu einer Fanmeile voller brüllender (und sich übergebender) Personen. Die Polizei hat zwar noch Bereitschaft, aber nur bei eingeschaltetem Radio (und nimmt Stéphanies Antrag auf Aussagenänderung nur sehr widerwillig entgegen). Die Suche nach einem Vergewaltiger ist in Trincamp ja schließlich angesichts dessen, dass ein Spiel gewonnen werden muss, gar nicht so wichtig. Demokratisch ist das Fußball-Spiel hier keineswegs: er spiegelt nur die Konflikte außerhalb (wobei es dieses „außerhalb“ zeitweilig nicht mehr gibt) wider: der Arbeiter Perrin ist auch und gerade auf dem Feld ebenso nur ein Underdog, wie im „richtigen“ Leben – zumindest, bis er ein Tor schießt. Zur Erinnerung: hätte er das nicht geschafft, wäre er am selben Abend wieder schnurstracks ins Gefängnis zurück gewandert. Die „vergessene“ Provinz als korruptes Mikrokosmos, in dem ein einzelner Mann gegen eine ganze Stadt Rache nehmen will – einige Themen und Charakterzüge von Annauds und Vebers COUP DE TÊTE lassen ihn wie ein lustigeres Pendant zu Henri Verneuils und Michel Audiards LE CORPS DE MON ENNEMI aussehen. Beide Filme würden jedenfalls ein hervorragendes thematisches Double-Feature ergeben.

„François Perrin“ ist übrigens eine „wiederkehrende“ Figur in vielen Filmen, für die Francis Veber das Drehbuch geschrieben hat. Zum ersten Mal spielte Pierre Richard einen „François Perrin“ in LE GRAND BLOND AVEC UNE CHAUSSURE NOIRE (1972, Regie: Yves Robert) und dessen Sequel von 1974. Zwei Jahre später spielte Richard erneut einen „François Perrin“ in Georges Lautners ON AURA TOUT VU sowie im von Veber selbst inszenierten LE JOUET. Patrick Dewaere übernahm quasi als „Nachfolger“ die Perrin-Figur in COUP DE TÊTE, bevor Jean-Pierre Marielle in CAUSE TOUJOURS... TU M‘INTÉRESSES! (Édouard Molinaro, 1979), Pierre Richard zum fünften Mal in LA CHÈVRE (Veber, 1981) und Patrick Bruel in LE JAGUAR (Veber, 1996) sie spielten. „François Perrin“ ist, wie sein sehr gewöhnlicher Name suggeriert, ein sehr durchschnittlicher „Ottonormal“-Franzose, der sich im allgemeinen durch scheue Freundlichkeit, Verbindlichkeit und Loyalität auszeichnet. Wie aus dem nichts wird er dann mit Schwierigkeiten, Unglücken und Abenteuern konfrontiert, denen er (zumindest anfänglich) meist sehr hilflos gegenübersteht. In den letzten beiden Perrin-Filmen wurde ihm ein Buddy namens Campana zur Seite gestellt, der ganz im Gegensatz zu Perrin eher Züge einer klassischen Heldenfigur trägt (und der von Gérard Depardieu in LA CHÈVRE und Jean Reno in LE JAGUAR gespielt wurde). Als Variation dieser Figur, dieses typischen Durchschnittsfranzosen „Perrin“, schuf Veber 1973 „François Pignon“, der ähnliche Züge hat und in sieben Filmen mit Vebers Beteiligung auftrat – zuerst von Jacques Brel dargestellt in Molinaros L‘EMMERDEUR, später abermals von Pierre Richard, dann von Jacques Villeret, Daniel Auteuil, Gad Elmaleh und Patrick Timsit.

Denkwürdiges Entlassungsgespräch
Die Perrin-Figur in COUP DE TÊTE weicht vielleicht am meisten durch seine Verwurzelung in der Arbeiterschaft von den vielen anderen Perrins (und Pignons) ab, die meist eher künstlerischen, freiberuflichen Tätigkeiten nachgehen oder Angestellte sind. Auch ist er von Anfang an ein äußerst resoluter Mensch, der die Stimme hebt und Taten, manchmal handgreiflich, sprechen lässt – nicht wunderlich, wenn er von einem Schauspieler dargestellt wird, der wesentlich außergewöhnlicher ist als etwa Pierre Richard. Denn mindestens genauso wie Annaud und Veber gehört COUP DE TÊTE Patrick Dewaere! Wenn es nach dem Produzenten der Gaumont, Alain Poiré, gegangen wäre, dann hätte nicht Dewaere, sondern Gérard Depardieu den Protagonisten gespielt. Dahinter standen freilich keine künstlerische, sondern produktionstechnische Überlegungen: Dewaere galt wegen seiner wiederkehrenden Drogensucht als schwierig und unberechenbar. Annaud, der Dewaere für weitaus fähiger hielt, eine vor allem auch melancholische Figur zwischendurch auch leise zu spielen, setzte sich mit seiner ersten Wahl trotzdem durch. Kaum auszudenken, wie COUP DE TÊTE ohne Dewaere ausgesehen hätte! Zu viel Ausdruck, zu wenig Ausdruck, zu theatralisch, zu naturalistisch, mit flüchtiger Verletztlichkeit und zorniger Gewalt: selten scheint Dewaere im richtigen Maß zu spielen, und wahrscheinlich genau deswegen scheint er stets perfekt und auf den Punkt eine solch gebrochene Figur wie Perrin zu spielen (oder vielleicht besser: zu leben?), eine Figur, die der Regisseur Annaud als „verstimmtes Klavier“ bezeichnet hat.

Patrick Dewaeres grandiose Präsenz soll nicht darüber hinweg täuschen, dass auch in den Nebenrollen eine erstklassige Riege von Darstellern glänzt. 1980 erhielt Jean Bouise für seine herrlich trockene Darstellung des Präsidenten Sivardière – die derbe Bemerkung Brochards „On ne marque pas avec ses pieds, on marque avec ses couilles!“ [Man schießt keine Tore mit seinen Füßen, sondern mit seinen Eiern] übersetzt Sivardière süffisant mit „On ne gagne pas avec sa téchnique, on gagne avec sa haine!“ [Man gewinnt nicht mit seiner Technik, sondern mit seinem Hass!] – den César des besten Nebendarstellers. Alle weiteren Schauspieler zu würdigen würde hier den Rahmen sprengen, es sei jedoch besonders Robert Dalban mit seiner rührenden Darstellung von Jeanjean erwähnt: dem wohl einzigen Menschen im Club-Umfeld, der Perrin nicht nur menschlich mag, sondern auch für einen erstklassigen Fußballer hält. Mit seinem fortgeschrittenen Alter ist er womöglich ein Relikt aus früheren (besseren und weniger korrupten) Zeiten, und hält wie einen Anker immer eine Dose Cachou in Griffweite.

Einer gesonderten Erwähnung bedarf sicherlich auch die immer wieder kehrende Titelmusik des Films, deren Ton sehr merkwürdig zwischen Fröhlichkeit und Melancholie schwankt, und deren Besonderheit darin besteht, gepfiffen zu sein. Der Chanson-Sänger Pierre Bachelet, der sie komponiert hat, hatte bereits für Annauds ersten Film LA VICTOIRE EN CHANTANT die Musik geschrieben, war aber vor allem durch seinen musikalischen Beitrag zu EMMANUELLE in der Filmwelt bekannt. Ursprünglich wollte er die Volkstümlichkeit der Melodie durch das Akkordeon ausdrücken, doch er war mit dem Resultat nicht zufrieden, und so kam es dazu, dass sie gepfiffen werden sollte. Der professionelle Pfeifer, der die Musik aufnehmen sollte, erschien jedoch dermaßen betrunken im Aufnahmestudio, dass er nach Hause geschickt wurde. Aus zeitlichen und budgetären Gründen verdonnerte Annaud an Ort und Stelle Bachelet dazu, selbst den Part zu übernehmen. Das Resultat lässt sich hören (hier in der Vorspann-Variante und hier in der Reggae-aufgepeppten Abspann-Variante).



Irgendein Mitarbeiter des Tobis-Filmverleihs in Deutschland dürfte ungefähr genauso betrunken gewesen sein, wie der eben erwähnte Pfeifer, als er COUP DE TÊTE für die deutsche Kinoauswertung „Damit ist die Sache für mich erledigt“ nannte. Unter diesem Titel jedenfalls ist der Film hierzulande auch auf DVD erschienen. Diese enthält offenbar den Film ungekürzt, im richtigen Bildseitenformat 1,66:1 und inklusive der Originalversion mit deutschen Untertiteln, und scheint ganz empfehlenswert zu sein. Die französische Doppel-DVD-Edition, auf die diese Besprechung basiert, ist nicht nur durch ihre zahlreichen Boni (unter anderem das Faksimile eines Briefes von Hauptdarsteller Dewaere an Regisseur Annaud), sondern auch durch ihre Machart (schmucker Pappschuber mit einem als Fußballtrikot Perrins gelayoutetem Inlay!) bedingungslos zu empfehlen – aber leider nur für die Zuschauer, die einem französischen Film ohne Untertitel mühelos folgen können.
Letzteren empfehle ich übrigens auch diese höchst interessante Besprechung, der ich für einige kleine Details in meiner Besprechung zum Dank verpflichtet bin.

Montag, 5. August 2013

Revolution, eine Hymne, Crowdfunding, und Goethe im Abgang

LA MARSEILLAISE
Frankreich 1938
Regie: Jean Renoir
Darsteller: Andrex (Honoré Arnaud), Edmond Ardisson (Bomier), Pierre Renoir (Ludwig XVI.), Lise Delamare (Marie-Antoinette), Louis Jouvet (Roederer), Aimé Clariond (de Saint-Laurent), Nadia Sibirskaïa (Louison), Jenny Hélia (Louise Vauclair), Édouard Delmont (Cabri), Paul Dullac (Javel), Julien Carette und Gaston Modot (zwei Freiwillige)

Der König erhält eine Nachricht, deren Tragweite er nicht begreift
Versailles, 14. Juli 1789: König Ludwig XVI. liegt von der Jagd ermattet im Bett, als man ihm die Nachricht vom Sturm auf die Bastille überbringt. "Eine Revolte?" fragt er erstaunt und nur mäßig interessiert. "Nein, eine Revolution", wird er belehrt.

Arnaud, Bomier und Cabri (v.l.n.r.) in den Bergen
Szenenwechsel: Juni 1790, in den Bergen im Hinterland von Marseille. In dieser Abgeschiedenheit verbergen sich zwei junge Anhänger der Revolution, der Zöllner Arnaud und der Maurer Bomier. Zu ihnen stößt der alte Bauer Roux, genannt "Cabri" (Zicklein), dem wegen Wilderei Jahre als Galeerensträfling drohen - er hat gerade mal eine Taube erlegt, die sein Feld plünderte, und wurde dabei erwischt, konnte aber fliehen. Für das einfache Volk hat sich seit dem Beginn der Revolution nicht viel verbessert - die faktische Macht liegt immer noch bei den Großgrundbesitzern und Aristokraten, und letztere üben die Gerichtsbarkeit aus. Zusammen räsonieren die drei Flüchtlinge darüber, was sich alles ändern müsste. Einige Zeit später gibt es Fortschritte: Von ihrem Bergsitz sehen sie Adelspaläste brennen, und Arnaud und Bomier beschließen, dass es an der Zeit ist, nach Marseille zurückzukehren.

Ardisson (links) und Javel vor der Eroberung des Forts
Marseille, Oktober 1790: Arnaud dient als Offizier und Bomier als Soldat in einer republikanisch gesinnten Einheit der Nationalgarde, zu der auch ihre Freunde Moissan, Ardisson und der etwas großtuerische Maler Javel gehören. In einem unblutigen Coup, bei dem ein riesiges Weinfass als trojanisches Pferd dient, erobern sie ein von royalistischen Truppen gehaltene Hafenfort, das auch als Gefängnis dient. Unter den 22 befreiten Gefangenen ist auch Cugulière, ein alter Freund von Bomier und Arnaud. Marquis de Saint-Laurent, der Kommandant der Festung, nimmt den Vorgang gefasst und mit tadellosen Umgangsformen, aber einem gewissen Unverständnis zur Kenntnis. Als ihm Arnaud in einer Unterredung die Bedeutung der Begriffe "Nation" und "Volk" nahebringen will, weiß de Saint-Laurent nicht viel damit anzufangen - für ihn zählt nur die Treue zum König. Später wird er ins Exil nach Deutschland abgeschoben.

Der Marquis de Saint-Laurent (links) und Arnaud
Koblenz, April 1792: Hier hat sich eine Kolonie aristokratischer Exilanten etabliert, darunter der Marquis de Saint-Laurent und seine Frau. Man unterhält sich über die baldige Beendigung der revolutionären Umtriebe durch die preußischen und österreichischen Truppen, die zur Wiederherstellung der alten Ordnung heranrücken - das wird nur ein Spaziergang, der in drei Wochen erledigt ist, glauben sie. Dann wendet man sich einem viel wichtigeren Thema zu, nämlich einer Schrittfolge der Gavotte, eines höfischen Tanzes, die man hier im Exil doch tatsächlich vergessen hat. Das hat gewiss etwas Lächerliches, aber Renoir präsentiert diese Adeligen nicht als Witzfiguren, sondern eher als tragische Gestalten, deren Denkmuster unrettbar in der Vergangenheit verhaftet sind. Nur de Saint-Laurent hebt sich etwas davon ab. Er teilt den naiven Optimismus seiner Kollegen nicht, und er ist durch Arnauds Ausführungen über Volk und Nation doch etwas ins Grübeln geraten, freilich ohne deshalb die Seiten zu wechseln. - Die Hoffnungen der Aristokraten scheinen nicht ganz unberechtigt zu sein: Zwei Freiwillige der Revolutionsarmee, die auf einem Feldposten bei Valenciennes ganz im Norden Frankreichs stationiert sind, sehen sich mit Flüchtlingen und Deserteuren konfrontiert und machen sich ihre Gedanken über die Ursachen der schlechten Lage, die sie in unzuverlässigen und mit dem Feind sympathisierenden Offizieren sehen.

Bürgerin Vauclair hält eine Rede
Ungefähr zur selben Zeit im Jakobinerclub von Marseille: Bürgerin Louise Vauclair, eine Fischhändlerin, hält eine flammende Ansprache über die schlechte Lage der Nation. Sie prangert die Nationalversammlung an, die von Großbürgern und liberalen Aristokraten dominiert wird, die nur auf ihre eigenen Pfründe achten, statt die Lage des Volkes zu verbessern. Und der König, der - jetzt im konstitutionellen Rahmen - nach wie vor über politische Macht verfügt, verhindert mit seinem regelmäßigen Veto ohnehin jede progressive Gesetzgebung, weshalb Louise ihn und die Königin als Monsieur und Madame Veto verhöhnt. Die Rede erhält begeisterte Zustimmung, und es wird die Aufstellung eines Freiwilligenbataillons von 500 Mann beschlossen, das nach Paris marschieren soll, um die Sache der Revolution voranzubringen, und sich erst dann den ausländischen Feinden entgegenzustellen. Arnaud, Bomier und die anderen Marseiller, die schon bei der Einnahme des Forts dabei waren, sind alle mit von der Partie. Bei der Einschreibung für das Bataillon singt jemand eine Hymne, die kürzlich in Strasbourg für die französische Rheinarmee geschrieben wurde. Bomier ist wenig begeistert: Das Lied werde in zwei Wochen wieder vergessen sein, meint er. Doch er täuscht sich: Beim Abmarsch des Bataillons, der zu einem großen Volksfest gerät, singt schon halb Marseille mit. Der Marsch nach Paris verläuft ohne Zwischenfälle, aber überall, wo man durchkommt, singt das Bataillon sein neues Lied, das so nach und nach von der Hymne der Rheinarmee zur Hymne der Marseiller und schließlich kurz La Marseillaise wird. In Paris, wo schon ähnliche Bataillone aus dem ganzen Land versammelt sind, werden die Marseiller begeistert empfangen. Bomier lernt die Pariserin Louison kennen und verliebt sich in sie.

Marsch nach Paris
Juli 1792: Jetzt, nach 80 Minuten, kehrt der Film zum ersten Mal seit dem Prolog an den Hof zurück, der sich nicht mehr in Versailles, sondern seit Herbst 1789 auf Druck der Revolutionäre in den Tuilerien in Paris befindet. Am 25. Juli hat der Herzog von Braunschweig, der Oberbefehlshaber der österreichischen und preußischen Koalitionstruppen, ein Ultimatum an die Pariser Bevölkerung unterzeichnet (der eigentliche Verfasser war ein französischer Adeliger aus der Koblenzer Kolonie), das die sofortige und bedingungslose Unterwerfung unter den König fordert, andernfalls wird die Eroberung und Verwüstung von Paris angedroht. Vorerst liegt nun aber eine Kopie dieses Manifests auf dem Tisch des Königs, der entscheiden soll, ob es tatsächlich veröffentlicht wird. Die Hardliner unter seinen Ministern und Beratern sind dafür, ebenso Marie-Antoinette, die es nicht erwarten kann, dass ihre österreichischen Verwandten und die preußischen Verbündeten sie wieder in ihren alten Stand einsetzen. Doch Ludwig XVI. zögert: der aggressive Ton des Dokuments ist ihm zuwider, und er fürchtet zu Recht, dass die Veröffentlichung seine eigene Popularität im Volk weiter untergraben würde. Doch er ist nur halb bei der Sache - nebenbei streitet er sich mit der Königin über die neumodische Erfindung des Zähneputzens mittels Zahnbürste und über die Treffsicherheit des österreichischen Kaisers bei der Jagd. Schließlich wickelt ihn Marie-Antoinette um den Finger, und das Manifest des Herzogs von Braunschweig wird an die Nationalversammlung weitergeleitet und am 1. August veröffentlicht.

Festlicher Empfang in Paris
Doch das erweist sich als schwerer Fehler. Statt wie erhofft die Bevölkerung einzuschüchtern, ruft das Ultimatum nur allgemeinen Zorn hervor. Vor allem die Sansculotten, die Pariser Arbeiter und Kleinbürger, radikalisieren und bewaffnen sich jetzt. Unter Umgehung der offiziellen Pariser Stadtregierung bilden die revolutionären Pariser Sektionen eine erste Kommune (commune insurrectionelle), die ein Gegenultimatum an die Nationalversammlung stellt: Absetzung des Königs bis zum 9. August. Bomier und seine Freundin Louison und die anderen Marseiller nutzen die freie Zeit bis zum Ablauf der Frist, um das Schattentheater von François Dominique Séraphin zu besuchen, das dieser seit 1770 zuerst in Versailles und dann in Paris führte - in gewissem Sinn das zeitgenössische Pendant zum Kino. Gegeben wird unter anderem ein kurzes aktuelles Stück: Le Pont Cassé (Die zerstörte Brücke). "Madame La France" als Personifizierung der französischen Nation steht auf einer Seite eines Grabens, der König auf der anderen Seite. Eine Brücke, die den Graben überspannte, ist zusammengestürzt. Der König will La France umarmen, aber er kann nicht hinüber. Als Grund für den Graben, der beide jetzt trennt, nennt sie das Manifest des Herzogs von Braunschweig. Madame geht von dannen, und der König fällt vor Schreck fast um.

Pariser Volk (vorne Nadia Sibirskaïa und Sévérine Lerczinska)
Das Ultimatum der Revolutionäre verstreicht, und so kommt es am 10. August 1792 zum Sturm auf die Tuilerien, und die Marseiller Einheit ist an vorderster Front dabei. Das Schloss wird von der Leibgarde des Königs, die aus Schweizern besteht, sowie Einheiten der Nationalgarde mit zweifelhafter Loyalität verteidigt. Ludwig XVI. und sein Gefolge sind vor dem Kampf guter Dinge, aber als bei der Parade im Hof ein Teil der Truppen Vive la Nation statt Vive le Roi ruft, ist der König für einen Moment fassungslos. Kurz danach erscheint Pierre Louis Roederer, der procureur général syndic des Pariser Départments, also ein hoher Beamter der Stadtregierung, der zwischen dem König, der Nationalversammlung und den radikalen Revolutionären laviert. Angesichts der gewaltigen zahlenmäßigen Übermacht der Revolutionäre rät er dem König dringend, sich in den Schutz der Nationalversammlung zu begeben und mit seiner Familie unverzüglich von den Tuilerien in das nahegelegene Parlamentsgebäude überzusiedeln, und Ludwig XVI. stimmt resigniert zu. Beim kurzen Fußmarsch auf einer Allee spielt der siebenjährige Dauphin mit Laub, und der König merkt an, dass die Blätter dieses Jahr früh gefallen sind - ein Menetekel angesichts der bald fallenden Köpfe. Und dann beginnen die Kämpfe. Arnaud kann die Nationalgardisten unter den Verteidigern überreden, die Seiten zu wechseln, aber die Schweizergarde bleibt standhaft und eröffnet das Feuer. Anfangs gehen die Royalisten in die Offensive, aber in wilden Scharmützeln in den Straßen und Gassen von Paris werden sie niedergerungen, in den Palast zurückgedrängt und vollständig besiegt. Die Überlebenden werden reihenweise füsiliert. Aber auch einer der Marseiller, denen wir von Anfang an gefolgt sind, muss an diesem Tag sein Leben lassen. Um das Gemetzel an den Verlierern etwas einzuschränken, interveniert Roederer und opfert das Königspaar: Er erklärt im Namen der Nationalversammlung die vorläufige Absetzung und Anklage des Königs, die dann bekanntlich im Januar 1793 zur Enthauptung führte.

Marie-Antoinette
Aber der Film endet schon am 20. September 1792: Das Marseiller Bataillon rückt bei Valmy als Teil der Revolutionsarmee gegen das preußische Kontingent der Koalitionsarmee vor. Hier kommt es zu einem mehr oder weniger unentschieden verlaufenden Artillerieduell, an dessen Ende sich die Preußen zurückziehen. Renoir erspart sich neuerliches Schlachtengetümmel und lässt den Film schon vor dem eigentlichen Schlachtfeld enden. - Am preußischen Feldzug nahm auf Wunsch des Herzogs von Weimar auch Johann Wolfgang von Goethe als Beobachter teil. Nach der "Kanonade von Valmy" will er folgendes zu preußischen Offizieren gesagt haben: "Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen." Das steht so allerdings nur in einem Text, den Goethe 1822, also 30 Jahre nach dem Ereignis, veröffentlichte, und die Echtheit des Ausspruchs wird denn auch von der Forschung bestritten. Aber Renoir, ein Freund und Kenner deutscher Hochkultur, nutzte das Zitat (unter Weglassung des zweiten Halbsatzes) für ein optimistisches und patriotisches Schlusswort, indem er nach dem FIN noch einen Lauftext einblendet:
Bei Valmy widerstanden die Franzosen allen Attacken der berühmten preußischen Infanterie. Der große deutsche Dichter Goethe war Zeuge ihres Sieges. Sein Kommentar wird den Schlusspunkt dieser Geschichte bilden.

"Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus."

Der König erörtert das Manifest des Herzogs von Braunschweig - und ist not amused
LA MARSEILLAISE ist laut seinem Untertitel eine "Chronik gewisser Ereignisse, die zum Sturz der Monarchie beitrugen". Das ursprüngliche Konzept des mit 135 Minuten nicht gerade kurzen Films war noch weit ambitionierter: Wie sich anhand der ersten beiden Drehbuchfassungen herausfinden ließ, sollte es ein mehrstündiges Epos werden, gespickt mit Stars wie Jean Gabin, Maurice Chevalier und Erich von Stroheim. Louis Jouvet sollte eigentlich Robespierre spielen. Der Film sollte den Zeitraum von 1787 bis Valmy abdecken, und der episodische Charakter von LA MARSEILLAISE war darin schon angelegt, aber mit viel mehr Episoden, die nach Renoirs Vorstellung an Wochenschauberichte erinnern sollten. Aber auch im tatsächlich gedrehten Film erkannte mancher Kritiker (darunter Truffaut) eine Ähnlichkeit zu Wochenschauen. Der zweite Drehbuchentwurf stammt von Ende Juni 1937, doch dann wurde innerhalb kürzester Frist alles über den Haufen geworfen: Bei den Dreharbeiten im Sommer und Herbst 1937 blieb von der ursprünglich vorgesehenen Handlung so gut wie nichts übrig. Insbesondere wurden die Vordenker der Revolution wie Robespierre, Danton und Marat komplett aus der Handlung entfernt. Neben zu vermutenden finanziellen Gründen lag das auch daran, dass nicht die "Stars" der Revolution, sondern das Volk selbst der Held des Films werden sollte. Weil aber eine abstrakte Größe wie das Volk für das Filmpublikum schlecht zur Identifikation taugt, übernahmen die fiktiven Charaktere aus Marseille (und hier der volkstümliche Bomier mehr als der eher intellektuelle Arnaud) die Rolle der Identifikationsfiguren.

Schattentheater
Renoir lässt an seiner Sympathie für die Revolutionäre nie Zweifel aufkommen, aber er lässt auch der Gegenseite Gerechtigkeit angedeihen. Das Königspaar und die Aristokraten werden weder dämonisiert noch lächerlich gemacht, sondern, wie schon angedeutet, als Gefangene ihrer Denkstrukturen gezeichnet, die subjektiv aufrichtig und ehrenhaft handeln. Einzige negative Ausnahme ist der Adelige, der Cabri anfangs auf die Galeeren schicken will, aber auch der glaubt, damit die göttlich gegebene Ordnung zu verteidigen. Renoir hat dieses Konzept im August 1937 so umrissen: "Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, ich sei unparteiisch im Kampf dieser widerstreitenden Ideen. Ich drehe LA MARSEILLAISE mit einer sehr festen Überzeugung: ich möchte einen parteiischen, aber zugleich aufrichtigen Film machen." Diese Herangehensweise kulminiert in der Figur des Königs. Im Gegensatz zu vielen anderen Filmen (etwa dem nur einige Monate später gedrehten MARIE ANTOINETTE von W.S. van Dyke) ist Ludwig XVI. hier kein Blutsauger, auch kein Hampelmann oder eitler Geck, sondern ein sehr menschlicher, im Grunde gutmütiger und sympathischer König, dem allerdings jegliches Gespür für die Ursachen der Revolution und für die politischen Notwendigkeiten abgeht, der deshalb von den Ereignissen überrollt und zu einer tragischen Figur wird. Der Film stützt sich dabei auf die überragende Schauspielkunst von Pierre Renoir, der den König mit Leben und subtilen Nuancen erfüllt. Nach LA NUIT DU CARREFOUR, wo er Kommissar Maigret spielt, und nach seinem Charles Bovary in MADAME BOVARY hat Pierre Renoir hier seine dritte und letzte größere Rolle in einem Film seines jüngeren Bruders. Neben ihm glänzt auch Louis Jouvet in seinem kurzen, aber prägnanten Auftritt als Roederer, und auch alle anderen Rollen sind vorzüglich besetzt. Beim Casting achtete Renoir auf authentische Sprache: Für die Aristokraten mit ihrer kultivierten Ausdrucksweise verwendete er vorwiegend ausgebildete Theaterschauspieler, darunter einige von der Comédie-Française, für das Pariser Volk dagegen volkstümlichere Darsteller, und für die Marseiller solche aus Südfrankreich (von denen einige schon in TONI mitgespielt hatten).

Bomier und Louison
Sehr ungewöhnlich war die Finanzierung des Films: Sie beruhte teilweise auf dem, was heute Crowdfunding heißt. Diese Vorgehensweise war ausdrücklich politisch, nicht wirtschaftlich motiviert: "Denn dieser Film soll nicht der Film eines Mannes oder einer Produktionsfirma sein, es soll der Film der Arbeiterklasse sein", schrieb Renoir damals in einem Artikel. Renoir sympathisierte immer noch mit den Zielen der Volksfrontregierung, die nach wie vor im Amt war, auch wenn der Glanz und Elan der ersten Monate gewichen war. Interessenten konnten "Anteilscheine" zum Preis von 2 Francs erwerben, die dann später zum kostenlosen Besuch des Films berechtigten. In der kommunistischen Parteizeitung L'Humanité und in weiteren linken Zeitungen und Zeitschriften wurde das Konzept seit März 1937 vorgestellt, der eigentliche Startschuss erfolgte dann Ende Juli. Die kommunistische Gewerkschaft CGT leistete beim Verkauf der Anteilscheine organisatorische Hilfe und stellte auch Techniker und Arbeiter für die Dreharbeiten. Die Aktion erregte soviel Aufmerksamkeit, dass im Juli auch eine Zeitschrift in London unter dem Titel "Citizens of Paris Make a Film" darüber berichtete. Doch letztlich kam durch Subskription doch nicht genug Geld zusammen, um den gegenüber dem ursprünglichen Konzept zwar zusammengestutzten, aber immer noch sehr aufwendigen Film zu finanzieren, so dass schließlich auch auf konventionellere Geldquellen zurückgegriffen werden musste.

Deep focus: Im Hof der Tuilerien inspiziert der König die Garde
Das aufgeheizte politische Klima jener Jahre schlug sich nicht nur in der Entstehung, sondern auch in der Rezeption des Film nieder. Weder beim Publikum noch bei den Kritikern war LA MARSEILLAISE ein großer Erfolg, und bei letzteren vorwiegend aus politischen Gründen. Zwar gab es auch sehr positive Rezensionen, etwa von Louis Aragon, der eine ausführliche Lobeshymne verfasste, aber auch wüste Verrisse, vor allem aus dem rechten Lager. LA MARSEILLAISE war ein Plädoyer für die Einigung des französischen Volkes unter progressivem Vorzeichen, und zwar im Angesicht eines äußeren Feindes, der von der anderen Seite des Rheins kam. Das passte perfekt zur Situation von 1938. Spätestens seit im März 1936 die Wehrmacht ins seit dem Versailler Vertrag entmilitarisierte Rheinland einrückte, bedrohte Hitler unmittelbar die französische Flanke, und LA MARSEILLAISE konnte somit als ein Aufruf zur Wachsamkeit und Entschlossenheit verstanden werden. Solche Interpretationen mussten nicht erst von außen an den Film herangetragen werden, sie waren auch in Renoirs Sinn. Im Vorwort zur ersten Drehbuchfassung vom März 1937 heißt es: "[Der Schluss des Films] symbolisiert den Sieg der Volkstruppen über jene Kräfte, die wir heute faschistisch nennen." Aber politische Kontroversen über LA MARSEILLAISE waren nicht auf die 30er Jahre beschränkt. Der Schluss mit Valmy bot Renoir nicht nur die Möglichkeit, den Film mit Goethe enden zu lassen, er enthob ihn auch der Notwendigket, sich mit dem Terror der Massenhinrichtungen auseinanderzusetzen, die erst Monate später begannen. Doch gerade das wurde ihm von einigen späteren Kritikern vorgeworfen. 1962 widmete die Zeitschrift Premier Plan drei Ausgaben Renoir und ging darin kritisch mit ihm und mit LA MARSEILLAISE um, auch als Reaktion darauf, dass er inzwischen von den Cahiers du cinéma zum heiligen Übervater des französischen Films ernannt worden war. Und 1989, zum 200. Jahrestag des Beginns der Revolution, gab es abermals politisch motivierte Debatten um LA MARSEILLAISE. Bei all den politischen Auseinandersetzungen kam die Würdigung der filmischen Qualitäten des Werks lange zu kurz, und zwar sehr zu Unrecht. Renoir zelebriert einmal mehr seine üblichen Stilmittel wie lange flüssige Kamerafahrten und ausgiebigen Einsatz von deep focus (oft durch Fenster, Türen oder Torbögen hindurch) mit gewohnter Souveränität. Vor allem aber ist LA MARSEILLAISE über seine ganze Länge hinweg ein äußerst unterhaltsamer und schon allein deshalb sehr sehenswerter Film. 1967 wurde der nur in beschädigten oder gekürzten Kopien erhaltene Film restauriert und wieder in die französischen Kinos gebracht, zwar wiederum nur mit mäßigem Erfolg beim Publikum, aber mit einer sachlicheren Aufnahme bei den Kritikern. Cahiers du cinéma und das heftig damit konkurrierende Blatt Positif befassten sich Ende 1967 bzw. Anfang 1968 ausführlich damit.

Roederer
Einen nennenswerten Beitrag zu LA MARSEILLAISE leistete das Ehepaar Carl Koch und Lotte Reiniger, die durch Reinigers Scherenschnittfilme wie DIE ABENTEUER DES PRINZEN ACHMED (an denen auch Koch großen Anteil hatte) in die Filmgeschichte eingegangen sind. Als 1926 DIE ABENTEUER DES PRINZEN ACHMED auch in Paris erfolgreich lief, gab es dort einen Presseempfang für Reiniger und Koch. Renoir und seine erste Frau Catherine Hessling, damals auch seine regelmäßige Hauptdarstellerin, waren auch da, und die vier schlossen sofort Freundschaft und arbeiteten dann gelegentlich zusammen, so 1929 in Berlin bei DIE JAGD NACH DEM GLÜCK, den Reiniger, Koch und Rochus Gliese gemeinsam inszenierten, und in dem Hessling und Renoir Hauptrollen spielten. Der Linksintellektuelle Koch und Reiniger (beide waren auch eng mit Brecht befreundet) übersiedelten 1935 nach London, wo Reiniger fortan ihre Filme herstellte, aber Koch verbrachte 1937-39 überwiegend in Paris, um für Renoir zu arbeiten, und zwar als technischer Berater und Mitautor der Drehbücher von LA GRANDE ILLUSION, LA MARSEILLAISE und LA RÈGLE DU JEU. Bei LA GRANDE ILLUSION war Koch auch Renoirs Deutschland-Experte, und die sehr schwierige Kommunikation mit Erich von Stroheim delegierte Renoir auch teilweise an Koch (jeder der drei hatte damals mindestens eine Nervenkrise). 1939 begann Renoir in Italien mit der Arbeit an LA TOSCA, Koch und Visconti waren Regieassistenten. Aber Anfang 1940 gab Renoir den Film auf, um in die USA zu emigrieren, und Koch übernahm die Regie. - Lotte Reiniger arbeitete nicht so oft mit Renoir zusammen, aber für LA MARSEILLAISE drehte sie in ihrer Scherenschnitttechnik die Schattentheater-Sequenz bei Séraphin, wofür sie im November 1937 von London nach Paris kam. Das gewählte Stück, Le Pont Cassé, wurde keineswegs für den Film geschrieben, sondern war ganz im Gegenteil ein Klassiker, der zur Revolutionszeit oft gespielt wurde, nicht nur bei Séraphin, sondern auch in anderen Schattentheatern. Reiniger schrieb in einem Text, der 1981, dem Jahr ihres Todes, veröffentlicht wurde: "Séraphins bekanntestes Stück war Le Pont Cassé, das nach ihm von vielen Schattentheatern nachgespielt wurde. Ich kann mich an kein gelehrtes Buch übers Schattenspiel erinnern, in dem nicht die abgebrochene Brücke als ehrenwerter Ahnherr europäischen Schattenspiels erwähnt würde."

10. August 1792: Kampf in den Straßen von Paris
LA MARSEILLAISE ist in den USA in einer Renoir-Box mit drei DVDs erschienen, die noch vier weitere Spielfilme sowie zwei Kurzfilme enthält. In England gibt es LA MARSEILLAISE auf einer Einzel-DVD, in Frankreich auf mindestens zwei verschiedenen DVDs.