Samstag, 1. Januar 2011

Ein unterschätzter Regisseur oder "He didn't know a sh-t about construction"?

Midnight - Enthüllung um Mitternacht
(Midnight, USA 1939)

Regie: Mitchell Leisen
Darsteller: Claudette Colbert, Don Ameche, John Barrymore, Francis Lederer, Mary Astor, Hedda Hopper u.a.

1939 gilt als das “Goldene Jahr” der amerikanischen Filmindustrie, das Jahr, in dem die Traumfabrik am Vorabend einer durch den  Zweiten Weltkrieg verursachten Zeitenwende in verschiedenen Genres  Höchstleistungen hervorbrachte, von denen wir noch heute sprechen und die in ihrer Art nie wieder auch nur annähernd überboten wurden. Darf man es deshalb einem Film als Schande anrechnen, weil er - obwohl damals finanziell erfolgreich - zwischen “Gone With the Wind”, “Wuthering Heights”, “Destry Rides Again”, “Ninotchka”, “The Wizard of Oz”, “Stagecoach” und anderen Meisterwerken etwas unterging, mittlerweile sogar weitgehend in Vergessenheit geraten ist? Dies insbesondere, wenn er in jedem anderen Jahr als glanzvoller Höhepunkt der Screwball-Comedy gefeiert worden wäre?

Letzteres behaupten zumindest Fans von “Midnight”, dessen Regisseur Mitchell Leisen in diesem Zusammenhang auch als der am meisten unterschätzte Regisseur seiner Zeit bezeichnet wird. - Billy Wilder, der zusammen mit Charles Bracket das Drehbuch zum Film geschrieben hatte, sah die Sache allerdings ein wenig anders: Er war überzeugt, eine perfekte Vorlage geliefert zu haben, die Leisen, der offenbar einer schön arrangierten Vase mit weissen Lilien grössere Aufmerksamkeit schenkte als dem Dialog, regelrecht zerstörte. Mitchell Leisen, der Aesthet, der, den Launen seiner Hauptdarstellerinnen gehorchend, ganze Seiten aus einem Script herauszureissen pflegte, blieb für ihn denn auch zeit seines Lebens nichts anderes als “a window dresser”. Ähnlich äusserte sich Steven Bach, ein intimer Kenner der Filmwelt: “Leisen ... could always make a picture look better than it was, but never play better, for he had no sense of material.” Ein hartes Urteil, das da über einen Mann gefällt wurde, der seine Karriere als Dekorateur und Kostümdesigner unter dem Despoten Cecil B. DeMille begonnen hatte und Mitte der 30er Jahre langsam zum gefragten Frauenregisseur (ein Etikett, das er mit anderen schwulen* Regisseuren wie George Cukor und Vincent Sherman teilte) aufstieg, Filme wie “Frenchman’s Creek” (1944) oder “To Each His Own” (1946) drehte - und vielleicht berechtigterweise nur als Mann der alten Schule, der seinen Schauspielerinnen jeden Wunsch von den Augen ablas, sie aber nicht zu führen verstand, in Erinnerung bleibt.


“Midnight”, der ursprüngliche Titel lautete - die Essenz von “Screwball” betonend - “Careless Rapture”, erzählt tatsächlich eine Geschichte, von der man annehmen darf, sie sei in den Händen von Wilder und Bracket gut aufgehoben gewesen: Eve Peabody, ein abgebranntes amerikanisches Showgirl, landet mitten in einer regnerischen Nacht mit dem Zug aus Monte Carlo in Paris, wo sie eine “Karriere” beginnen, sprich: einen reichen Mann finden will. Der freundliche Taxifahrer Tibor Czerny erklärt sich bereit, das Mädchen, das nichts ausser seinem Abendkleid bei sich hat, von einem Nachtclub zum anderen zu fahren, um ihm ein Vorsingen zu ermöglichen. Als er ihr sogar anbietet, sie bei sich übernachten zu lassen, ergreift die nach mehr dürstende Eve die Flucht und landet mithilfe  eines Pfandscheins in einer Veranstaltung der gehobenen Gesellschaft, wo sie sich als Baronin Czerny ausgibt. Der exzentrische Millionär Flammarion entdeckt rasch, dass sie eine Hochstaplerin ist, bringt sie jedoch im Ritz unter und bietet ihr eine beachtliche Belohnung, wenn es ihr gelingt, seiner Frau den Liebhaber, einen  stadtbekannten Playboy, auszuspannen. Eve lässt sich auf den Deal ein, und das Cinderella-Abenteuer, auf das der endgültige Titel anspielt (“Don’t forget, every Cinderella has her midnight.”), nimmt seinen Lauf. - Als die Millionärsgattin Helene bemerkt, dass ihr Liebhaber tatsächlich der angeblichen Baronin verfällt, überkommt sie die Eifersucht und es gelingt ihr beinahe, Eve als Betrügerin zu entlarven. Doch dann erscheint Eves Gatte, Baron Czerni, unter der Tür. Es handelt sich natürlich um den Taxifahrer, der sich in das undankbare Wesen verliebt und sie zusammen mit seinen Freunden unaufhörlich gesucht hat...

Die Produktion war von Anfang an vom Pech verfolgt (ich übernehme die folgenden Informationen von Wikipedia und anderen Seiten, die sich mit dem Film beschäftigen): Ursprünglich sollte “Midnight” als Vehikel für Marlene Dietrich dienen, als Regisseur war Fritz Lang vorgesehen, für die männliche Hauptrolle Ray Milland. Später kam Barbara Stanwyck ins Gespräch; sie musste aber wegen anderer Verpflichtungen absagen. - Als nach schier endlosem Hin und Her Mitchell Leisen, der sich mit “Easy Living” (1937) als Komödien-Regisseur empfohlen hatte, verpflichtet wurde, sah er sich mit einem regelrechten Problemhaufen konfrontiert: Ein als Taxifahrer Czerny erstaunlich blass agierender Don Ameche stand nur gelegentlich zur Verfügung, weil er neben “Midnight” noch “The Story of Alexander Graham Bell” drehen musste; Mary Astor, die die Helene spielte, war unübersehbar schwanger, was man auf alle möglichen Arten verbergen musste (sie trägt stets weite Kleider und versteckt den Unterleib hinter Requisiten; dies ändert freilich nichts daran, dass sie eher schwanger als eifersüchtig oder gewohnt “bitchy” wirkt); und letztlich hatte das Alkoholproblem des berühmten “Saufkopps” John Barrymore mittlerweile dazu geführt, dass er seinen Text als Georges Flammarion nicht mehr beherrschte und so genannte Cue Cards benötigte. Francis Lederer, einst eine nicht unbedeutende Hoffnung des deutschen Stummfilms, wiederum erweckt den Eindruck, er sei nur  als dümmlich vor sich hingrinsender Schönling (ein Vorgänger von Louis Jourdan), nicht als sich glaubhaft verliebender Playboy zu gebrauchen gewesen. - Mit Claudette Colbert, der Neurotikerin, die nur ihre linke Gesichtshälfte in Profilaufnahmen zeigen wollte, soll Leisen hingegen vorzüglich ausgekommen sein: Manche behaupten, er habe ihr zu einer der besten Leistungen in ihrer Karriere verholfen; meines Erachtens gab er ihren eigenartigen Wünschen so sehr nach, dass der Zuschauer gelegentlich den Eindruck erhält, er bekomme über weite Strecken vor allem eine Wange in Grossaufnahme zu sehen - und dem schrecklichen Akzent nach zu schliessen handle es sich um die Wange einer Kuh aus einem  billigen Western. Welch ein Abfall nach “It Happened One Night” (1934) oder “Bluebeard’s Eighth Wife” (1938)!

Was aber macht Leisen aus der reizvollen Geschichte? -  Nach einem charmanten Anfang im nächtlichen Paris hangelt sich “Midnight” von einem seltenen Höhepunkt zum nächsten. Wirkliche Lacher verdanken wir Tratschtante und Teilzeit-Schauspielerin Hedda Hopper, die als unterbrochene Gastgeberin des Galaabends, in den sich Eve einschleicht, mehrmals das vom Pianisten erwartete elfte Prelude von Chopin ankündigt, bis dieser - völlig in Rage geraten - ein “It is the twelth, and it is an etude!” brüllt. Ein weiterer kleiner Glanzpunkt: Tibor versammelt sich mit sämtlichen Taxis seiner Freunde vor dem Ritz, und als man dort die Adresse von Eve nicht preisgeben will, beginnen diese gnadenlos zu hupen. - Vor allem aber reisst noch immer der grosse John Barrymore einen seiner letzten Filme an sich: Schon die Blicke, mit denen er jede Bewegung einer sich verunsichert gebenden Eve kommentiert, zeugen von dem Witz, der "Midnight" zustünde, sein hinterhältig-freundliches Auftreten in jeder Szene ist ein Genuss - und zum wahrhaften Brüller wird sein “Fake”-Telefonanruf, der ihm Gelegenheit bietet, sowohl die angebliche Mutter von Baron Czerny als auch dessen an Masern erkranktes Töchterchen zu mimen. --- Dies sind sie, die wenigen Szenen, die eine Sichtung überhaupt lohnen, wenn man sich nicht gerade mit wunderschönen Dekors und Abendkleidern (die Leisen natürlich selber entwarf) zufrieden geben mag. Denn der aufmüpfige Humor, den man von einer Screwball-Comedy erwartet, verschwindet im wahrsten Sinne des Wortes hinter den - erschlagenden! - Kulissen: Pointen, aus denen sich etwas machen liesse, sind eine Rarität (etwa Colberts offensichtlich sexuelle Anspielung, sie sei “certainly not looking for needlework at this time at night”, oder ihre Bemerkung, als Flammarion ihr sein Anwesen zeigt: “Nice little bungalow you’ve got here. I wish I’d brought my rollerskates.”). - Vor allem artet der Schluss zum billigen Schwank aus. Und ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass die Drehbuchautoren von “Ninotchka” und “Ball of Fire” (1941) tatsächlich einen solchen Mist geliefert haben sollten.


Verteidiger von “Midnight” haben - was ihr gutes Recht ist - eine Begründung für ihre Begeisterung: Allein schon die Änderung des Titels zeige, dass der Film das Ende jener durch die Depressionszeit hervorgerufenen eskapistischen Phase ankündige, welche die Screwball-Comedy erst möglich und nötig gemacht habe. “Midnight” nehme sogar den Skeptizismus vorweg, der die Nachkriegszeit prägen sollte. - Nun bin ich - vermutlich wiederhole ich mich - wirklich für jede nicht allzu abwegige Interpretation zu haben. Aber ein Regisseur, der vor lauter Interesse an Nebensächlichkeiten die Bedeutung des Dialogs für eine Screwball-Comedy gar nicht erkannte, als Wegbereiter einer neuen Ära, einer Ära, die aus der Komödie erst noch für längere Zeit ein oft gezähmtes, biederes Lustspielchen machte? Begegnen wir da nicht einigen  -  Lobhudeleien gar nicht rechtfertigenden - Ungereimtheiten? Und hätte Billy Wilder, zwar berühmt für seine giftigen Bemerkungen, aber doch offensichtlich das nie vergessend, was aus einem nahezu perfekten Drehbuch gemacht worden war, dann Worte für Mitchell Leisen gefunden wie: “He didn’t know a sh-t about construction”?


*Was Vincnet Sherman anbelangt: möglicherweise ein Irrtum meinerseits (siehe Kommentar von Manfred Polak!)

Dienstag, 21. Dezember 2010

Whoknows' Weihnachtsfilm

Eigentlich wollte ich keinen Weihnachtsfilm besprechen. Denn, ach, was werden sie nicht jährlich durchgekaut, diese Warnungen vor dem Licht im Dunkeln, das lediglich unsere Brieftaschen leert und zu Streitereien führt, weil wir eine derartige Ansammlung von Feiertagen gar nicht ertragen - von "A Christmas Carol" (1938) über "The Bishop's Wife" (1947) bis hin zu "The Nightmare Before Christmas" (1993) und "Love Actually" (2003)! - Doch dann erschien mir nächtens (vielleicht war ich auch nur besoffen) ein Engel und sprach also zu mir: "Gebenedeit bist du unter den Bloggern, Whoknows! Siehe: Der Herr hat dich auserkoren, über einen Weihnachtsfilm zu schreiben, der üblicherweise gar nicht als solcher wahrgenommen wird. Und nun hurtig: Klemm dich in den A***h, bevor ihn dir mono.micha (woher kennen die himmlischen Heerscharen den alten Schlawiner bloss?) für seinen Schweizer-Film-Marathon vor der Nase wegschnappt!" - Na schön, dachte ich, ist immer noch besser als eine Jungfrauengeburt...


Gilberte de Courgenay
(Gilberte de Courgenay, Schweiz 1941)

Regie: Franz Schnyder
Darsteller: Anne-Marie Blanc, Erwin Kohlund, Heinrich Gretler, Ditta Oesch, Rudolf Bernhard, Jakob Sulzer, Hélène Dalmet, Zarli Carigiet, Max Knapp, Schaggi Streuli u.a.

Wer je mit der Bahn von Delémont aus Richtung Porrentruy in die Ajoie, jene seltsame nördliche Ausbuchtung der Schweiz gegen Frankreich hin, gefahren ist, darf sich rühmen, das grenznahe Dörfchen Courgenay kennen gelernt, vielleicht sogar einen Blick auf das Hôtel de la Gare erheischt zu haben, das dank eines Films beinahe zur Legende wurde. In diesem “Hôtel” arbeitete zur Zeit des Ersten Weltkriegs die junge Gilberte Montavon und bewirtete Tausende  Soldaten und Offiziere, die sie und ihr freundliches Wesen schwärmerisch verehrten. Der Bänkelsänger Hanns in der Gand komponierte sogar ein Lied, das der berühmten “Gilberte de Courgenay” gewidmet war.

Nach dem Abzug der Truppen im Sommer 1918 kehrte in Courgenay wieder Ruhe ein, und auch die berühmte Wirtstochter geriet langsam in Vergessenheit. Doch während des Zweiten Weltkriegs erfuhr sie als Vorbild für die “Geistige Landesverteidigung” eine unerwartete Renaissance und wurde zur Idealgestalt einer Soldatenfürsorgerin erhoben. Im Jahr 1939 erschienen ein Roman und ein darauf beruhendes Theaterstück, das in mehreren Schweizer Städten sehr erfolgreich aufgeführt wurde. - Der Stoff bot sich, dies erkannte Lazar Wechsler, Produzent der Praesens-Film gleich, förmlich für eine vom Nationalfonds geförderte Verfilmung an. Wechsler hatte jedoch den Unmut patriotischer Kreise auf sich gezogen, weil er die Regie für den ersten Schweizer Propaganda-Film, “Füsilier Wipf” (1938, mit Paul Hubschmid, der sich später je nach Angebot Hollywood oder den Nazis zur Verfügung stellte, ohne je ein bedeutender Schauspieler zu werden, in der Titelrolle),  dem Ausländer Leopold Lindtberg übertrug. “Gilberte de Courgenay” gehörte, dies galt als Voraussetzung für eine Förderung, in die Hände eines Schweizers - und als Wunschkandidat bot sich der junge Theaterregisseur Franz Schnyder an, der später als Verfilmer von Gotthelf-Romanen in die Geschichte des Schweizer Films eingehen sollte - und von mir an anderer Stelle “gewürdigt” wurde. Erst kurz vor den Dreharbeiten 1941 liess sich General Guisan, der dem Projekt skeptisch gegenüberstand, dazu überreden, Truppen für die Soldatenszenen zur Verfügung zu stellen.

“Gilberte de Courgenay” erzählt eine gradlinige, selbstverständlich fiktive Geschichte: Im Winter 1915/16 quartiert sich eine Artilleriebatterie in Courgenay ein. Die Soldaten (darunter mehrere Schauspieler wie Zarli Carigiet oder Schaggi Streuli, die später zu nationalen Berühmtheiten aufstiegen) denken, der Krieg sei bis Weihnachten beendet und sie könnten rechtzeitig zu ihren Familien zurückkehren. Um ihre Enttäuschung zu lindern, organisiert die junge Gilberte, die ihnen schon kurz nach der Ankunft eine deftige Berner Platte - Sauerkraut, Würste, Speck, Kartoffeln - aufgetischt hatte, für sie ein Weihnachtsfest, das - schmacht! - jeder Hollywood-Schnulze Konkurrenz zu machen vermag  - und steigt rasch zum Frauenideal der “Geistigen Landesverteidigung” überhaupt, dem besten Beispiel für die uneigennützige Einsatzbereitschaft der Frau im Dienste der Armee, auf. - Sie kümmert sich um die Sorgen der Männer, auch um die von Kanonier Hasler, den sie heimlich liebt - und auf den sie am Ende vorbildlich verzichtet.

Franz Schnyders Erstling, in dem die Vorgesetzten mit Ausnahme des Fouriers nette Kerle sind und ihre Soldaten die meiste Zeit im “Hôtel” herumsitzen lassen (eine Darstellung, die ich, der ich als Schweizer Wehrmann doch auch eine gewisse Zeit in der Ajoie verbrachte, so nicht unterschreiben kann), erhielt mässige Kritiken, wurde jedoch zum Publikumserfolg und gilt heute wohl als DER Klassiker unter den Filmen zur “Geistigen Landesverteidigung”. Dies verdankt er vor allem jener jungen Schauspielerin, die der Gilberte ein Gesicht verlieh und mit dieser Rolle sogleich den Höhepunkt ihrer (filmischen) Karriere erreichte: Anne-Marie Blanc (1919-2009) hatte zwar schon in einzelnen Filmen mitgespielt (etwa Lindtbergs Verfilmung von Gottfried Kellers Novelle “Die missbrauchten Liebesbriefe”, 1940), ihre Darstellung als ebenso charmante wie rührende Gilberte sollte sie jedoch bis an ihr Lebensende begleiten. Obwohl Anne-Marie Blanc auch vereinzelt Rollen in ausländischen Filmen annahm (sie spielte etwa Hedwig Pringsheim in “Die Manns - Ein Jahrhundertroman”, 2001), blieb sie dem Schweizer Film treu, schlug sogar einen Siebenjahresvertrag aus Hollywood aus. Dass sie sich stattdessen mit Rollen in vergessenswürdigen Machwerken wie “Palace Hotel” (1952) oder “Klassezämekunft” (1988) begnügte, dürfte nicht zuletzt daran gelegen haben, dass sie, die Autodidaktin, eine passionierte Bühnendarstellerin blieb und neben Therese Giehse und Maria Becker als dritte “Grande Dame” in die Geschichte des Zürcher Schauspielhauses einging, immer wieder in bedeutenden Uraufführungen mitspielen oder sich etwa in Peter Hacks Solostück “Ein Gespräch im Hause Stein über den abwesenden Herrn von Goethe” ausleben konnte. - Wenn man jedoch bedenkt, dass Billy Wilder in “One, Two, Three” (1961) aus der Schweizerin Liselotte Pulver eine durchaus beachtliche robuste Version der Monroe zu erschaffen vermochte, dann kommt man kaum umhin, in Anne-Marie Blancs stiller Eleganz etwas von Ingrid Bergman zu entdecken.

“Gilberte de Courgenay” wirkt gegenüber späteren Propaganda-Filmen für die Schweizer Armee wie dem primitiven “Achtung, fertig, Charlie!” (2003) noch immer liebenswert und mit Freude am Detail in Szene gesetzt, mag er auch etwas Staub angesetzt haben. Aber wer lässt sich von einer solch hübschen und fürsorglichen jungen Frau wie Gilberte schon nicht verzaubern? Und verdiente dieses holde Wesen nicht sein eigenes Lied, das  der Zuschauer natürlich auch im Film geniessen darf?




Ein solches Lied - nicht zuletzt ein Dank für das schöne Weihnachtsfest - sollte doch auch einmal unter dem heimischen Weihnachtsbaum gesungen werden. Es könnte die Glöcklein zum Wimmern und die Engel zum Kreischen bringen. - In diesem Sinne wünsche ich meinen Lesern


Donnerstag, 16. Dezember 2010

Kurzbesprechung: Driving Miss Daisy


Miss Daisy und ihr Chauffeur
(Driving Miss Daisy, USA 1989)

Regie: Bruce Beresford

In Gesprächen über unverdiente Oscars für den “Besten Film” wird zu meinem Erstaunen oft recht schnell an “Driving Miss Daisy” erinnert. Auf meine Nachfrage, weshalb man sich nicht lieber für einen pompös aufgemachten Schmachtfetzen entschieden habe, folgt eine Begründung, die ich zwar nachvollziehen kann, die aber meines Erachtens nicht gegen den Film als solchen spricht: Im Jahre 1989 hatte Spike Lee seinen epochalen “Do the Right Thing” gedreht, der sich boshaft mit dem Thema “Rassismus” auseinandersetzt - und war nicht einmal für den begehrtesten aller Oscars nominiert worden. Das “kleine Filmchen” über eine exzentrische Südstaaten-Lady und ihren Chauffeur, das am Rande auch von Rassismus handle, sei - so hiess es - hingegen gleich zum besten Film des Jahres gekürt worden.

Tatsächlich geht es in der Verfilmung eines Theaterstücks von Alfred Uhry um eine schwierige Beziehung, die über 25 Jahre heranreift und in eine zutiefst berührende, kaum ausgesprochene Freundschaft mündet: Als die nicht mehr taufrische, aber immer noch höchst resolute Miss Daisy ihren Wagen Ende der 40er Jahre unfreiwillig im Garten des Nachbarn parkiert, engagiert ihr Sohn für sie den Schwarzen Hoke Colburn als Chauffeur. Die Dame lehnt es zu Beginn strikt ab, sich von ihm überhaupt irgendwohin fahren zu lassen. Doch die Abmachung gilt: Sie kann mit dem Angestellten zwar umgehen, wie sie will; feuern kann sie ihn nicht. - Und so hält Hoke mit der ihm eigenen Höflichlichkeit durch, folgt ihr und zeigt ihr gelegentlich auch seine Grenzen auf. Nach und nach entwickelt sich über die Jahre und Jahreszeiten hinweg, von Kilometer zu Kilometer, in oft unbedeutenden Gesprächen so etwas wie Vertrautheit. Als die ehemalige Lehrerin entdeckt, dass ihr Chauffeur Analphabet ist, lehrt sie ihn das Lesen - und nach einem Anschlag auf die Synagoge von Atlanta erkennt die sich als liberale Jüdin bezeichnende Daisy, was Ausgrenzung  bedeutet und wohnt zusammen mit Hoke einem Vortrag des schwarzen Bürgerrechtlers Martin Luther King bei. - Am Ende des Films lässt sich die mittlerweile unter Altersdemenz leidende Frau im Heim von ihrem langjährigen Weggefährten füttern und weiss noch immer, wer er ist.

Es sind neben der ausnahmsweise wirklich passenden südstaatlich angehauchten Musik von Hans Zimmer die schauspielerisch bravourös dargebotenen kleinen, scheinbar alltäglichen Szenen, die den Film so sehenswert machen: ein Gespräch auf einem Friedhof, ein Lächeln in den Rückspiegel, ein Weihnachtsgeschenk, das die Lady ihrem Chauffeur mit der Bemerkung überreicht, es handle  sich um kein Geschenk, die tiefe Menschlichkeit und das ständige Beharren, man wolle ein Individuum bleiben und als solches akzeptiert werden.

Jessica Tandy, bekannt als starrsinnige Mutter in Hitchcocks “The Birds” (1963), sonst aber vor allem in Broadway-Inszenierungen zu sehen, wurde erst im Alter als einzigartige Schauspielerin entdeckt (“Cocoon”, 1985) und erhielt für ihre Miss Daisy einen verdienten Oscar. Neben dem wie immer hevorragenden Morgan Freeman als Hoke mit von der Partie: Dan Akroyd als Sohn Boolie.

Ich halte den Oscar für den kleinen, auch mit wunderschönen Bildern an die Herzen der Zuschauer klopfenden Film für mehr als berechtigt, weitaus berechtigter als die Statuen, die in den 80ern an verlogene Schwarten wie “Chariots of Fire” (1981) oder “Terms of Endearment” (1983) gegangen waren - und ich nehme dabei in Kauf, dass Hollywood eben noch nicht reif genug für “Do the Right Thing” war. - Vielleicht  ist “Driving Miss Daisy” schon beinahe ein Pflichtfilm für die Adventszeit: märchenhaft, jedoch nie  unangenehm überzuckert.


Sonntag, 12. Dezember 2010

Eben einer jener Geheimtipps...

A Little Trip to Heaven
(A Little Trip to Heaven, Island/USA 2005)

Regie: Baltasar Kormákur
Darsteller: Forest Whitaker, Julia Stiles, Jeremy Renner, Peter Coyote, Alfred Harmsworth u.a.

Die erste isländisch-amerikanische Co-Produktion wurde von den US-Kritikern nicht gut aufgenommen und gelangte zumindest im deutschen Sprachraum gar nicht erst in die Kinos. Mittlerweile stellt sich der ablehnenden Gruppe eine Schar enthusiastischer Fans entgegen, die den ursprünglichen Vorwurf, “A Little Trip to Heaven” wolle wie “Fargo” sein, mit der Floskel “als hätten sich die Coen-Brüder und David Lynch getroffen” kontert und den Film zum “Geheimtipp” erklärt. Man wundert sich ein wenig, dass Kormákur nicht gelegentlich als eigenständiger Regisseur betrachtet (schon im Zusammenhang mit “101 Reykjavik” ernannte man ihn zum Almodóvar Islands) und sein filmisches Schaffen entsprechend interpretiert wird.

Zur Handlung: Abe Holt ist Mitarbeiter beim Versicherungsunternehmen “Quality Life” und als “Schadensbegrenzer” dafür zuständig, dass Begünstigte mit allen denkbaren legalen und illegalen Mitteln (Überwachung, Druck etc.) um ihren Anteil geprellt werden. Als 1985 ein Mann bei einem Autounfall ums Leben kommt, bei dem es sich vermutlich um den gesuchten Trickbetrüger Kelvin Anderson handelt, wird die “Maschine” Holt auf einen “Wochenend-Trip” ins verschneite Nest Hastings in Minnesota geschickt, wo Kelvin’s Schwester Isold lebt, die im Fall seines Ableben Anrecht auf eine Million Dollar hat. Abe’s Aufgabe: Einen Versicherungsbetrug aufzudecken! - Er stösst auch rasch auf Unstimmigkeiten, lässt sich aber zunehmend in das triste Leben von Isold, die mit ihrem dubiosen Ehemann Fred und dem kleinen Thor in ärmlichsten Verhältnissen lebt, hineinziehen, vielleicht sogar in die traurige Atmosphäre jenes Städtchens, das man eigentlich nur verlassen möchte, um nie wieder zurückzukehren.

Obwohl die Handlung in Minnesota angesiedelt ist, wurde “A Little Trip to Heaven” zum grössten Teil in Island gedreht; und dies merkt man dem Film, hinter dem ein weitgehend isländisches Produzenten-Team und eine einheimische Crew stehen, auch an. Er wirkt mit seinen eigenwilligen Kamerapositionen, stilisierten Bildern und und schnellen Schnitten nicht so gefällig wie eine “glattgebügelte” amerikanische Mainstream-Produktion, lässt sich zum Widerwillen vieler Kritiker auch nicht ganz in ein herkömmliches Genre (Neo-Noir etc.) pressen. Wer dies nicht akzeptiert, gar Vergleiche mit amerikanischen Filmemachern heranzieht, verkennt die zunehmende Eigenständigkeit des isländischen Films in den letzten Jahren (ich denke neben den Werken von Kormákur etwa an “Englar alheimsins”, 2000, oder “Nói albinói”, 2003).

Es geht in “A Little Trip to Heaven” nicht in erster Linie um die eigentliche Story; deshalb die Logiklöcher und fehlenden Erklärungen. Die anfängliche äussere Brutalität (der Film beginnt mit einem Mord) wird rasch von einer inneren abgelöst, weil der Fokus auf die Figuren, ihre oft unausgesprochenen Beziehungen und die Umgebung, in der sie sich befinden, gelegt wird. Und die oft düsteren Bilder lassen auch erkennen: Hastings ist eine Art Vorhölle, ein Ort, an dem selbst die Farben ihre Farbe verlieren (man beachte die Wände der Dreckhütte, in der Isold lebt). Hier gibt es nichts Schönes; in dieser Gegend, die sich einem Schwarz-Weiss annähert, drückt man sich wie die fette Wirtin sogar beim Tanzen an einen Fremden, darauf hoffend, “etwas anderes” zu spüren. - Wer aber kann an so einem Ort ohne oft verheimlichte Schuld leben, weil er bloss an eines denkt: wie er seinem erbärmlichen Dasein entkommen kann ? Und passt Abe Holt, der Schadensbegrenzer, nicht genau hierher?


Die leeren Gesichter (selbst ein Lächeln von Julia Stiles wirkt leer) der Hauptfiguren zeigen es: Man ist zu jeder Brutalität fähig, kann der von Regengüssen und Schneestürmen dominierten Vorhölle Hastings (sie befindet sich auch im Versicherungsgebäude mit Abe’s zynischem Vorgesetzten) aber doch nicht entrinnen, weil man dafür längst zu schwach ist. Es sind die Umstände! - Der Zuschauer kann sich nicht mit den Figuren in diesem Film identifizieren, verstehen kann er sie wohl alle ein wenig - sogar Isold’s brutalen Mann. An diesem Ort hülfe nur ein Akt der Menschlichkeit, und der bietet sich dem ständig mit schwarzer Wollmütze herumlaufenden Holt (auch ein Mensch mit einem leeren Gesicht!) unerwartet an. Es gibt nämlich sogar in Hastings jene Unschuld, der er nicht so leicht zu widerstehen vermag: den kleinen Thor, der wissen möchte, ob es ein weiter Weg bis zum Himmel ist. Mit ihm legt sich Abe in den Schnee und formt “Engel mit Flügeln”, von ihm erhält er die Chance, aus seinem kleinen Trip nach Hastings einen vielleicht auch nur kleinen Schritt Richtung Himmel zu machen, ohne Rücksicht auf die “Quality Life”, deren heuchlerische Werbung immer wieder im TV zu sehen ist. Wird er diese Chance nutzen? Und wen dieser “Schuldigen” soll er dem kleinen Jungen mit auf den Weg in die Freiheit geben?

“A Little Trip to Heaven” zeichnet ein düsteres Bild von der Menschheit und der Welt, der sie ausgesetzt ist. Es fehlt ihm auch weitestgehend jener “schwarze Humor”, der “Fargo” recht unterhaltsam macht. Wer sich einem solchen Thema nicht aussetzen möchte, dürfte mit dem Film, dessen optische und atmosphärische Klasse (warum wohl brachte man nicht auch noch Jarmusch als Vorbild ins Spiel?) ebenso zu überzeugen vermag wie die Darsteller, nichts anfzufangen wissen. Für mich vergingen die 90 Minuten dank der straffen Inszenierung wie im Flug. - Sicher kein Meisterwerk, aber eben ein “Geheimtipp”. Und “Geheimtipps” haben es leider an sich, dass man sie sich alleine ansehen muss und weder eine bestätigende noch eine ablehnende Diskussion in Gang setzt.

Mittwoch, 8. Dezember 2010

Aktion KINO KANN

Aktion KINO KANN...


Christian, Betreiber von ChristiansFoyer und Blogger vom Scheitel bis zur Sohle (manchmal frage ich mich, welches seiner Organe er kurz entbehren konnte, als er den männlichen Anteil zu seiner Vaterschaft leistete), durfte am 25.11. sein einjähriges Jubiläum feiern (Glückwunsch auch noch von hier aus!) und nutzte diese Gelegenheit für eine Aktion, die sich “KINO KANN” nennt. Er möchte möglichst viele Assoziationen zu diesem Thema sammeln und verlost nebenbei auch ein paar DVDs. Dass er sich diese Aktion sponsern lässt, löste eine vielleicht nicht ganz unberechtigte Diskussion aus, die ihn, einen äusserst sympathischen jungen Mann, aber wohl ebenso überraschte wie mich.

Ich habe mich nun entschlossen, an seiner Aktion teilzunehmen, tue dies jedoch ausser Konkurrenz. Das heisst: Ich schicke meinen Lottoschein ein und bitte zugleich die Gesellschaft, mich im unwahrscheinlichen Fall eines Sechsers einfach nicht zu berücksichtigen. - Hingegen möchte ich allfällige Leser bitten, sich doch auch ein paar Gedanken zum Thema “KINO KANN” zu machen und sie Christian zukommen zu lassen. Eine möglichst grosse und den Bereich auf vielfältige Weise abdeckende Sammlung dürfte in unser aller Interesse sein. - Ihr bekommt erst noch ein paar unerwartete Clicks und vielleicht neue Stammleser!

Hier mein Beitrag:

Kino kann jungen Pärchen in der hintersten Sitzreihe das Knutschen und notgeilen Kerlen das Wichsen ermöglichen. Es kann jeden billigen Schund als Meisterwerk verkaufen und zum Blockbuster machen. Kino kann auch junge Menschen mit Gewaltszenen konfrontieren, über deren Auswirkungen auf die Psyche man sich streiten mag. Kino kann aber nur noch selten zeigen, was der Film als Kunstform zu erschaffen vermochte und sogar heute zu erschaffen fähig ist. Denn Kino ist auf Einnahmen angewiesen - und wer rennt schon in Ingmar Bergman- oder Luis Buñuel-Retrospektiven? Wer sieht sich einen grossen, aber den Intellekt herausfordernden Film an? - Aus diesem Grund kämpfen die kleinen Programmkinos ums Überleben oder haben ihre Pforten bereits geschlossen.

Was aber, ausser der grossen Leinwand und den technischen Raffinessen, unterscheidet das Kino heute noch vom Fernsehen, das auch um Quoten kämpft und dem Zuschauer möglichst rasch so genannte Blockbuster auftischt, selbst im Nachtprogramm nur selten an wirklich bedeutende Werke  erinnert?

Vielleicht sollten wir dankbar sein, dass wir solchen künstlerischen Höhepunkten des Films gelegentlich auf DVD begegnen dürfen...

Aktion KINO KANN...

Freitag, 3. Dezember 2010

Japanisches Wagnis

Gegen Ende meiner Blogger-Ferien - es wird langsam zur üblen Gewohnheit - halten mir liebe Freunde den Revolver an die Schläfe und fordern ultimativ die Besprechung eines von ihnen bestimmten Films. Dieses Mal machen sie es mir besonders schwer; denn das Werk, mit dem ich um mein mehr oder weniger blühendes Leben kämpfen soll, stammt aus Japan - und jeder, der mich kennt, weiss, dass ich weder von der japanischen Kultur noch vom japanischen Film auch nur die geringste Ahnung habe. --- Immerhin: Für einmal liess man mir wenigstens ein paar  unbezahlbare anonyme  Informationen zukommen, die ich lediglich in ungelenke Sätze verpacken muss. Lassen wir uns also auf das japanische Wagnis ein! Es ist mein erstes und wird vermutlich auch für lange Zeit mein letztes bleiben...

Seisaku's Wife
(Seisaku no tsuma, Japan 1965)

Regie: Yasuzo Masumura
Darsteller: Ayako Wakao, Takahiro Tamura, Nobuo Chiba, Yuzo Hayakawa, Yuka Konno, Mikio Narita u. a.


Yasuzo Masumura (1924 - 1986) gilt in der westlichen Hemisphäre als einer der grossen Unbekannten des japanischen Kinos. Dies hat nur unwesentlich damit zu tun, dass über einige Details aus seinem Leben lediglich Spekulationen angestellt und manche seiner  Entscheidungen kaum nachvollzogen werden können. Es liegt vor allem daran, dass uns nicht mehr als ein Bruchteil seiner 58 Filme wenigstens mit englischen Untertiteln zugänglich ist, was es nahezu verunmöglicht, seine Bedeutung als Regisseur einer Übergangszeit  angemessen zu würdigen und Konstanten in einem offenbar äusserst vielgestaltigen, möglicherweise qualitativ höchst unterschiedlichen Werk auszumachen.

Masumura, der schon als Jugendlicher ein begeisterter Kinogänger war, brach sein Jura-Studium ab, um als Regieassistent bei Daiei arbeiten zu können.  Ein Stipendium ermöglichte es ihm später als erstem Japaner, in Rom unter Visconti, Fellini und Antonioni, mit dem er sich befreundet haben soll, Regie zu studieren. Nach seiner Rückkehr 1955 arbeitete er erneut bei Daiei, blieb dem japanischen Studiobetrieb auch weitgehend treu und drehte bis zu vier Filme im Jahr. - Bereits sein erster Film “Kisses” (1957), ein Misserfolg, lässt auf eine gewisse subversive Tendenz schliessen (das Zeigen von Küssen war im japanischen Film lange Zeit, genauer: bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs verboten gewesen), und später bemühte er sich noch um wesentlich grössere Tabubrüche (etwa in "Manji", 1964, dem Film über eine lesbische Liebe), mit denen er sich von der Tradition lossagte, ohne sich je dem “Nuberu Bagu”,  der japanischen Nouvelle Vague, anzuschliessen (gerade seine Filme aus den 70er Jahren sollen im Gegenteil dem “Goldenen Zeitalter” des japanischen Films, den 50er Jahren,  immer wieder ihre Reverenz erwiesen haben). Er gehört also zu jenen Figuren einer Übergangszeit, die Filmemachern wie Oshima, der ihn sehr bewunderte, und Imamura den Weg ebneten, sie inspirierten. Zu seinen Merkmalen gehören ein ausgeprägtes soziales  Bewusstsein  (“In Japanese society, which is essentially regimented, freedom and the individual do not exist.”), das er, der westlich "Geschulte", mit grossem Engagement in seine Filme einfliessen liess, und die Darstellung eines übermässigen, oft sexuellen Begehrens, auf grausam schöne Weise zelebriert. - Dies sind in etwa die wenigen Dinge, mit denen sich selbst ein "Kenner" der Materie wie Jonathan Rosenbaum zufrieden geben muss, weshalb die Bewertung des Regisseurs, in dem sich die “Energien des Umbruchs” bündeln, so unterschiedlich ausfällt: Während die einen ihn für den - vermutlich neben Mizoguchi, seinem Mentor,  Ozu und Kurosawa - "vierten grossen Meister des japanischen Films" halten, betrachten ihn die anderen lediglich als überschätzten Handwerker des Studiosystems, als Regisseur von B-Filmen (obwohl doch diese westlichen Kategorien sich auf das Kino Japans gar nicht anwenden lassen).

Die 60er Jahre gelten als das Jahrzehnt, in dem Yasuzo Masumura seine besten Werke drehte; es sind auch die Jahre seiner Literaturverfilmungen. “Seisaku’s Wife” ist eine von ihnen. Die Geschichte,  derer sich 1924 bereits  Murata Minoru angenommen hatte, ist zu Beginn des 20. Jahrhunderts, am Vorabend des Russisch-Japanischen Kriegs angesiedelt: Die junge Okane, Tochter eines verarmten Hafenarbeiters, hat sich mit einem älteren wohlhabenden Mann verheiratet, um sich und ihrer Familie eine finanzielle Absicherung zu ermöglichen. Als ihr Gatte, ein fordernder, sie ständig an seine Grosszügigkeit erinnernder Widerling, bei einem Unfall ums Leben kommt, wird die “Mätresse” die von ihm schon ausreichend mit Kimonos versorgt worden sei, von der Familie mit einer kleinen Geldsumme abgespiesen. Die junge Frau kehrt zu ihren Eltern zurück, und als auch ihr Vater stirbt, verlangt die Mutter - weinerlich  und stets nur auf ihre eigenen Interessen bedacht - die Rückkehr ins Dorf, aus dem sie, das verarmte Pack, einst vertrieben worden waren.

Nun erst beginnt der eigentliche Film, den man - allerdings keineswegs im abwertenden Sinne - als Heimatfilm bezeichnen könnte. Ein paar wenige Bilder vermitteln uns eine Ahnung von dem abgeschiedenen Ort, an dem sich das zukünftige Geschehen abspielen wird: ein Weg, eine Brücke, der Berg, dem wir immer wieder begegnen werden,  ärmliche Häuser - und schon sieht man die Weiber, die beim Waschen einer Kuh am Fluss über die Zurückgekehrte lästern. Einst sei sie verjagt worden, jetzt bilde sie sich etwas ein auf ihre vielen Kimonos und ihr Vermögen. Man werde sich auf keinen Fall mit ihr abgeben, sondern ihr, der abgeschieden Lebenden, weiterhin die kalte Schulter zeigen. Ähnlich, wenn auch scheinbar gesitteter, äussern sich die Männer des Dorfs: Okane und ihre Mutter hätten ja gar kein Interesse am Dorfleben. Weshalb also sollte man sie in die Gemeinschaft aufnehmen? - Eine Verweigerng der Integration ins Kollektiv, wie sie einem in westlichen Heimatfilmen ebenfalls immer wieder begegnet, offensichtlich sogar universellen Charakter hat.

Kurz darauf findet auch eine ganz anders geartete Rückkehr ins Dorf statt: Seisaku, als Kriegsheld geehrt, wird von der Gemeinschaft mit jenem überbordenden Patriotismus empfangen, der beinahe den Eindruck erweckt, er, der “Vorzeigesoldat”, vermöge den Krieg ganz alleine zu gewinnen - und werde seinem Dorf Ehre machen. Seisaku jedoch selber stellt sich ein wenig über die Gemeinschaft: Er hat sich von seinem Sold eine handgefertigte Glocke machen lassen, mit der er die Leute jeden Morgen aus dem Schlaf reisst. Das Kollektiv begrüsst zu Beginn seine Idee, wirft dem Vorzeigesoldaten hinter dessen Rücken jedoch schon bald herrisches Gehabe vor.

Als Okanes Mutter stirbt, steht ausgerechnet Seisaku der jungen Frau bei und hilft ihr bei den Vorbereitungen für die Bestattung (eines jener mächtigen Bilder: man sieht im Hintergrund den kleinen Trauerzug vorüberziehen, dem die ferngebliebenen Bauern doch neugierig nachstieren). Seisaku und die sich bislang  abweisend gebärdende “femme fatale” Okane, die sich von jetzt an auch um einen geistig behinderten Cousin, ihren zukünftigen Beschützer,  kümmern muss,  kommen sich näher. Es entwickelt sich eine sexuelle Beziehung, die sich durch Okanes unstillbares Begehren nach Macht über den Körper des Mannes auszeichnet (sie wird zum ersten Mal geliebt, Seisakus Brust dient als Ersatz für die Gemeinschaft). - Seisaku, der eigentlich eine Frau aus dem Dorf hätte heiraten sollen, teilt seiner Familie mit, dass er mit Okane zusammenleben will, was natürlich auch zu seinem Ausschluss aus dem Kollektiv führt.

Das Glück der beiden Liebenden währt nicht lange: Schon bald wird Seisaku einberufen, weil er, plötzlich wieder zum umjubelten Vorzeigesoldaten geworden, beim Kampf um Port Arthur mitmachen soll. Als er nach einer Verletzung für ein paar Tage nach Hause zurückkehrt, sich jedoch schon bald wieder am Krieg beteiligen will, entschliesst sich Okane, die - mad, bad, and dangerous - nur mit den Waffen einer Frau kämpfen kann, zu einer unvorstellbaren Gräueltat, die letztlich beide zu “Outcasts” machen wird...

All dies - die Liebesgeschichte, die Kritik an einer über das Individuum bestimmenden Gesellschaft und einem überbordenden Patriotismus -  verpackt Masumura in 93 Minuten, was nicht zuletzt deshalb möglich ist, weil er  rasche Szenenwechsel bevorzugt, unvergessliche Bilder, die mehr zu sagen vermögen als tausend Worte, erzeugt (es scheint mir gelegentlich, man erkenne durchaus den Einfluss eines Antonioni, etwa wenn Okane von einer Erhöhung aus auf den Hafen hinunterblickt oder ihr Gesicht abwendend vor dem Haus sitzt) - und  mit harten Schnitten arbeitet (falls ich dem Film aufmerksam gefolgt bin, gibt es nur einen einzigen “Übergang”: Seisaku - seiner Frau langsam verzeihend - stellt sich vor, wie Okane nach ihrer Untat im Gefängnishof, wo sie eine überdimensionale Kette hinter sich her schleift, frieren muss, all dies hinter Rauchschwaden entstehend ). - Hinzu kommt eine überwältigende (auch westlich geprägte?) Musik, die von Anfang an Trauer und Unheil verkündet.

Ayako Wakao, die nicht nur zu einem festen Bestandteil von Masumuras Ensemble geworden war, sondern zu der er auch eine unfreiwillige Abhängigkeit entwickelte (er betonte mehrmals, das launische Wesen lasse sich kaum führen!), spielt eine Okane, die in jedem Augenblick des Films unter die Haut geht; möge man sie nun als Schweigende unter dem ersten Ehemann, als leidenschaftlich Begehrende und sich zu Beginn doch Verweigernde oder als Opfer eines Kollektivs sehen, das in einer grausamen Szene seine aufgestaute Wut an der endlich zur Verbrecherin Gewordenen auslässt, sie beinahe zu Tode prügelt. - Besonders faszinierend wirkt sie in der Schlussszene als das Feld beackernde Frau, die zu ihrem hilflos gewordenen Mann hinüberblickt: Bedeutet dieser Blick  nun Liebe oder Triumph, die Befriedigung, endlich bleibend die Macht über Seisaku erlangt zu haben? - Wer die Schauspielerin in dieser - offenbar einer ihrer besten - Rolle gesehen hat, möchte augenblicklich nach anderen Masumura-Filmen  wie “Akai tenshi” (1966) oder “Tsuma futari” (1967) greifen können.


Dass ich als Japan-Neuling zu “Seisaku’s Wife” unmittelbaren Zugang fand, hat sicher in erster Linie mit dem universellen Charakter des Films zu tun, den Motiven, denen man in jedem Film, in dem ein ausgestossenes Individuum einer Gemeinschaft - mit möglicherweise verheerenden Folgen - gegenübersteht (die "Gemeinschaft" nimmt oft die Mitte des Bildes für sich in Anspruch, während die Figuren oder zumindest die Gesichter der von ihr nicht akzeptierten Individuen symbolisch an den Rand gedrängt werden), begegnet. Vor allem aber liegt es auch an der für jeden westlichen Zuschauer nachvollziehbaren Umsetzung (die Lehrjahre in Italien?) dieser Motive. - Erstaunlich, dass Yasuzo Masumura - in Japan längst zum Kult-Regisseur geworden - vom Westen dennoch nicht entdeckt wird!