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Montag, 25. Februar 2013

Das Arbeiterkollektiv und der gerechte Mord

LE CRIME DE MONSIEUR LANGE (DAS VERBRECHEN DES HERRN LANGE)
Frankreich 1935
Regie: Jean Renoir
Darsteller: René Lefèvre (Amédée Lange), Florelle (Valentine), Jules Berry (Batala), Sylvia Bataille (Edith), Nadia Sibirskaïa (Estelle), Maurice Baquet (Charles), Marcel Lévesque (M. Beznard, Concierge), Henri Guisol (Meunier jr.)

Valentine beginnt ihre Erzählung
Mitte der 30er Jahre war Jean Renoir politisch weit nach links gerückt, und LE CRIME DE MONSIEUR LANGE war der erste Film, in dem das seinen Ausdruck fand. Während etwa noch in TONI die Arbeitsbedingungen im Steinbruch und die allgemeinere Frage nach dem Eigentum an Produktionsmitteln keine Rolle spielten, stand letzteres Thema im Mittelpunkt des Interesses von LE CRIME DE MONSIEUR LANGE. Doch mit seiner glänzenden Charakterisierungskunst und der weit fortgeschrittenen Beherrschung der kinematographischen Technik lieferte Renoir kein dröges Thesenstück, sondern ein lebendiges Drama, das Versatzstücke verschiedener Genres geschickt und unterhaltsam kombiniert. - Im äußersten Norden Frankreichs braust ein Wagen bis kurz vor die belgische Grenze, setzt ein junges Paar ab und verschwindet wieder. In einem Gasthof, der sich etwas hochtrabend Hotel de la Frontière nennt, nehmen die beiden ein Zimmer, was in der Gaststube eine erregte Diskussion auslöst: Man hat gerade auf einem Steckbrief das Gesicht des Mannes gesehen - er wird wegen Mordes gesucht. Der Sohn des Wirts drängt dazu, die Polizei zu verständigen, nicht nur wegen der Bürgerpflicht, sondern vor allem wegen der ausgesetzten Belohnung. Andere raten dazu, sich nicht einzumischen, oder zumindest erst einmal abzuwarten, bis man mehr weiß. Während der gesuchte Monsieur Lange erschöpft ins Bett sinkt und eindöst, geht seine Begleiterin Valentine zurück in den Schankraum, und sie erkennt sofort, worum sich die schlagartig verstummte Unterhaltung drehte. Unumwunden gibt sie zu, dass Lange den Mord begangen hat, und dann beginnt sie zu erzählen, wie es zu der Tat kam.

Lange klärt Valentine über Arizona auf (wo er nie war)
Rückblende: Ungefähr ein Jahr zuvor in Paris. Amédée Lange ist ein äußerst begeisterungsfähiger, aber vorerst erfolgloser Verfasser von Wildwestgeschichten um den Helden "Arizona Jim", die er in seiner Freizeit schreibt, indem er sich die Nächte um die Ohren schlägt. Tagsüber ist er Angestellter von Monsieur Batala, der einen Groschenheft-Verlag besitzt, statt Langes Westerngeschichten jedoch lieber eine Krimi-Reihe druckt. Batala ist ein übler Patron, der jedermann ausnutzt und manipuliert. Er bezahlt seine Angestellten schlecht, er haut seine Geschäftspartner und Werbekunden übers Ohr, er betatscht jede hübsche Frau, die in seine Nähe gerät. Auch sonst sind seine Hände ständig in Bewegung und dienen neben seinen Redeschwällen der Kontrolle und Manipulation seiner Mitmenschen. Von allen Charakteren in Renoir-Filmen ist Batala einer der negativsten. Es lässt sich aber auch nicht abstreiten, dass er Charme und Charisma besitzt, dass er eine gewisse Faszination ausübt. Mit einer nur leichten Akzentverschiebung hätte man aus ihm auch einen Hallodri, einen sympathischen Antihelden machen können - so aber ist er ein Stinkstiefel, ein Schmarotzer in jeder Beziehung.

Batala zieht einen Kunden über den Tisch
Batalas Verlagsräume mit der dazu gehörigen Druckerei liegen an einem kleinen Innenhof, ebenso wie eine Wäscherei, die Valentine gehört, Langes kleine Wohnung sowie weitere Wohnungen. Valentine, die früher einmal Batalas Geliebte war, aber jetzt gründlich von ihm kuriert ist, hat ein Auge auf Lange geworfen, aber der ist etwas schüchtern und unsicher im Umgang mit Frauen, und er sträubt sich. Im Erdgeschoß neben der Wäscherei residiert der Concierge Monsieur Beznard, ein reaktionärer alter Griesgram, der ständig von seiner Militärzeit im Indochinakrieg schwärmt. Sein Sohn Charles liebt Estelle, eine von Valentines vier Büglerinnen, aber die Liebe liegt vorerst auf Eis, denn Charles liegt mit einem gebrochenen Bein zuhause, und seine Mutter verhindert Estelles Zugang zu ihm mit Hilfe falscher Behauptungen (und ihrer Körperfülle). Charles' Zimmer ist ein dunkles Loch, denn sein einziges Fenster zum Hof wird durch eine große Plakatwand verstellt, die Batalas Krimi-Reihe bewirbt. Der Innenhof und die angrenzenden Räumlichkeiten werden von Renoir als ein dicht bevölkerter Mikrokosmos inszeniert, der von der äußerst beweglichen Kamera geradezu aktiv erforscht wird.

Estelle und Valentine
Trotz seiner Machenschaften gehen Batalas Geschäfte schlecht, und er hat überall Schulden. Einen Abgesandten seines Hauptgläubigers Meunier kann er bestechen, aber schon steht der nächste auf der Matte, der sich beschwert, dass seine "Ranimax-Pillen" nicht wie vereinbart in Batalas Heften beworben werden. Um den Mann abzuwimmeln, hat Batala eine Eingebung: Er präsentiert ihm den verdutzten Lange als einen genialen Autor, den neuen Victor Hugo, und "Arizona Jim" als die kommende literarische Sensation und somit als idealen Werbeträger. Verwirrt vor Freude darüber, dass "Arizona Jim" jetzt endlich gedruckt wird, lässt sich Lange über den Tisch ziehen, und er tritt unwissentlich alle Rechte daran an Batala ab. Um seinen Erfolg abzusichern, schickt Batala seine Sekretärin und derzeitige Geliebte Edith zu dem Ranimax-Mann mit dem eindeutigen Auftrag, mit ihm zu schlafen, und Edith, die einzige weit und breit, die Batala mag, lässt sich darauf ein. Kaum ist sie gegangen, bedrängt und verführt er Estelle. Der Ranimax-Coup bringt nur einen kurzen Aufschub, denn jetzt möchte ein Inspektor von der Polizei Batala sprechen, und der findet, dass es Zeit ist, vorübergehend unterzutauchen. Er packt hastig seine Koffer und fährt mit der Eisenbahn aufs Land. Doch da bringt das Radio die Nachricht, dass es zu einem Zugunglück mit vielen Toten kam, und Batala ist unter den Opfern, während etliche Überlebende unter Schock den Unglücksort verließen, ohne ihre Identität registrieren zu lassen.

Lange lässt sich von einer Straßenhure abschleppen
Die Belegschaft fasst sich ein Herz: Statt sich neue Arbeitsstellen zu suchen, gründen sie eine Kooperative, um den Verlag und die Druckerei in Eigenregie weiterzuführen. Da trifft es sich gut, dass der vermeintliche Polizeiinspektor in Wirklichkeit Batalas Cousin und einziger Verwandter ist, der aus Gründen, die er nur dunkel andeutet, aus dem Polizeidienst geflogen ist. Er ist weder in der Lage noch willens, als Erbe den neuen Chef zu spielen, und er lässt die Kooperative gewähren, wenn er nur selbst einen Job bekommt. Schwieriger gestalten sich die Verhandlungen mit den Gläubigern, die die Firma liquidieren wollen, um ihre Forderungen zu bedienen. Den Ausschlag gibt Monsieur Meunier jr., der Sohn des Hauptgläubigers, der seinen erkrankten Vater vertritt. Der junge Meunier ist auf seine Art ein ebenso enthusiastischer Mann wie Lange, und er lässt sich von der Begeisterung für die Kooperative mitreissen, ohne genau zu wissen, was eine Kooperative überhaupt ist. Lange und seine Kollegen reissen jetzt Batalas Plakatwand im Hof nieder - ein ebenso pragmatisch-nützlicher (für Charles, der jetzt endlich Tageslicht und frische Luft hat) wie symbolischer Akt. Das führt auch indirekt dazu, dass Charles und Estelle endlich zueinander finden. Auch Valentine schafft es jetzt, den sichtlich selbstbewusster gewordenen Lange zu erobern. Und selbst der bisher so unleidliche Beznard schließt seinen Frieden mit der Kooperative und wird ein Teil der Gemeinschaft. Im Lauf der nächsten Wochen und Monate führt die Kooperative durch die gemeinsame Anstrengung den Verlag zum Erfolg, und "Arizona Jim" ist der neue Renner, der reissenden Absatz findet, während Batalas alte Krimi-Reihe eingestellt wird.

Batala und Edith
Auf dem Höhepunkt des Erfolgs hat Meunier eine Idee: Er will einen Film mit Arizona Jim produzieren, und aus diesem Anlass wird eine feucht-fröhliche Feier organisiert. Unterdessen taucht Batala in der Soutane eines Priesters in Paris auf. Er hatte sich im Zug mit einem Priester unterhalten, der dann offenbar unter den Opfern war, so dass er seine Kleider entwenden und ihm seine eigenen Papiere unterschieben konnte. An einem Zeitschriftenkiosk benutzt er seine Verkleidung, um ein kostenloses Exemplar von "Arizona Jim" zu ergaunern, und er "leiht" sich noch Geld, das er natürlich nie zurückzahlen wird - er ist also noch derselbe Schmarotzer wie eh und je. Während sich auf dem Fest der angeheiterte Beznard als Stimmungskanone entpuppt, geht Lange kurz ins Büro, um eine Idee für den Film aufzuschreiben, und überascht dabei Batala, immer noch als Priester verkleidet. Der schockierte Lange will Batala mit etwas Geld dazu bringen, wieder zu verschwinden, doch dieser macht unmissverständlich klar, dass er alles will: Mit dem von der Kooperative erwirtschafteten Geld wird er seine Schulden bezahlen und wieder die Herrschaft im Betrieb antreten. Über Lange und die Kooperative macht er sich nur in zynischer Weise lustig. Im Gehen sagt er noch spöttisch, wenn Lange das verhindern wolle, müsse er ihn schon umbringen. Im Hof begegnet er Valentine, und er kann nicht anders, als sie anzubaggern. Das verschafft dem zunächst völlig konsternierten Lange die nötige Zeit. Nachdem er aus seiner Lethargie erwacht ist, geht er mit der Pistole aus Batalas Schreibtisch hinterher und schießt ihn auf dem Hof ohne große Worte nieder. Während der sterbende Batala im Priestergewand ironischerweise nach einem Priester verlangt, kommt als nächstes Meunier hinzu. Er rät Lange, sofort zu verschwinden, und bietet seine Hilfe an. Es ist Meunier, der Lange und Valentine am nächsten Tag an der Grenze absetzt.

Batala "leiht" sich Geld von Beznard, bevor er untertaucht
Damit ist Valentines Bericht beendet, und die Dörfler im Gasthaus, die als eine Art inoffizielle Geschworenenjury zugehört haben, müssen nicht lange beraten: Sie liefern Lange, der die Erzählung seiner Geschichte komplett verschlafen hat, nicht der Polizei aus, sondern sie geleiten ihn und Valentine zur Grenze, wo sie am Strand entlang in die Freiheit waten. - "Dieser Film basiert auf der Idee, dass jeder Mensch, der sich einen Platz in der Gesellschaft erobert hat, und der sich dieser Position würdig erweist, das Recht hat, diesen Platz zu behalten und ihn gegen jeden zu verteidigen, der ihn ihm wegnehmen will, auch wenn dieser Dieb seine Aktionen auf Gesetze gründet." (aus der Präambel der ersten Drehbuchfassung, abgedruckt in André Bazins Renoir-Buch). Angesichts der Tatsache, dass LE CRIME DE MONSIEUR LANGE vor Leben überquillt und auch der Humor nicht zu kurz kommt, könnte man fast übersehen, dass es sich nebenbei auch um ein Lehrstück im Brechtschen Sinne handelt. Die Verbindung zu Brecht ist nicht an den Haaren herbeigezogen: Renoir und Brecht waren befreundet, und sie trafen sich in den 30er Jahren regelmäßig, wenn Brecht aus seinem Exil in Dänemark nach Paris fuhr, auch 1935, während LE CRIME DE MONSIEUR LANGE vorbereitet wurde. Man kann den Mikrokosmos des Films als Modell für die französische Gesellschaft insgesamt sehen. Damit liegt MONSIEUR LANGE auf einer Linie mit den Vorstellungen der linken Front populaire, deren Anhänger Renoir war (ich werde in der Besprechung von LA VIE EST À NOUS auf die Front populaire zurückkommen, deshalb hier nicht mehr dazu).

Valentine macht Fortschritte bei Lange
Die erste Drehbuchfassung schrieben Renoir und Jean Castanier (in den Credits Castanyer geschrieben), nach einer Idee von Castanier. Castanier war ein mit Renoir befreundeter spanischer Maler, der, wie Renoir scherzhaft schrieb, zu faul zum Malen war, und er war auch Set-Designer bei BOUDU, CHOTARD ET CIE (1932) und MONSIEUR LANGE. Das Stück hieß ursprünglich Sur la cour ("Auf" oder "Über dem Hof"), was die Tatsache widerspiegelt, dass der Innenhof den Brennpunkt des Geschehens bildet. Abgesehen von den Szenen an der Grenze, die den Film einrahmen, verlassen die Protagonisten und damit die Kamera den Hof und die angrenzenden Räume nur selten. Errichtet wurden die Kulissen in einem Studio in Billancourt bei Paris, die Szenen an der Grenze wurden in der Normandie gedreht. Weil Renoir und Castanier fanden, dass am Drehbuch noch irgendwas fehlte, wurde Jacques Prévert hinzugezogen, der die endgültige Fassung schrieb. Wobei "endgültig" wie so oft bei Renoir bedeutete, dass auch während der Dreharbeiten, bei denen auch Prévert anwesend war, noch geändert und improvisiert wurde. Hier sogar in besonderem Ausmaß, denn LE CRIME DE MONSIEUR LANGE war passend zum Thema des Films auch eine Kollektivarbeit. Das galt in gewissem Ausmaß ohnehin für die meisten von Renoirs Filmen der 20er und 30er Jahre, bei denen Renoir beständig die Meinung seiner Mitarbeiter einholte und oft Änderungsvorschläge berücksichtigte, so dass die Mitarbeiter zu Recht das Gefühl haben konnten, dass es auch ihr Film sei.

Durchblicke (hier aus dem Hof in Valentines Wäscherei)
Das Besondere bei LE CRIME DE MONSIEUR LANGE war, dass sehr viele der Mitwirkenden von der linksradikalen Agitprop-Theatergruppe Groupe Octobre stammten: Castanier; Jacques und sein Bruder Pierre Prévert, der ebenso wie Castanier inoffizieller Regieassistent war (der offizielle Regieassistent war Georges D'Arnoux, wie schon bei TONI); der Komponist Joseph Kosma, der zu einem Text von Jacques Prévert ein Lied für Florelle schrieb (der Rest der Filmmusik ist von Jean Wiener); insbesondere aber eine ganze Reihe der Schauspieler: Florelle (eigentlich Odette Rousseau), Sylvia Bataille (die nacheinander mit Georges Bataille und Jacques Lacan verheiratet war), Maurice Baquet, Jacques-Bernard Brunius (der mit Renoir gut befreundet war und in einigen seiner Filme in verschiedenen Positionen mitwirkte, hier spielt er den Ranimax-Kunden), Sylvain Itkine (als Batalas Cousin), Jean Dasté (ein Graphiker im Verlag), und etliche weitere Nebendarsteller. Mitglieder der Groupe Octobre hatten zuvor schon in anderen Filmen mitgewirkt, etwa in der Taschendieb-Szene in L'ATALANTE, aber jetzt traten sie so massiv auf, dass manche Kritiker in MONSIEUR LANGE mehr einen Groupe Octobre-Film als einen Renoir-Film sehen wollten. Nicht zur Groupe Octobre gehörte dagegen Jules Berry, der die schauspielerische Hauptattraktion von MONSIEUR LANGE bildet. Mit seinem exaltierten Spiel beherrscht er jede Szene, in der er auftritt, und mit improvisiertem Text (mit voller Billigung Renoirs) - was je nach Quelle seiner Unlust, vorgefertigte Texte zu sprechen, oder seinem schlechten Gedächtnis für Texte zugeschrieben wird - bereicherte er die Figur Batala um Facetten, die nicht im Drehbuch standen. Ursprünglich war er ein Boulevard-Schauspieler, aber nachdem er sich vom Theater mehr auf den Film verlegt hatte, spielte er noch öfters Schurkenrollen, beispielsweise in Marcel Carnés LE JOUR SE LÈVE als Gegenspieler von Jean Gabin.

Im Hof wird ein Titelbild für "Arizona Jim" aufgenommen
Die zweite Hauptattraktion ist, wie schon angedeutet, die Kamera, die hier beweglicher ist als je zuvor bei Renoir (unter anderem deshalb ist es eben doch ein Renoir-Film und kein Groupe Octobre-Film). Es gibt natürlich auch statische Einstellungen, die dann oft genutzt werden, um die Protagonisten in der Tiefe des Raumes zu bewegen, wie man es schon in früheren Renoir-Filmen sah. Besonders der langgestreckte Verlags- und Druckereiraum im ersten Stock, der durch eine Wendeltreppe mit dem Erdgeschoß verbunden ist, wird dafür geschickt genutzt, und es gibt immer wieder gerahmte Aus- und Durchblicke, etwa aus der Wäscherei oder Charles' Zimmer durch Fenster hindurch auf den Hof hinaus. Aber auffälliger sind die teilweise sehr langen und sorgfältig komponierten Kamerafahrten und -schwenks. Auch solche gab es bereits in früheren Renoir-Filmen, aber nicht so spektakulär, und insbesondere wurde die dritte Dimension (der Verlag im ersten Stock, die anderen relevanten Örtlichkeiten am Erdboden) nicht so effektiv einbezogen. Vielgepriesener Höhepunkt ist die Mordszene: Batala steht nächtens in einer Ecke des Hofs und beschwatzt Valentine. Die Kamera zeigt die beiden in Großaufnahme, fährt dann schräg an der dunklen Wand hoch und zeigt durch ein Fenster in Batalas Büro Lange, der seine Lethargie abschüttelt und sich nach links in Bewegung setzt, durch den langen Verlagsraum. Die Kamera folgt dem Weg, wobei man Lange durch drei oder vier weitere Fenster sieht, dann ein Schwenk nach unten in den offenen Hauseingang, durch den hindurch man Lange die Treppe herunterkommen sieht. In der Horizontalen war das bisher ein Schwenk um ungefähr 90° nach links. Als Lange im Hauseingang steht, ein Schnitt, die Kamera ist jetzt näher an ihm dran. Er setzt seinen Weg fort, aus Sicht des Zuschauers nach rechts, direkt auf Batala zu. Konventionell wäre es gewesen, wenn ihm die Kamera folgt, also wieder ein Schwenk nach rechts. Doch Renoir macht genau das Gegenteil: Die Kamera schwenkt seelenruhig nach links, über den hier leeren Hof hinweg, um nach einer Dreivierteldrehung wieder am Ausgangspunkt der ganzen Sequenz anzukommen, nämlich bei Batala. Doch jetzt steht Lange direkt vor ihm und drückt ab. Durch den Schnitt handelt es sich technisch nicht um einen 360°-Schwenk, doch im Endeffekt läuft es darauf hinaus.

Ein falscher Priester taucht auf
Zum Unterhaltungswert von LE CRIME DE MONSIEUR LANGE trägt auch bei, dass Renoir immer wieder ironische Distanz herstellt. Das beginnt schon ganz am Anfang, als Meuniers Auto zur Grenze braust und kurz eine Musik unterlegt ist, die klingt wie in einem Western, wenn die Kavallerie zur Rettung vor den Indianern heranreitet. Überhaupt werden ständig implizite Parallelen zwischen der Filmhandlung und der Handlung von Langes Westerngeschichten, zwischen Lange selbst und Arizona Jim hergestellt. - LE CRIME DE MONSIEUR LANGE ist in Frankreich und Spanien auf DVD (ohne bzw. mit spanischen Untertiteln) sowie mit (nicht ausblendbaren) engl. Untertiteln auf einer DVD-R in den USA erschienen.

Dienstag, 18. September 2012

Bizarr, bizarr! Ein sonderbarer Fall!

EIN SONDERBARER FALL (DRÔLE DE DRAME)
Frankreich 1937
Regie: Marcel Carné
Darsteller: Michel Simon (Irwin Molyneux), Louis Jouvet (Archibald Soper), Françoise Rosay (Margaret Molyneux), Jean-Louis Barrault (William Kramps), Jean-Pierre Aumont (Billy), Nadine Vogel (Eva), Pierre Alcover (Chief Inspector Bray), Jeanne Lory (Tante McPhearson)

Ein scheinheiliger Bischof
London um 1900. Eine schlimme Unsitte hat sich zur Wende vom viktorianischen zum edwardianischen Zeitalter breitgemacht: Der Kriminalroman! Zu denen, die gegen diese verwerfliche Schundliteratur ankämpfen, gehört Archibald Soper, der anglikanische Bischof von Bedford. In einer allerdings nur spärlich besetzten Versammlungshalle hält er eine Rede, in der er vor allem Felix Chapel anprangert, den erfolgreichsten und geheimnisumwitterten Autor von Mördergeschichten, den noch niemand, nicht einmal sein Verleger, zu Gesicht bekommen hat. Neben alten Jungfern zollt ihm auch ein junger Mann mit Fahrrad Beifall. Es handelt sich um William Kramps, einen gesuchten Massenmörder, der mit Vorliebe Metzgern den Bauch aufschlitzt und sie ausweidet, so wie sie es mit geschlachteten Tieren tun. Seiner Meinung nach ist er erst durch die Lektüre von Chapels Roman "Das perfekte Verbrechen" auf die schiefe Bahn geraten, und dafür will er sich nun rächen, indem er auch Chapel den Magen aufschlitzt. Ebenfalls anwesend ist Sopers Cousin Irwin Molyneux, ein biederer gutsituierter Botaniker, der sich scheinbar nur für seine fleischfressenden Mimosen interessiert. Wie sich jedoch schnell erweist, ist Molyneux niemand anderer als der Autor, der unter dem Pseudonym Chapel jene Romane verfasst. Das Einkommen daraus sichert ihm und seiner eingeweihten Frau ihren großbürgerlichen Lebensstil, denn seine halbsenile Erbtante hat offenbar vor, mindestens 100 Jahre alt zu werden. Allerdings stellt sich noch später heraus, dass das mit der Autorschaft nicht ganz stimmt. Der sympathische junge Milchmann Billy stellt sich auffallend oft im Haus von Molyneux ein, weil er dessen hübscher Assistentin Eva schöne Augen macht. Bei der Gelegenheit unterhält er die Hausangestellten immer mit selbst erfundenen erschröcklichen Schauergeschichten, die über den Umweg Eva den eigentlich fantasielosen Molyneux inspirieren.

Ein Botaniker, ein Mörder und ein als Matrone verkleideter Polizist unter den Zuhörern
Soper nutzt die Begegnung mit Molyneux, um sich bei diesem selbst zum Essen einzuladen. Das kommt zum denkbar schlechtesten Moment, denn die Köchin und der Butler haben gerade im Streit den Haushalt verlassen. Um gegenüber dem öligen und blasierten Soper die Fassade aufrechtzuerhalten, kocht Molyneux' Frau Margaret heimlich selbst, und Irwin erzählt eine Räuberpistole von einem Besuch seiner Frau bei masernkranken Freunden. Dabei verwickelt er sich schnell in Ungereimtheiten, Soper wird misstrauisch und quittiert Molyneux' fadenscheinige Erklärungen mit einem mehrmals geäußerten "bizarre, bizarre". Die Szene ist so grandios gespielt, dass der englische Titel des Films BIZARRE, BIZARRE lautet. Als sich der überforderte Molyneux nächtens zu einem Treffen mit Margaret davonschleicht und von Soper dabei beobachtet wird, zieht der Bischof falsche Schlüsse: Er ist überzeugt, dass sein Cousin seine Frau vergiftet hat und nun die Flucht ergreift, und er informiert Scotland Yard. Der herbeigeeilte Chief Inspector Bray hat leider überhaupt keinen Durchblick. In Ermangelung des abwesenden Molyneux verhaftet er den zufällig vorbeigekommenen Billy - denn man weiß ja, dass Milch ein Gegenmittel für verschiedene Gifte ist, und wer soviel Milch vorbeibringt, muss ein Komplize des sinistren Molyneux sein! Unterdessen bemerkt Archibald Soper ein Missgeschick: Bei seinen detektivischen Bemühungen ist ihm ein Programmheft eines Varietés mit dem Bild einer leicht bekleideten Tänzerin abhanden gekommen, das eine persönliche Widmung dieser Dame für "ihren" Soper enthält. Wenn das Programm in die falschen Hände geriete, wäre der Bischof als scheinheiliger Patron entlarvt.

Billy erzählt Schauergeschichten
Molyneux und seine Frau sind inzwischen in Londons Chinatown untergetaucht, aber hier treibt sich auch William Kramps herum. Molyneux erhält in seiner Inkarnation als Chapel von seinem Verleger den telefonischen Auftrag, einen Artikel über den "Mordfall Molyneux" zu schreiben und dafür am Tatort zu recherchieren. Mit einem angeklebten falschen Bart getarnt macht er sich auf zu seinem eigenen Haus, mehr wegen seiner Mimosen als wegen des Artikels. Der "Fall" ist mittlerweile allgemeiner Gesprächsstoff. Schaulustige belagern das Haus, eine Bänkelsängerin trägt schon eine Moritat über Molyneux' bevorstehende Hinrichtung vor, und Eltern drohen ihren Kindern, dass sie von Molyneux geholt werden, wenn sie ihre Suppe nicht aufessen. Im Haus wimmelt es von Journalisten und Polizisten, aber der vertrottelte Chief Inspector merkt immer noch nichts. Er erzählt "Felix Chapel" noch, die Theorie, dass Mörder immer an den Ort der Tat zurückkehren, sei nichts als Unsinn, und zieht dann mit seinen Mannen ab. Unterdessen trifft Kramps auf die allein zurückgebliebene Margaret Molyneux. Der etwas übergeschnappte, aber eigentlich recht liebenswürdige Bauchaufschlitzer verliebt sich in sie, ohne zu ahnen, dass es sich einerseits um das vermeintliche Mordopfer und andererseits um die Frau des von ihm noch immer gesuchten "Felix Chapel" handelt. Doch dann liest er in der Zeitung eine Notiz, dass sich Chapel zu Ermittlungen im Haus Molyneux aufhält, und er macht sich dorthin auf, um ihn hinzumeucheln. Und noch jemand bricht zu Molyneux' Haus auf: Bischof Soper hat seiner sittenstrengen Frau Gemahlin den Verlust des kompromittierenden Programmhefts gebeichtet und wird nun von ihr abkommandiert, es unter allen Umständen wiederzubeschaffen, damit die Familienehre nicht befleckt werde. In einer absurden Verkleidung mit Sonnenbrille und schottischer Uniform schleicht er ins Haus, doch damit bringt er sich erst richtig in die Bredouille. Die Ereignisse überschlagen sich, und am Ende versucht ein wütender Mob, das Haus zu stürmen und abwechselnd mal diesen und mal jenen der Anwesenden für seine Untaten zu lynchen ...

Showdown zwischen Kramps und "Chapel"
Marcel Carné war bekanntlich ein Hauptvertreter des "Poetischen Realismus", der den französischen Film der 30er Jahre dominierte. Neben dem fast schon mythischen Über-Film LES ENFANTS DU PARADIS (KINDER DES OLYMP) war es vor allem eine Serie von drei düster-fatalistischen Dramen, bei denen jeweils mindestens einer der Protagonisten am Ende eines gewaltsamen Todes stirbt, die ihn in die Filmgeschichte eingehen ließen: LE QUAI DES BRUMES, HÔTEL DU NORD und LE JOUR SE LÈVE, die alle 1938/39 herauskamen. Da mag es erstaunen, dass es sich bei seinem 1937 erschienenen zweiten Spielfilm um eine ausgelassene, um nicht zu sagen durchgeknallte Farce handelt. Wie bei den obengenannten Filmen, abgesehen von HÔTEL DU NORD, und bei einigen Filmen Carnés nach dem zweiten Weltkrieg, stammt auch bei DRÔLE DE DRAME das Drehbuch von Jacques Prévert. Als Vorlage diente der Roman "His First Offense" des britischen Schriftstellers und Historikers J. Storer Clouston. DRÔLE DE DRAME vereint Elemente des Schwanks mit satirischer Schärfe, sprühendem Witz und etwas Frivolität (in einer Szene ist kurz Jean-Louis Barraults nackter Hintern zu sehen - in einem deutschen oder amerikanischen Film jener Zeit völlig undenkbar) zu einer schwarzhumorigen Groteske von hohem Tempo. Vor allem aber lebt der Film von seinen grandiosen Darstellern. Mit Michel Simon, Louis Jouvet und Jean-Louis Barrault kommt es zu einem Gipfeltreffen von gleich drei Legenden der französischen Theater- und Filmlandschaft, die nicht nur in dramatischen Rollen glänzen konnten, sondern die auch begnadete Komödianten waren, und auch die weiteren Rollen sind ausgezeichnet besetzt. Wer Filmen wie beispielsweise ARSEN UND SPITZENHÄUBCHEN etwas abgewinnen kann, wird auch diesen SONDERBAREN FALL genießen können.


DRÔLE DE DRAME ist in den USA, England und Frankreich auf DVD erschienen, jeweils mit engl. Untertiteln (auch in den ersteren beiden Fällen unter dem Originaltitel und nicht als BIZARRE, BIZARRE).

Archibald Soper als Schotte verkleidet