Montag, 15. Januar 2018

TOUKI BOUKI - der afrikanische EASY RIDER

TOUKI BOUKI
Senegal 1973
Regie: Djibril Diop Mambéty
Darsteller: Magaye Niang (Mory), Mareme Niang (Anta), Aminata Fall (Tante Oumy), Ousseynou Diop (Charlie)


Um es vorwegzunehmen: Die Bezeichnung "afrikanischer EASY RIDER" stammt nicht von mir, sondern wurde Djibril Diop Mambétys erstem (und vorletztem) Spielfilm schon vor langer Zeit aufgedrückt, und ich finde diese Bezeichnung nicht mal besonders passend - aber es ist halt ein hervorragender Eyecatcher. Auch mit Godards AUSSER ATEM und PIERROT LE FOU sowie mit BONNIE AND CLYDE ist TOUKI BOUKI schon verglichen worden, und auch diese Vergleiche führen nicht sehr weit.

Prolog
Es beginnt mit einem Prolog. Eine Kuhherde wird aus irgendeinem Dorf in die Stadt zum Schlachthof getrieben. Neben zwei oder drei Erwachsenen zu Fuß ist auch ein kleiner Junge dabei, der auf einer der Kühe reitet. Die Kühe werden im Schlachthaus ihrem Schicksal zugeführt (was einige drastische Bilder ergibt), nur eine bleibt übrig - die mit dem Jungen, der nun allein zurück in sein Dorf reitet. Es wird nicht explizit gesagt, aber der Verdacht drängt sich auf, dass der Prolog rund 20 Jahre in der Vergangenheit spielt, und dass es sich bei dem Jungen um Mory, den männlichen Protagonisten des Films, als Kind handelt. In der filmischen Gegenwart von TOUKI BOUKI in den frühen 70er Jahren jedenfalls ist Mory ein junger Mann, der sozusagen auf einer symbolischen Kuh reitet: Er fährt mit einem Motorrad, dessen Lenker von einem Kuhschädel samt ausladenden Hörnern verziert wird, durch die Straßen in und um Dakar (und noch während der letzten Bilder des Prologs hört man überlappend das Geräusch des Motorrads). Das Heck des Motorrads ziert eine Metallskulptur, die an Kanaga-Masken der Dogon erinnert. Mory ist ein Tunichtgut, der Schulden hat, vor "ehrlicher Arbeit" zurückschreckt, vor Gaunereien dagegen nicht.

Ein Motorrad mit Hörnern und einer Skulptur am Heck
Morys Freundin Anta ist eine selbstbewusste und progressiv gesinnte Studentin, die sich schon durch ihre betont schlichte Männerkleidung vom traditionellen westafrikanischen Frauenbild abhebt. Sie sitzt etwas zwischen den Stühlen. Ihre Tante Oumy, offenbar ihre nächste Verwandte, ist eine konservative Marktfrau, die ihr vorwirft, dass sie ihre Zeit verplempert, weil man an der Universität eh nichts Gescheites lernt, und dann treibt sie sich auch noch mit diesem Nichtsnutz Mory herum, der auch noch Schulden bei Oumy hat. Antas Kommilitonen wiederum werfen ihr ebenfalls den Umgang mit Mory vor, weil der sie nur von der politischen Arbeit abhält. Als Mory einmal einer Gruppe der Studenten in die Arme läuft, spielen sie ihm böse mit. Doch die Anfeindungen schweißen Mory und Anta nur zusammen. Sie haben einen etwas abgelegenen Platz außerhalb Dakars über der Steilküste, und wenn sie dort nicht gerade miteinander schlafen, dann sehen sie den Schiffen hinterher und träumen von Europa, wo bekanntlich Milch und Honig fließen. Wenn Mory erst mal in Frankreich ist, dann wird er in kürzester Zeit zu Reichtum gelangen und dann im Triumph als gemachter Mann in den Senegal zurückkehren und auf alle herabschauen, die jetzt auf ihn herabschauen - so stellt er sich das jedenfalls vor. Wenn sie von Frankreich träumen und schwadronieren, und dann noch mehrfach im Film, ertönt der Refrain von Josephine Bakers Paris, Paris als Mambétys ironischer Kommentar dazu.

Mory ...
Doch wie soll man nach Europa gelangen, wenn man kein Geld hat? Man könnte es als blinder Passagier versuchen, meint Mory. Wenn man sich in feiner Kleidung unter die Passagiere mischt und so tut, als würde man dazugehören, würde schon keiner etwas merken. Es gibt mindestens ein reales Vorbild für diese Vorgehensweise: Ousmane Sembène, der Übervater des schwarzafrikanischen Films, erschlich sich 1948 auf diese Art die Überfahrt nach Frankreich, wo er jahrelang als Industrie- und Hafenarbeiter arbeitete, bevor er Schriftsteller und schließlich Regisseur wurde. Aber Mory und Anta wollen es doch lieber mit etwas Kleingeld in der Tasche versuchen, und so handelt ein größerer Teil von TOUKI BOUKI von ihren Versuchen, auf schnelle, aber nicht unbedingt ehrliche Art zu Geld zu kommen. Mory versucht sich zunächst bei einem Spieler, bei dem man die richtige Karte aufdecken muss. Wahrscheinlich handelt es sich da auch um einen Gauner, der die Leute nach Art der Hütchenspiele übers Ohr haut, aber er verlangt bloß drei Franc Einsatz. Man kann aber auch mehr setzen, und Mory treibt den Einsatz auf 1000 Franc hoch. Prompt verliert er, und statt die 1000 Franc zu bezahlen, die er ja gar nicht hat, nimmt er die Beine in die Hand und verduftet. Dabei läuft er geradewegs einem Polizisten in die Arme, der ihn aber nach Entrichtung eines Obolus in Form einer Zigarette ziehen lässt.

... und Anta
Die nächste Idee hat Anta. In einer Arena mit Tribünen findet vor zahlendem Publikum ein traditionelles Ringerturnier von Angehörigen des Lebu-Volks statt - gedacht als Beitrag zu einem Denkmal für General de Gaulle. Das Geld wird nur von einem schlafmützigen Polizisten bewacht, demselben, dem Mory die Zigarette "spendiert" hat. Doch in welchem von zwei Koffern befindet es sich? Im kleineren, meint Anta. Nein, im größeren, sagt Mory. Und er hat ein unschlagbares Argument: "Widersprich mir nicht! Ich bin der Mann." Es wird also der große Koffer geklaut und mit einem Taxi abtransportiert, denn für das Motorrad ist das Ding viel zu sperrig. Anta lässt sich damit zu einer abgelegenen Ruine an der Küste chauffieren, die vielleicht mal ein koloniales Fort oder dergleichen war. Dort öffnet der neugierige Taxifahrer den Koffer - und bekommt den Schreck seines Lebens, denn ein Totenschädel blickt ihn an. Offenbar doch den falschen Koffer erwischt ... Was es mit dem Inhalt des Koffers auf sich hat, wird nicht weiter erörtert - vielleicht handelt es sich um Utensilien eines animistischen Schamanen. Auf jeden Fall sind Mory und Anta immer noch pleite.

Tante Oumy - keine Angst, das Messer dient nur zum Häuten einer Ziege
Doch der nächste Plan ist nicht weit, und diesmal wird es klappen! Mory kennt einen reichen Schwulen namens Charlie, der ihn mal angemacht hat, und den will er nun ausnehmen. Charlie, der in einem Luxusressort an der Küste wohnt, springt sofort an. Erst dreht er mal ein paar Runden mit Mory in einem Tretboot in einem Bassin direkt am Meer, und dazu hört man die französische Koloratursopranistin Mado Robin mit dem schönen Plaisir d'Amour (das die Melodie zu Elvis Presleys Can't Help Falling in Love lieferte) - wie schon bei Josephine Bakers Paris, Paris darf man das als ironisierenden Kommentar Mambétys auffassen. Dann verschwinden die beiden in Charlies Wohnung, und dieser nimmt erst mal eine Dusche, um das Salzwasser abzuwaschen, und er freut sich über das bevorstehende Schäferstündchen mit Mory. Doch der hat anderes im Sinn - während Charlie unter der Dusche vor sich hin plaudert, räumt Mory den umfangreichen Kleiderschrank aus, und die draußen wartende Anta ergreift eine günstige Gelegenheit und erbeutet einen Haufen Bargeld. Auf der Flucht kapern sie gleich noch Charlies extravagantes Citroën-Cabrio samt seinem nichtsahnenden Chauffeur. - Dieser Charlie ist eigentlich ein netter Kerl, aber auch recht affektiert - Mambéty übertreibt es ein bisschen mit den Tuntenklischees.

Ein Funktionär verteilt Wasser - bald verliert er vorübergehend seine Würde
Während sich Mory mitten in der Fahrt im offenen Wagen Charlies feine Kleider anzieht, fährt zur Abwechslung mal Anta das Motorrad, doch dabei passiert ein Missgeschick: Ein animalisch wirkender hellhäutiger junger Mann mit Wuschelfrisur, der auf einem Baobab hockt, erschrickt sie so sehr, dass sie stürzt und zu Fuß das Weite sucht, während sich der junge Mann das Motorrad als Beute greift. Nun verschwimmen in einer längeren Passage die Grenzen zwischen Realität und Fiktion. Mory steigert sich in seinem Triumph, dass endlich mal ein Plan geklappt hat, in einen Taumel der Selbstüberschätzung hinein. Auf dem Weg ins Zentrum von Dakar stehen zunehmend Leute am Straßenrand Spalier, und schließlich taucht ein Konvoi von Staatskarossen auf und fährt zum imperial wirkenden Präsidentenpalast - und man sieht, vor Morys geistigem Auge, ihn und Anta, wie sie in feiner Kleidung quasi als Präsidentenpaar die Huldigung des Volkes entgegennehmen. Halb ins Reich der Fiktion gehört es auch, dass nun ausgerechnet Tante Oumy in rhythmischem Sprechgesang eine Lobpreisung auf den "höflichen und respektvollen" Mory anstimmt, als sei er schon immer ihr Lieblingsmann für ihre Nichte gewesen. Ein kleiner selbstironischer Schlenker ist es vielleicht, dass danach Charlie bei der Polizei anruft, um den Diebstahl zu melden, und dabei mit einem Kommissar Mambéty spricht. Dabei versucht er gleich, mit diesem anzubandeln, und der Diebstahl gerät zur Nebensache (und prompt hört man wieder Plaisir d'Amour im Hintergrund).

Morys und Antas Platz über der Küste
Dann ist der Film wieder bei Anta und Mory, immer noch fein in Schale geworfen und mit Cabrio samt Chauffeur mit Dienstmütze unterwegs. In einem Reisebüro kaufen sie Schiffskarten nach Frankreich - jetzt können sie es sich tatsächlich leisten. Ihr Schiff ist die schöne weiße MS Ancerville, die ab 1962 die Route Marseille - Dakar und zurück befuhr. Es war auch die Ancerville, die 1966 in Ousmane Sembènes LA NOIRE DE... Diouana von Dakar nach Marseille brachte. Ist das eine Verbeugung von Mambéty vor dem damals schon arrivierten Meister Sembène? Vielleicht, aber allzu groß war die Auswahl an Schiffen auf dieser Route nicht. Auf jeden Fall kam Mambéty gerade noch rechtzeitig, denn 1973 wurde die Ancerville an China verkauft (und in Minghua umbenannt). Während Mory und Anta im Hafen eintreffen, sind auf dem Deck des Schiffs zum ersten Mal im Film Weiße zu sehen und Französisch zu hören (die Sprache von TOUKI BOUKI ist Wolof, die Hauptsprache des Senegal), und in wenigen kurzen Dialogfetzen erweisen sich diese gut betuchten Europäer als blasierte Idioten, im Geiste immer noch Kolonialherren.

Ringerturnier
Doch nun, gut zehn Minuten vor Ende des Films, kommt es zu einer fast dramatischen Wendung. Während Anta über die Gangway das Schiff betritt, macht Mory davor Halt. In einem jähen Flashback sind Bilder aus dem Prolog zu sehen, also sehr wahrscheinlich aus seiner eigenen Kindheit. Er besinnt sich auf seine Wurzeln und zögert, sie vielleicht für immer hinter sich zu lassen. Und dann macht er kehrt und beginnt zu laufen, quer durch den Hafen und dann durch halb Dakar, scheinbar ohne Ziel. Und Anta steht an Deck und fragt sich, ob er wohl wiederkommt. Morys Lauf, der zu einer wild montierten Odyssee durch die Stadt gerät, findet wie magisch doch sein Ziel, nämlich sein Motorrad (und damit auf einer symbolischen Ebene sozusagen auch die Rinderherde seiner Kindheit). Der junge Mann auf dem Baum, der sich das Motorrad unter den Nagel gerissen hatte, hat damit einen Unfall gebaut und wird schwer verletzt abtransportiert, während Mory den Kuhschädel mit den Hörnern vom Boden aufkratzt und davonträgt - das schwer lädierte und offenbar nicht mehr fahrtüchtige Gefährt lässt er liegen. In der vorletzten Einstellung sieht man Mory, Anta und das unversehrte Motorrad an ihrem Platz über der Steilküste - doch es ist eine exakte Kopie einer Szene von früher im Film, also ein Flashback. Anta ist offenbar an Bord der mittlerweile ausgelaufenen Ancerville geblieben, sie wagt das Abenteuer Europa allein. Zuletzt gibt es noch einmal Bilder vom Prolog, und mit einem Freeze Frame davon endet der Film.

Ein Koffer mit vermeintlicher Beute wird abtransportiert. Man
beachte den Schriftzug am Gebäude - ja, dazu hört man Josephine Baker

TOUKI BOUKI, das bedeutet "Die Reise der Hyäne". Und mit der Hyäne, in der westafrikanischen Volkskultur ein verschlagenes, betrügerisches Wesen, soll man wohl Mory assoziieren. - "In TOUKI BOUKI ist alles allegorisch, geprägt von Symbolen mit afrikanischen, doch kaum wahrgenommenen, da unbekannten Bezügen. TOUKI BOUKI ist der Wunsch auszubrechen, aber auch die Angst vor Veränderungen und schliesslich die Bewegung in der Unbeweglichkeit, der Tagtraum." Das schrieb Paulin Soumanou Vieyra, mit seinem 1955 in Paris gedrehten AFRIQUE SUR SEINE einer der Väter des afrikanischen Kinos, 1983 in seinem Buch Le Cinéma au Sénégal. Es ist oft ein Gegensatz konstatiert worden: Hier Mambéty, der Regisseur des Symbolischen, Allegorischen, Poetischen; dort die meisten anderen westafrikanischen Regisseure, beginnend mit Sembène, die sich in ihren Filmen mit den politischen und sozialen Fragen ihrer Länder (Kolonialismus, Post- und Neokolonialismus, das Geschlechterverhältnis, Korruption, Gegensatz von Stadt und Land, von Tradition und Moderne etc.) auseinandersetzen. Dieses einfache Schema wird freilich von Richard Porton in seinem Essay für Criterion in Frage gestellt. Richtig ist aber, dass Mambéty in TOUKI BOUKI eine Experimentierfreude an den Tag legt, die damals im afrikanischen Film wohl neu war. So gibt es manchmal asynchronen Bild- und Tonschnitt, und noch ziemlich am Anfang des Films gibt es eine längere Parallelmontage zwischen Szenen, die nur assoziativ oder allegorisch, aber nicht inhaltlich zusammenhängen (die Schlachtung und Häutung einer Ziege spielt darin eine Rolle). Solche Schnittfolgen und manche Ellipsen haben einige Rezensenten dazu verleitet, TOUKI BOUKI als schwer verständlich zu bezeichnen, und auf der Ebene einer reinen Handlungslogik ist er das auch bisweilen, aber das fällt nicht negativ ins Gewicht. Durch den Schnitt, die bewegliche Kamera, und natürlich auch durch die Motorradszenen, entwickelt TOUKI BOUKI insgesamt ein relativ hohes Tempo.

Plaisir d'Amour - mit Charlie im Tretboot
Bemerkenswert ist auch der vielgestaltige Soundtrack des Films. Die Gesangsdarbietungen von Josephine Baker, Mado Robin und Aminata Fall wurden schon erwähnt. Daneben gibt es auch westafrikanische Trommelmusik, aber auch Afro-Jazz und Rockmusik (vor allem bei Morys Lauf durch die Stadt), und es gibt jede Menge realistische Umgebungsgeräusche, aber auch elektronisch verfremdete Klänge. Dabei hat man nie das Gefühl, dass Mambéty beliebig in die Kiste greift, sondern er hat sich immer etwas dabei gedacht - es passt einfach alles. Mambéty vermeidet überflüssige Dialoge, dafür gibt es aber gelegentlich ganze Redeschwälle, wenn Streit ausbricht. Die Sprache ist manchmal derb, wie in diesem schönen Dialog:

Mory: "Aber bevor ich weiterrede, muss ich erst mal scheißen."
Anta: "Viel Spaß dabei!"

Anta
Einmal versucht ein männlicher Würdenträger, der die Verteilung von Wasser überwacht, einen heftigen Streit zweier Frauen zu schlichten - und wird dann von beiden vermöbelt. Durch solche scheinbar nebensächliche Szenen ist TOUKI BOUKI nicht nur die Geschichte seiner beiden Protagonisten, sondern auch ein Portrait von Dakar als einer etwas chaotischen Stadt mit vielen Gesichtern, vom europäisch geprägten Zentrum bis zu bidonvilles genannten, ausufernden Slum-artigen Siedlungen am Stadtrand.

Ein rätselhafter Mann auf einem Baum
TOUKI BOUKI traf des Lebensgefühl eines beträchtlichen Teils der westafrikanischen Jugend. Vielleicht war es deshalb, warum der Film mit EASY RIDER verglichen wurde, mehr als wegen des Motorrads (das, abgesehen von den Hörnern, ohnehin wenig Eindruck macht - kein Vergleich zu den wuchtigen Harley Davidsons, auf denen Dennis Hopper und Peter Fonda nach ihrem Amerika suchten). Jedenfalls wurde TOUKI BOUKI zu einem Kultfilm und einem Klassiker des afrikanischen Kinos, und er gewann auch Preise in Cannes und Moskau und machte Mambéty auch in Europa halbwegs bekannt. Heute ist Djibril Diop Mambéty (1945-1998) in Afrika eine beinahe legendäre Gestalt, vielleicht gerade deshalb, weil er nur zwei Spielfilme und einige Kurzfilme hinterließ. Mambéty wurde als Sohn eines Imams in der Nähe von Dakar geboren. Nach einer kurzen Zeit als Schauspieler an einem renommierten Theater in Dakar (wo er aus disziplinarischen Gründen hinausflog), drehte er 1968 als Autodidakt seinen ersten Kurzfilm. Sein zweiter, der schon fast eine Stunde dauerte, gewann schon einen Preis auf dem Filmfestival von Karthago, und dann folgte TOUKI BOUKI. Abgesehen von einer kurzen Doku über die Dreharbeiten zu YAABA (1989), den Mambétys Freund und Kollege Idrissa Ouédraogo in Burkina Faso realisierte, folgte dann 19 Jahre lang kein Film mehr von Mambéty. Erst 1992 erschien HYÈNES (HYÄNEN), Mambétys zweiter und letzter Spielfilm. Es handelt sich um eine in eine Kleinstadt bei Dakar (und zwar Mambétys Geburtsort) versetzte Adaption von Friedrich Dürrenmatts "Der Besuch der alten Dame", und zugleich um eine Parabel auf quasi-koloniales Verhalten der neuen afrikanischen Elite, die Praktiken der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds imitiert. Danach drehte Mambéty noch zwei weitere Kurzfilme. Es hätte eine Trilogie werden sollen, doch schon der zweite erschien 1999 posthum, weil Mambéty 1998 an Lungenkrebs starb. Wer noch mehr über ihn erfahren will, dem sei dieses Interview mit ihm empfohlen.


Über Magaye Niang und Mareme Niang, die beiden Hauptdarsteller, habe ich wenig herausgefunden. Laut IMDb ist TOUKI BOUKI Mareme Niangs einziger Film. Nach einigen Quellen ist sie mit Myriam Niang identisch, für die die IMDb drei weitere Filme verzeichnet, darunter zwei von Sembène, aber ich bin nicht sicher, ob das wirklich dieselbe ist. Auf jeden Fall hatte sie noch eine Statistenrolle in KARMEN GEÏ (2001), in dem Magaye Niang seine offenbar zweite und bislang letzte Hauptrolle spielte. Beide erscheinen 2013 in der Doku MILLE SOLEILS, die Mambétys 1982 geborene Nichte Mati Diop inszenierte. Magaye Niang ist offenbar die Hauptperson darin. Während er die Gegend um Dakar nie verlassen hat, soll Mareme Niang einige Zeit auf einer Ölbohrplattform in Alaska gearbeitet haben. - Während also über die beiden nicht allzu viel bekannt ist, war "Tante Oumy", die Sängerin und Schauspielerin Aminata Fall (1930-2002), im Senegal und darüber hinaus ein Star. Diverse ihrer zwischen Jazz, Blues und afrikanischen Rhythmen angesiedelten Lieder findet man auf YouTube und anderswo. Als Schauspielerin war sie seit Mitte der 60er Jahre am selben Theater in Dakar wie Mambéty. Über ihre Begegnung mit ihm sagte sie einmal:
"Ich traf Djibril Diop Mambéty, der noch kein Filmemacher war, am Daniel-Sorano-Nationaltheater für das Stück L'exil d'Alboury. Er hatte ein Filmprojekt und bot mir eine Rolle an, wo ich mir den Kopf rasieren und eine Perücke tragen musste. Ich habe akzeptiert. Die Rolle, die er mir im Film TOUKI BOUKI vorschlug, war schwierig, aber er war überzeugt, dass ich Szenen drehen konnte, in denen Blut ist [sie häutet da die Ziege]. Ich respektiere die Phantasie von Djibril Diop Mambety. Kritisiere nicht seine Träume. Als Schauspielerin investiere ich mich gründlich in das, was er mich fragt. Und wenn es nötig gewesen wäre jemanden zu schneiden, hätte ich ohne zu zögern den Kopf abgeschnitten."
Kurz vor ihrem Tod wurde Aminata Fall zum Chevalier des senegalesischen Ordre des Arts et des Lettres ernannt. Sie ist nicht zu verwechseln mit der 1941 geborenen Schriftstellerin Aminata Sow Fall (IMDb und Wikipedia scheitern teilweise an dieser Hürde).

Während Anta an Bord gegangen ist, läuft Mory zurück in seine Vergangenheit
TOUKI BOUKI sowie HYÈNES und die beiden späten Kurzfilme LE FRANC und LA PETITE VENDEUSE DE SOLEIL sind jeweils in der Schweiz bei trigon auf DVD erschienen. In den USA ist TOUKI BOUKI zusammen mit fünf anderen Filmen in dem von Martin Scorsese betreuten World Film Project bei Criterion erschienen, als DVD/Blu-ray-Kombi-Box. Für diese Box wurde TOUKI BOUKI restauriert, so dass das Bild möglicherweise besser ist als auf der Schweizer DVD, wo es doch etwas zu wünschen übrig lässt. Eine ältere amerikanische Einzel-DVD von TOUKI BOUKI gibt es auch noch. Längere Ausschnitte des Films sind derzeit auch auf dem einen oder anderen Videoportal zu finden.

Mittwoch, 3. Januar 2018

Luppolo amaro, profumi dolci e altri vizi delicati – 2017 im persönlichen Rückblick


Wahrscheinlich war ich vom aktuellen Kinogeschehen noch nie so sehr abgekoppelt wie in diesem Jahr. Bei regulären Kinobesuchen habe ich 2017 nicht einmal ein Dutzend Filme gesehen – abzüglich meiner üblichen Besuche von musikbegleiteten Stummfilmvorführungen kommt keine nennenswerte Zahl an aktuellen Filmen dabei heraus. Mit drei Stück habe ich dieses Jahr allerdings mehr Festivals besucht als jemals zuvor: das goEast-Festival, das Terza Visione und das exground – einzig bei letzterem sah ich eine größere Anzahl an aktuellen Produktionen. Eine richtige Top-, ganz zu schweigen von einer Flop-Liste aktueller Produktionen kriege ich dieses Jahr nicht zusammen, nur ein kurzen Rückblick auf 


Sehenswerte aktuelle Filme 2017


JOHN WICK: CHAPTER 2 (Chad Stahelski: USA / Hong Kong / Italien / Kanada 2017)
Die Rückkehr des melancholischen Profikillers war sicherlich schwächer als der erste Teil, aber das ist Meckern auf höchstem Niveau. Mehr zu diesem erzählerisch etwas überfrachteten, aber dennoch visuell stets spitzenmäßigen Action-Kracher gibt es von mir (mit Schwerpunkt auf dessen Verbindungen zum Slapstick-Stummfilm) hier zu lesen.

REKVIJEM ZA GOSPOĐU J. (Bojan Vuletić: Serbien / Bulgarien / Mazedonien / Russland / Frankreich 2017)
Der qualvolle, von vielen bürokratischen Hindernissen und Zufällen gesäumte Weg einer Selbstmörderin in ihren Freitod wird in Deutschland außerhalb des Festivalbetriebs wohl erst einmal nicht zu sehen sein. Schade. Mehr zu dieser emotionalen tour de force gibt es von mir hier zu lesen.

AM ABEND ALLER TAGE (Dominik Graf: Deutschland 2017)
Grafs TATORT: DER ROTE SCHATTEN bekam zwar nicht zuletzt aufgrund seiner RAF-Thematik sehr viel mehr Aufmerksamkeit, mir erschien er persönlich ein bisschen zu sehr „auf Handbremse“ inszeniert (besonders im Vergleich zu seinem wahnwitzigen und entfesselten TATORT: AUS DER TIEFE DER ZEIT von 2013). Wesentlich unbemerkter, und von mir fast verpasst lief sein Melodrama um die Suche eines Kunsthistorikers nach einem verschollenen Bild, und die sich daraus entwickelnde leidenschaftliche Liebesbeziehung zur Nichte des vermuteten Besitzers. Die Anleihen an den Fall Gurlitt können zum Glück kaum davon ablenken, was für ein unglaublich sinnlicher und auch erotischer Film AM ABEND ALLER TAGE ist. Die Freude, im Garten des Onkels der geliebten Frau an einem heißen Sommertag rumzugraben, um sich später mit ihr auf dem farbbefleckten Boden ihres Künstlerateliers rumzuwälzen – so unmittelbar und leidenschaftlich kann das gegenwärtig wohl nur Graf filmen. Ohne Zweifel: sein bester Film seit TATORT: AUS DER TIEFE DER ZEIT.

120 BATTEMENTS PAR MINUTE (Robin Campillo: Frankreich 2017)
Ein bewegtes Portrait der Pariser Act-Up-Militanten Anfang der 1990er Jahre: großartiges politisches Kino mit unbändigem Zorn, großer Lebensfreude und ohne erhobenen Zeigefinger. Mehr dazu gibt es von mir hier zu lesen.

ALBÜM (Mehmet Can Merto
ğlu: Türkei / Frankreich / Rumänien 2016)
Es ist für mich immer noch kaum zu glauben, dass diese zornige Abrechnung mit spießig-autoritären Familienglück-Fantasien ein Debütfilm ist, der zudem in der gegenwärtigen Türkei so entstanden ist. Mehr dazu gibt es von mir hier zu lesen.

in der Kategorie „guilty pleasure“:

BAYWATCH (Seth Gordon: USA 2017)
Ich bin ein absolut hoffnungsloser Fall von einem Dwayne-Johnson-Fanboy. Sonst würde ich natürlich einen solchen totalen Schwachsinn mit Überlänge, der zudem von so einer unangenehmen 1990er-Jahre-typischen Selbstironie durchzogen ist, nicht eine Minute lang tolerieren. Aber Dwayne Johnson tut da (in einer Nicht-FAST-&-FURIOUS-Umgebung) Sachen... Zum Beispiel dieses furchtbare Grinsegesicht Zac Efron verbal zusammenfalten, oder auf einer Party in schickem, weißem Hemd, schwarzen Anzugshosen und Flipflops erscheinen.


Meine großen Namen des Jahres 2017

Drei Regisseure habe ich dieses Jahr für mich entweder komplett neu entdeckt bzw. auf neue Weise wiederentdeckt.


Lucio Fulci
Anfang des Jahres hätte ich mich noch als Fulci-Skeptiker bezeichnet. ZOMBI 2, L‘ALDILÀ  und LO SQUARTATORE DI NEW YORK kamen mir dösig bis fürchterlich langweilig vor, lediglich SETTE NOTE IN NERO fand ich einigermaßen guckbar.
Eine Neusichtung eben von SETTE NOTE IN NERO „in Vorbereitung“ auf das Terza Visione wirkte wie eine kleine Offenbarung: was für ein unglaublich toller visueller Erzähler Fulci ist, kann man in diesem übernatürlichen Mystery-Thriller (als typischen Giallo würde ich ihn nicht bezeichnen) sehr rasch in den ersten, praktisch dialogfreien Minuten erkennen. Noch klarer wurde das knapp 24 Stunden später mit UNA LUCERTOLA CON LA PELLE DI DONNA. In acht weiteren Filmen verwandelte ich mich dann definitiv zu einem loyalen Neumitglied in der Gilde der leidenschaftlichen Fulci-Verteidiger. Darunter befand sich eine Neusichtung des ehemals „dösigen“ ZOMBI 2, dessen tiefe, fatalistische Melancholie sich nun vollkommen entfaltete – wie überhaupt viele Fulci-Filme von Melancholie, Fatalismus, Verzweiflung und vor allem einer tiefen Trauer durchzogen sind. Das ist besonders im großartigen NON SI SEVIZIA UN PAPERINO zu spüren, meinem bisherigen Lieblings-Fulci. Mit GATTO NERO habe ich einen seiner eher unbekannteren Filme gesehen: ein kleines Schmuckstück in Cinemascope (Fulci ist sowieso ein begnadeter Cinemascope-Regisseur!), voller faszinierender Closeups auf Patrick Magees Augen. Am komplexen period-Melodrama und -Politthriller BEATRICE CENCI muss ich mich gedanklich und emotional noch etwas abarbeiten – wiederholte Sichtungen dürften gerade hier besonders lohnenswert sein. Und nicht zuletzt dürfte LE PORTE DEL SILENZIO als semi-autobiografischer Todes-Film und letzter Film schwer zu toppen sein (Nicholas Rays LIGHTNING OVER WATER vielleicht abgesehen). Bei über 50 Regie-Credits habe ich zum Glück noch vieles von diesem traurigen Kinopoeten zu entdecken!



Giulio Questi
Seinen Debütfilm sah ich im Herbst 2013 und er ließ mich weitestgehend kalt. Was das für ein Fehler war, merkte ich bei der Sichtung seines ARCANA im Rahmen des Terza-Visione-Festivals. Es folgten eine radikal augenöffnende Neusichtung von SE SEI VIVO SPARA, dann die späten Digitalvideofilme, über die Manfred hier geschrieben hat und schließlich LA MORTE HA FATTO L‘UOVO. Das ist auch schon alles, was von einem der großen cinéastes maudits des europäischen Kinos auf die Schnelle gesichtet werden kann. Es sind keine einfachen Filme, aber wer sich auf sie einlässt, wird eine furiose Mischung aus radikaler Kapitalismus- und Faschismuskritik und visionärem Surrealismus entdecken.



Yoshida Yoshishige
Der Anlass zu meiner Entdeckung des japanischen nouvelle-vague-Regisseurs ist fürchterlich banal: ich fand die schöne französische DVD-Edition von EROSU PURASU GYAKUSATSU („Eros + Massacre“) im Internet zu einem unschlagbaren Preis. Nach der durchaus anspruchsvollen Sichtung des Dreieinhalbstunden-Epos über Vordenker des Anarchismus und der freien Liebe in den 1910er und 1920er Jahren und rebellische Jugend in den 1960er Jahren wollte ich mehr davon! Der Höhepunkt war sicherlich sein verschlungenes Dreifach-Frauen-Portrait KOKUHAKUTEKI JOYURON („Confessions Among Actresses“). Die „Nachfolgerfilme“ von EROSU PURASU GYAKUSATSU aus der sogenannten Trilogie des politischen Radikalismus RENGOKU EROICA („Heroic Purgatory“) und KAIGENREI („Coup d‘État“) haben mir weniger zugesagt – seine Nagasaki-Filme SARABA NATSU NO HIKARI („Farewell to the Summer Light“) sowie KAGAMI NO ONNATACHI („Women in the Mirror“) wiederum mehr, und sie scheinen mir auch für mehrfache Sichtungen prädestiniert. Eins bleibt aber immer gleich, nämlich diese ganz eigenartige Bildkadrage, die Figuren meist etwas an den Bildrand drängt und mit hervor ragenden Gegenständen im Vordergrund und den Formen von Gebäuden, Fenstern u. ä. extrem spannungsreiche, geometrische Bilder schafft. Ob in Cinemascope oder im Academy-Format, in Schwarzweiß oder in Farbe: Yoshidas Filme sind visuell immer verblüffend.


2017 – ein persönlicher Kanon der Erstsichtungen

Hier folgt nun meine Auswahl der allerbesten Filme, die ich dieses Jahr zum ersten Mal gesehen habe. 52 Stück: Wer auf die Idee kommt, alle Filme in diesem Jahr zu gucken, hätte also für jeden Film eine Woche Zeit.
Besonders gut vertreten ist dieses Jahr das Filmland Italien mit 11 Stück (10 Filme und 1 Nennung mit mehreren Kurzfilmen). Von diesen 11 sah ich wiederum 5 Stück beim Terza-Visione-Festival. Im Oktober und November bekam ich dann einen großen Schub an „Italien-Fieber“, unter anderem auch durch die Mario-Bava-Retrospektive bei arte begünstigt. Den Eingang im meine Liste haben einige Filme nur knapp verpasst, so etwa Lucio Fulcis GATTO NERO, Giulio Questis LA MORTE HA FATTO L'UOVO, Michele Soavis DELIRIA, Mario Bavas SHOCK und Raffaello Matarazzos LA NAVE DELLE DONNE MALEDETTE. 2017 war für mich ein sehr italienisches Jahr!


1 STARCI NA CHMELU (Ladyslav Rychman: ČSSR 1964)
Ein Film über jugendliche Hopfenpflücker, in dem kein einziges Bier getrunken wird, kann so toll sein? Ja! STARCI NA CHMELU ist ein puristisches Musical, eine einzige große Choreografie von Körpern, Bewegungen und Musik – und dabei ein auch ein wunderbares Plädoyer für die Jugend und gegen Spießertum und Konformismus. Mehr zu diesem tollen Cinemascope-Wunderwerk von mir gibt es hier zu lesen.

2 DIE WEIBCHEN (Zbyněk Brynych: Bundesrepublik Deutschland / Frankreich / Italien 1970)
...und satt machst nur Du!
Ein Film, den ich im April vor den Toren der Wiesbadener Casino-Gesellschaft angeteasert bekam und der tatsächlich noch viel großartiger wurde. Eine schwarze Komödie über eine Gruppe von Sanatoriumspatientinnen, die Männer verführen, dann ermorden, aufessen und/oder zu Katzenfutter verarbeiten und dabei eine absolute Riesengaudi haben, während Uschi Glas mit Wuschikopf und großen Augen hilflos zugucken muss, Peter Thomas‘ Soundtrack die Trommelfelle genüsslich zerfetzt und Charly Steinbergers grandiose Kamera in 360-Grad-Schwenks und irren Zooms das Treiben festhält.
Danke an Bildstörung für die mustergültige DVD-Edition des Films. Die enthaltene Alternativfassung, wahrscheinlich eine Ur- bzw. Vorpremieren-Fassung, zeigt, dass es manchmal sinnvoll ist, wenn Filmemacher noch einmal dazu verdonnert werden, ihre Filme zu kürzen: die Ur-Fassung ist ein guter Film, aber mit seinem elliptischeren Schnitt, seiner fetzigeren Ton-Montage und seinem erweiterten Score ist erst die Kinofassung (trotz weniger Splatter) der absolute Wahnsinn. Jedenfalls: Leser, die die Bildstörung-Edition von DIE WEIBCHEN noch nicht ihr Eigen nennen, sollten das schnellstens nachholen.

3 POSLEDNATA DUMA (Binka Željazkova: Bulgarien 1973)
Wenn Jean-Luc Godard, Dario Argento und Jess Franco gemeinsam einen Frauenknastfilm träumen würden – er wäre bestimmt nicht von einer solch wilden Schönheit wie Binka Željazkovas Meisterwerk. Mehr von mir zu diesem fantastischen Film gibt es hier zu lesen.


4 TRET‘JA MEŠČANSKAJA (Abram Room: UdSSR 1927)
Stalin hängt zwar schon an der Wand der kleinen Wohnung in der „Dritten Kleinbürgerstraße“, doch durch diese Dreier-Liebesgeschichte wehen kein revolutionärer Pathos und kein realsozialistischer Mief, sondern der Wind purer Lebensfreude, der Lärm vom regen Leben in den Straßen Moskaus und der Geruch eines leckeren Tees mit Marmelade. Mehr zu diesem Film gibt es hoffentlich demnächst von mir in diesem Blog zu lesen.

5 NON SI SEVIZIA UN PAPERINO (Lucio Fulci: Italien 1972)
Fulcis Ausnahme-Giallo ist bildgewordene Trauer. Stell dir vor, kleine Kinder werden in einem Dorf ermordet, und es gibt nichts, was man dagegen tun kann, weil die allmächtige katholische Kirche das Heil nicht für das Diesseits verkündet, die „besorgten Bürger“ des Ortes lieber irgendwelche Außenseiter lynchen als an ihrem Lebensalltag etwas zu ändern und die beiden einzigen, die den Fall lösen wollen, ein schmieriger Boulevard-Reporter und eine pädophile Jet-Set-Erbin auf Drogenentzug sind. Das Ende aller Menschlichtkeit hat Fulci wohl selbst in seinen apokalyptischen Splatterfilmen der frühen 1980er Jahre nicht so gut verbildlicht wie hier bei der Ermordung von Florinda Bolkans Maciara.


6 FRENCH CANCAN (Jean Renoir: Frankreich / Italien 1955)
Kann man FRENCH CANCAN vielleicht als eine optimistische Antwort Renoirs auf Powells und Pressburgers pessimistischen THE RED SHOES sehen? Wo in letzterem die erschaffene Kunst schließlich die Künstler lebendig auffrisst, können bei Renoir beides in Koexistenz bestehen. Das ist eine andere Weltsicht, eine andere Art, Filme zu machen. FRENCH CANCAN bietet viel Platz für beides: für das Spektakel, für das Leben und für die Lust an beidem. Die finale Darbietung von „La complainte de la butte“ und die Dialoge zwischen dem Direktor und dem Gerichtsvollzieher, der so überhaupt keine Lust auf Gerichtsvollzug hat, sondern lieber über Kunst spricht und griechische Chöre singt, gehören zusammen.

7 IL TUO VIZIO È UNA STANZA CHIUSA E SOLO IO NE HO LA CHIAVE (Sergio Martino: Italien 1972)
Die Erstsichtung war milde enttäuschend, in meiner nervlichen Überstrapazierung und Müdigkeit wollte ich nur einen Giallo mit viel Gemetzel und nackter Haut  sehen – das gibt IL TUO VIZIO È UNA STANZA CHIUSA E SOLO IO NE HO LA CHIAVE natürlich nicht her (also zumindest nicht so geballt). Die Zweitsichtung offenbarte schließlich das, was Hans Schmid als „purpurn schillerndes Schmuckstück der Dekadenz“ als „Josef von Sternberg im Giallo-Format“, als „kompromisslose Studie über das Böse und die Morbidität“ bezeichnete, in der praktisch jede Figur Opfer und Täter zugleich ist (hier der zweite Teil von Hans Schmids wunderbarem Text über Sergio Martinos fünf Gialli, in dem er über IL TUO VIZIO È UNA STANZA CHIUSA E SOLO IO NE HO LA CHIAVE spricht). Was kann man allerdings mit Luigi Pistilli, Edwige Fenech, Anita Strindberg und Ivan Rassimov in einem einzigen Film versammelt auch groß falsch machen? Wenn eine schwarze Katze stets alles gut im Blick behält: gar nichts!


8 LA MAMAN ET LA PUTAIN (Jean Eustache: Frankreich 1973)
Dreieinhalb Stunden lang in körnigem 16mm-Schwarzweiß Jean-Pierre Léaud beim Reden zuzuhören (auch bei Dialogen spricht seine Figur stets so, als wäre es gerade ein Monolog) – wer hätte gedacht, dass das so faszinierend sein kann?

9 LA NOTTE DEI SERPENTI (Giulio Petroni: Italien 1969)
Den Western aus purer Melancholie heraus neu erfinden. Den Westernhelden aus einem kleinen und dauerverkaterten Häufchen Elend neu erschaffen. Mehr zu diesem leider eher unbekannten Italo-Western gibt es von mir hier zu lesen.
(Italienische Forscher haben kürzlich herausgefunden, dass jeder Film, in dem Luigi Pistilli mitspielt, automatisch immer um 54 % besser ausfällt als ohne ihn – nur, wenn Pistilli einen Bösen spielt, dann steigt die Zahl auf 87 %... Nein, das ist gerade von mir erfundene „fake news“, aber Hand auf‘s Herz: se non è vero, è ben trovato – und ein bisschen stimmt es ja schon.)

10 ROLF (Mario Siciliano: Italien 1984)
Ein Endpunkt-Film über männliche Gewaltfantasien im Gewand eines Söldner-Rache-Actionfilms voller christlicher Märtyrer-Ikonographie. Mehr dazu von mir lest ihr hier.

11 DER KOMMISSAR: DER PAPIERBLUMENMÖRDER (Zbyněk Brynych: Bundesrepublik Deutschland 1970)
Die vier Episoden für DER KOMMISSAR, die Zbyněk Brynych drehte, sind alle zumindest auf die eine oder andere Weise interessant, könnten vielleicht gar als Gesamtkunstwerk bezeichnet werden. In DER PAPIERBLUMENMÖRDER wird die Sau allerdings wirklich komplett rausgelassen. Die giallo-eske POV-Eröffnung, die Befragung in der Hippie-Kneipe, wo die psychedelische Beleuchtung, die Musik, die extremen Nahaufnahmen den Plot gierig an den Rand drängen, der poetische Aufstieg Kleins und der jungen Frau aus der U-Bahn. Und wie die Musik erzählerisch eingesetzt wird. So etwas lief einmal „nur“ im Fernsehen!


12 UNA LUCERTOLA CON LA PELLE DI DONNA (Lucio Fulci: Italien / Frankreich / Spanien 1971)
Mein persönlicher Fulci-Durchbruchsfilm: wer solche Bretter dreht, kann nur ein Guter sein! Hier gibt es weniger Trauer als in manch anderem seiner Filme, aber dafür umso mehr pure visuelle Erzählkunst. Mehr dazu von mir gibt es hier zu lesen (ja, der gleiche Link wie für ROLF und LA NOTTE DEI SERPENTI – das Terza-Visione-Festival war eben so verdammt gut!)

13 MAÎTRESSE (Barbet Schroeder: Frankreich 1975)
Vollkommen nüchtern erzählt Schroeder von der Liebesbeziehung zwischen einer Domina (Bulle Ogier – göttlich) und einem Herumstreuner (Gérard Depardieu – ausgezeichnet) und von ihrem Arbeitsalltag. Dabei findet er genau die richtige Distanz zu dem Geschehen: nicht zu weit weg, um kalt zu werden, nicht zu nah, um sensationalistisch zu wirken.

14 HAUT BAS FRAGILE (Jacques Rivette: Frankreich / Schweiz 1995)
Rivettes Version eines Musicals, inspiriert vom 1950er-Jahre-MGM-Musical. Für Tanz- und Sing-Einlagen gibt es genau so viel Platz wie für einen kurzen, paranoiden Verschwörungs-Subplot oder für eine Figur, die neben den zwei Protagonistinnen auch ihr Leben leben darf.


15 COSMOS (Andrzej Żuławski: Frankreich / Portugal 2015)
Zwei Studenten mieten sich bei einer reichen Familie zum Semesterurlaub ein. Vögel werden daraufhin erhängt aufgefunden und weitere merkwürdige Sachen passieren. Das große Ereignis in Żuławskis surrealistischem letztem Film ist (wieder einmal) die bilderstürmerische Kraft, mit der das ganze dann von sich geht. COSMOS ergibt (für mich) weniger Sinn als POSSESSION, vielleicht sollte man Witold Gombrowicz‘ Romanvorlage kennen, aber in seiner schieren Intensität steht er Żuławskis Über-Meisterwerk nur wenig nach.

16 BEAU TRAVAIL (Claire Denis: Frankreich 1999)
Ein postkoloniales Bildgedicht aus gestählten Körpern, der sich nach und nach in eine fürchterliche Rachegeschichte entwickelt. Ich hoffe sehr, dass Terrence Malick (dessen Filme der 2010er Jahre zumindest visuell ähnlichen Mustern folgen wie Denis‘) sich ab und zu in den Schlaf weint bei dem Gedanken, dass seine Filme nie so schön sein werden wie BEAU TRAVAIL.

17 MARTIN (George A. Romero: USA 1978)
Suburbia-Tristesse, ein fanatisch-religiöser Großvater, der unstillbare Durst nach Blut – es ist schwer, ein Teenager zu sein. Drei Jahre später hätte Martin vorzüglich in die Truppe von Billys „Knightriders“ gepasst, aber es sollte nicht... Ja, ausserhalb der Zombie-Epen könnte man MARTIN tatsächlich als Vorgänger von KNIGHTRIDERS sehen.

18 ARCANA (Giulio Questi: Italien 1972)
Suburbia-Tristesse und Teenager-Nöte nicht nur in Pittsburgh, sondern auch in Mailand... Mehr zu diesem nahezu unklassifizierbaren Film (urbaner Hexen-und-Zauberer-Film, Coming of Age, reiner Surrealismus) gibt es von mir hier zu lesen.

19 THE TEXAS CHAINSAW MASSACRE (Tobe Hooper: USA 1974)
Am traurigsten ist natürlich, dass es Tobe Hoopers Tod brauchte, um diesen Klassiker auf meiner to-see-Liste nach oben zu katapultieren. Diese faszinierende Mischung aus Amateur-Ästhetik (der dreckige 16mm-Look, die mäßigen Darsteller), Avantgarde (der bizarre, kakophonische Score) und einer fast archaischen Ur-Kraft (als würden wir Bilder einer längst vergangenen Zivilisation sehen) hat nach spätestens einem Viertel des Films angefangen, bei mir einzuschlagen.

20 RESIDENT EVIL: RETRIBUTION (Paul W. S. Anderson: Deutschland / Kanada / USA / Frankreich 2012)
Der Anfang ist natürlich ein Filmbeginn für die Ewigkeit: eine Action-Sequenz, in extremer Zeitlupe rückwärts abgespielt. Eine Augenweide, die natürlich auch vorwarnt, dass Chronologie und normale Zeit-Raum-Kontinuität gleich egal sein werden. Für den fünften Teil eines Film-Franchise ist es dann ein happiges Stück: ein puristisches, vollkommen plot-befreites Action-Ballett, in dem Figuren, die teilweise nur Klons sind, durch völlig simulierte Umgebungen kämpfen und dabei auf erbitterte Gegner treffen, die kurz vorher noch als Verbündete zu sehen waren (und auch umgekehrt). Die schöne „Oberfläche“ ist aber nicht alles: zwischendurch findet, wie in den meisten Anderson-Filmen, das Menschliche seinen Weg. Und nur weil ein kleines Mädchen „nur“ eine Kopie ist, und ihre Erinnerungen an ihre (falsche) Mutter implantiert sind, gibt es keinen Grund, sie nicht zu retten.


21 BREEZY (Clint Eastwood: USA 1973)
Eastwoods erste Regiearbeit, in der er selbst nicht mitspielte (von einem Mini-Cameo abgesehen) ist zugleich auch die optimistische (man könnte sagen: liberale) Version seines Debüts PLAY MISTY FOR ME: die Begegnung zwischen einem Hippie-Mädchen und einem gesetzten Immobilienmakler in seinen Fünfzigern. Was sich als Stalking entpuppen könnte, entwickelt sich zu einer rührenden Liebesgeschichte – von Eastwood gewohnt nüchtern erzählt.

22 FIRST BLOOD (Ted Kotcheff: USA 1982)
Auf eine gewisse Weise könnte man FIRST BLOOD auch als eine Art Folgefilm zu WAKE IN FRIGHT sehen, als seine Spiegelung: der Außenseiter Rambo kriegt in dem Redneck-Städtchen keine kühlen Biere spendiert, sondern saftige Tritte in den Arsch. Seine Reaktion darauf ist aber auch eine Art Reise ins eigene Unterbewusstsein, deren Gewalt allerdings nicht nach innen (wie John Grants Selbstzerstörungstrip), sondern nach außen gerichtet ist. Und da ist natürlich noch Vietnam, aber dazu haben andere Kollegen schon viel Lesenswertes geschrieben.
(im Grunde war dies meine anderthalbte Sichtung: längere Passagen dieses Films hatte ich als Schuljunge bei einem Samstagabend-Zapping geschaut)

23 MISSING IN ACTION (Joseph Zito: USA 1984)
An einer Stelle ist Braddock bei einer Schau-Anhörung, wo offensichtlich unter Druck gesetzte vietnamesische Zeugen aussagen. Braddock läuft an ihnen vorbei, schaut in ihre beschämten Gesichter, wirft ihnen einen Blick zu, der ganz klar sagt „Ich verstehe schon: ihr seid bedrängt worden, falsch auszusagen. Ihr seid wie ich, ein Opfer von denen da oben, die alles verdrehen!“. Für einen angeblichen darstellerischen Nichts-Könner wie Chuck Norris ist das meiner Meinung nach eine ganze Menge in nur einem Blick. MISSING IN ACTION ist voll mit solchen kleinen Momenten. Man siehe zum Beispiel nur, wie Thailand plötzlich im Vergleich zum puritanisch-tristen Vietnam als eine Art fröhliche Hölle des Lasters präsentiert wird.

24 TEPEPA (Giulio Petroni: Italien / Spanien 1969)
oder: der Arzt, der Sozialbandit und die alles verschlingende Revolution! Die Schlussfolgerung von TEPEPA ist natürlich absolut niederschmetternd: Idealisten sind eben auch nur Menschen im schlimmsten Sinne, also Verräter, Mörder, Vergewaltiger, Intriganten, kalte Befehlsausführer. Ein wunderbarer Revolutions-Western gekoppelt mit einem Rache-Drama.


25 SECRET DÉFENSE (Jacques Rivette: Frankreich 1998)
Das erste Viertel (also die ersten 45 Minuten) mögen etwas die Geduld strapazieren, doch dann bricht Sandrine Bonnaire wild entschlossen auf, um im Namen ihres Bruders einen Mann zu ermorden. Die lange Zugreise, auf der ihre Entschlossenheit zwischendurch von Unwohlsein und Übelkeit im Angesicht ihrer geplanten Tat gebrochen wird, ist ein visuelles Wunderwerk, gestützt von einer fabelhaften Darstellerin. Das ganze mündet in Rivettes Version eines Hitchcock-Thrillers (ein bisschen STRANGERS ON A TRAIN, ein bisschen VERTIGO), mit versehentlichen Morden und unheilvollen, durch gegenseitiges Wissen geschmiedete Allianzen.

26 E DIO DISSE A CAINO... (Antonio Margheriti: Italien / Bundesrepublik Deutschland 1970)
...ist nicht ganz der mystische Western bzw. Horror-Gothic-Western, als der er gelegentlich bezeichnet wird, toll ist er trotzdem: Klaus Kinski, frisch begnadigt nach Jahren Zwangsarbeit trotz Unschuld, reist zu den Leuten, die für seine Inhaftierung verantwortlich waren, um sich zu rächen. So simpel ist das. Margheriti erzählt das ganze in ausgesucht schönen Cinemascope-Bildern, in Quasi-Echtzeit (die Handlung dauert vielleicht knapp 12 Stunden) und seine Erfahrungen als Horror-Regisseur kommen ihm bei den dunklen, nebligen Nachtszenen zugute.

27 Ausgewählte „walking movies“ von Alan Clarke für die BBC (UK 1977-1989)
Laufen als erzählerisches Mittel... SCUM (die Kinofassung) faszinierte mich 2014 durch seine politische Haltung, sein Bewusstsein für die Nuancen von struktureller (staatlicher) und affektiver (individueller) Gewalt und ihre Beziehung und durch seine kompromisslose Härte, die für Naivität keinen, für einen humanistischen Standpunkt hingegen viel Platz lässt. Genau das zeichnet, mit kleinen Variationen, alle Filme Alan Clarkes aus. Die Ur-Fassung des Knastfilms SCUM, den die BBC jahrelang in den Giftschrank sperrte, ist tatsächlich noch härter, radikaler und konzentrierter als die Kinofassung und gefiel mir besser (nicht zuletzt durch David Threlfalls großartiger Darstellung Archers). Ganz und gar Tim Roths Film (und sein erster!) ist MADE IN BRITAIN, der in sehr schnellen Schritten einem Neonazi-Teenager folgt und protestierendes, erruptives Gewaltpotential in einem eigentlich normalen jungen Mann ansiedelt. THE FIRM bringt Gewalt in die schönen Yuppie-Vorgärten der Thatcher-Ära: kein Bild könnte männliche Selbstüberschätzung besser und furchtbarer darstellen, als das kleine Kind, das mit dem nachlässig herumliegenden Kampf-Cutter seines Vaters spielt (und ihn in den Mund nimmt). ROAD hingegen zeigt, wie die Arbeiterjugend nach der atomaren Apokalypse so den Freitagabend verbringen würde – zumindest sieht der gezeigte, völlig marode Vorort ein wenig nach Post-Apokalypse aus. Hier wird schon ganz schön viel gelaufen. Und Alan Clarkes radikalster, im Grunde letzter Film, sein bis zum Skelett reduzierter „walking movie“, ist dann ELEPHANT: laufen, töten; laufen, töten; laufen, töten; laufen, töten; laufen, töten...

28 HRA O JABLKO (Věra Chytilová: ČSSR 1977)
Eine Screwball-Komödie mit viel Screw und fingergespießten Tomaten als „balls“, gedreht durch den Fleischwolf der Tschechoslowakischen Neuen Welle und mit wenig Budget, absolut keinem Respekt für Autorität oder das Respektable, dafür aber mit sehr mobiler Handkamera gedreht. Mehr zu Chytilovás Version einer Krankenhaus-Erotikkomödie gibt es von mir hier zu lesen.

29 IL PROFUMO DELLA SIGNORA IN NERO (Francesco Barilli: Italien 1974)
Dem klaustrophobischen Horror-Thriller à la Polanski, besonders REPULSION und (dem natürlich späteren) LE LOCATAIRE, ist IL PROFUMO DELLA SIGNORA IN NERO näher als dem handelsüblichen Giallo. Wie Polanski dreht auch Barilli die Schraube des Grauens  langsam an: vom leichten Unbehagen zu den ersten alarmierenden Zeichen bis schließlich zum puren Terror.


30 AKIBIYORI (Ozu Yasujiro: Japan 1960)
Ozu hat hier, wenn man so will, den ultimativen Horrorfilm über sozialen Konfirmitätsdruck gedreht: alle in AKIBIYORI wollen, dass die Unverheirateten unverzüglich heiraten, weil es eben so gemacht wird und es sich so eben gehört. Und die schlimmsten Monster sind die eigenen Verwandten, die am meisten drängen und drücken und dabei auch noch stets freundlich lächeln und es ernsthaft gut meinen! Natürlich ist „Spätherbst“ auch ein „leichte“ Familienkomödie, mit viel Alkohol und herrlichen Missverständnissen, die in einer ähnlich gelagerten Hollywood-Komödie aus dieser Zeit gar nicht so deplatziert wären. Und eine Ode an die wunderbare Hara Setsuko, die ebenso wie Ozu im richtigen Leben niemals heiratete.

31 KOKUHAKUTEKI JOYURON (Yoshida Yoshishige: Japan 1971)
Drei Schauspielerinnen erinnern sich: an ihre schwierige Teenager-Zeit, an ihre nervenaufreibenden Ehen, an die Hindernisse in ihren Karrieren. „Confessions Among Actresses“ ist ein verschachteltes Farb-Puzzle aus kleinen, nebeneinander, nacheinander, ineinander erzählten Episoden.

32 THE HOME-MADE CAR (James Hill: UK 1963)
Wie baue ich mir selbst meinen eigenen Oldtimer? James Hill gibt hier in klaren Bildern und ohne ein einziges Wort die Antwort. Mehr zu diesem Kurzfilm gibt es von mir hier zu lesen.

33 DIE LIEBE DER JEANNE NEY (Georg Wilhelm Pabst: Deutschland 1927)
Je mehr Stummfilme der 1920er Jahre ich sehe, umso mehr bin ich davon überzeugt, dass man in dieser Zeit mit Film schon wirklich ALLES tun konnte, wenn man nur wollte – und Pabst wollte! Schwindelerregende Montagen, völlig entfesselte Handkameraszenen, Regen, Nebel und schließlich Schatten, dass es eine reine Freude ist, ein absolut sicherer Erzählfluss, zu wenigen Bildern verdichtete Emotionen – totales Kino. Man siehe nur die Szene, in der Rasp die Hand der blinden Brigitte Helm hält, während er mit der anderen Hand und seinem ganzen Körper Édith Jéhanne sexuell bedrängt – Nicht-Sehen, Fühlen, Greifen, Grapschen, Vertrauen und Perfidie in einem Bild. Der Bonus des Ganzen: ein erstklassiger Fritz Rasp, der vielleicht noch nie so herrlich schmierig und wunderschön hassenswert war!

34 ASPHALT (Joe May: Deutschland 1929)
Vielleicht der erste und mustergültige film noir: rechtschaffener Mann wird von gefallener Frau verführt und tötet deren Zuhälter. Wie DIE LIEBE DER JEANNE NEY ist auch ASPHALT ein krönendes Meisterwerk des frühen Kinos und eine Feier dessen Möglichkeiten.

35 DIE SÜNDERIN (Willi Forst: Bundesrepublik Deutschland 1951)
Sublime Exploitation. Da dieser Film eigentlich zum „Kanon“ gehört, hätte ich niemals eine solche Wucht, ein solch lustvolles Tabubrechen, ein derart hemmungsloses Schwelgen in schwüler Melodramatik erwartet. Ganz groß!

36 PHENOMENA (Dario Argento: Italien 1985)
Ganz groß oder zumindest viel größer als unmittelbar bei und nach der Sichtung im Rahmen des Terza Visione ist nun auch Argentos Coming-of-Age-Giallo in meinem Herzen geworden. Wie Argento einfach mal nebenbei Schulmobbing visualisiert (und nicht „thematisiert“) dürfte meiner Meinung nach vielleicht ein Totschlag-Argument für seine große Meisterschaft sein (ohne die gewaltigen Bilderwelten von SUSPIRIA oder PROFONDO ROSSO damit mindern zu wollen). Mehr dazu von mir hier zu lesen.

37 REAZIONE A CATENA (Mario Bava: Italien 1971)
Öko-Thriller, antikapitalistische schwarze Komödie, Slasherfilm-Blaupause – und vielleicht Bavas erster „nicht-unschuldiger“ Film (auch wenn 5 BAMBOLE PER LA LUNA D‘AGOSTO quasi eine Vorstudie dazu war)? REAZIONE A CATENA ist bei der Erstsichtung zunächst unfassbar abstrakt, weil alles, was man Exposition nennen könnte, in den letzten Drittel abgeschoben wird. Hans Schmids Hinweis, dass die Struktur sich an Ophüls‘ Episodenfilm LA RONDE orientiert, ist für die nächste Sichtung bestimmt eine gute Orientierung.

38 Die späten digitalen Videofilme von Giulio Questi (Italien 2002-2006)
Giulio Questi erfindet zuhause in seiner Wohnung mit einer billigen Digitalkamera das Kino neu und wenn er gerade dabei ist noch alle möglichen Genres und Stile (Giallo, Doppelgänger-, Paranoia- und Polit-Thriller, Splatterfilm, Mystery, Fantasy, Ehe-Melodrama, Gothic Horror, Vergangenheitsbewältigungs-Drama). Auch wenn mir LETTERA DA SALAMANCA und VISITORS wohl am besten gefallen haben, so sollte man Questis letzte Filme vielleicht auch als Gesamtkunstwerk sehen. Mehr zu ihnen schrieb Manfred hier.

39 IN THE CUT (Jane Campion: UK / Australien / USA 2003)
In der ersten halben Stunde von IN THE CUT habe ich mich manchmal gefragt, ob Campion die Zuschauer verarschen möchte: verschwommene, „impressionistische“ Bilder, als würde ein Filmstudent versuchen, Tony Scott zu „out-Tony-Scott‘en“, dazu eine Räuberpistole um einen Serienmörder, die ziemlich schlampig erzählt schien... Doch die verschwommenen Bilder gewannen irgendwann eine klare Sinnlichkeit und die Charaktere wuchsen langsam zu etwas, dem die Serienmorde eine Fallhöhe verliehen. Schließlich dämmerte mir, dass ich gerade einen großen New-York-Sleaze-Neo-noir sah.

40 A MATTER OF LIFE AND DEATH (Michael Powell, Emeric Pressburger: UK 1946)
Wie viele Filme haben mich bisher schon in den ersten zehn Minuten beinahe weinen lassen, mich emotional fast zum Kollaps gebracht? Kennenlernen, Annäherung, Verlieben und Trennung durch Tod: Wofür andere Leute einen kompletten Film drehen, verhandeln Powell und Pressburger gleich zu Beginn in nur einigen wenigen Minuten. Der Rest von A MATTER OF LIFE AND DEATH ist natürlich auch toll.


41 NOWHERE TO RUN (Robert Harmon: USA 1993)
SHANE (der mir ehrlich gesagt nicht so zugesagt hat) – neu erzählt mit Jean-Claude Van Damme. Der Film ist tatsächlich ein sehr merkwürdiger Hybrid aus Actionfilm, Romanze, Neo-Western und ambitioniertem Drama, mit leicht deplatzierten One-Linern und etwas irritierenden Humor-Eruptionen. Deswegen war wohl keiner der Beteiligten zufrieden damit – mir hingegen gefällt es, wie sich diese eigentlich unvereinbaren Elemente aneinander reiben.

42 SÁTÁNTANGÓ (Tárr Béla: Ungarn / Deutschland / Schweiz 1994)
Der Zerfall eines tristen Dorfes mitten in der ungarischen Pampa, wahrscheinlich aber auch die Apokalypse, in faszinierenden, irritierenden, wunderschönen, qualvollen, irritierenden, aufreibenden und kurzweiligen sieben Stunden. Ich brauchte danach einen langen Spaziergang, um diesen Film zu verdauen (und natürlich um meine Beine nach dem langen, langen Sitzen wieder zu bewegen).

43 COHERENCE (James Ward Byrkit: USA / UK 2013)
Noch mehr Apokalypse: stell dir vor, die Welt ist untergegangen und besteht nur noch aus Versionen deiner selbst und deiner Partygenossen aus einem Paralleluniversum, die in genau demselben Haus Hundert Meter weiter wohnen. Mit welch geringen Mitteln (im Grunde ein No-Budget-Film), welcher Ernsthaftigkeit und welcher Konsequenz das durchgezogen wird, ist schier bemerkenswert.

44 UNDER THE SKIN (Jonathan Glazer: UK / USA / Schweiz 2013)
À propos leicht avantgardistische Science-Fiction-Filme aus dem Jahr 2013... Das Konzept der geheimen Alien-Invasion wird in UNDER THE SKIN nicht als Thriller, nicht als Eventmovie-Spektakel, sondern in langsamen, entschleunigten, meditativen Bildern exerziert.

45 L‘APOLLONIDE: SOUVENIRS DE LA MAISON CLOSE (Bertrand Bonello: Frankreich 2011)
oder: aus dem Arbeitsalltag Pariser Huren fin de siècle... Etwa in der Hälfte des Films gibt es einen Ausflug ins Grüne. Ganz unwillkürlich musste ich an die zweite Episode von Ophüls‘ LE PLAISIR denken. Vor allem aber sieht man hier zum ersten Mal und letzten Mal Natur, freien Himmel, Sonne.

46 EATEN ALIVE (Tobe Hooper: USA 1976)
Ich finde es persönlich fürchterlich, wenn Leute bei der Arbeit laut Radio hören. Der Musikgeschmack ist natürlich oft ein Problem, aber wie können die Leute denn eigentlich arbeiten, wenn ständig irgendetwas laut plärrt, im Zweifelsfall ein halbhysterischer Moderator oder ein völlig umnachteter Werbe-Jingle – und sich gegebenenfalls mit Arbeitskollegen über Problemlösungen unterhalten? Was hat das zu tun mit diesem Film um einen Serienkiller, der in seinem Gartenteich einen Krokodil hält und diesen mit seinen Opfern füttert? Während in seinem Haus der Wahnsinn zunehmend ausbricht (Frau im ersten Stock gefesselt, heimlich vögelndes Pärchen im Erdgeschoss, flüchtendes Mädchen unter den Stelzen, rumorendes Tier im Teich), dudelt die ganze Zeit Hillbilly-Musik aus dem Radio. Ja, diese kranke, gestörte Atmosphäre von provinziellem Hillbilly-Landhausverfall – das kann Tobe Hooper vorzüglich. Aber das I-Tüpfelchen: das ist das dauerplärrende Radio!

47 DEAD RINGERS (David Cronenberg: Kanada / USA 1988)
Cronenberg sagte in einem Interview einmal, alle seine Filme seien im Grunde Komödien. DEAD RINGERS ist tatsächlich, wenn man so will, eine Screwball-Komödie über zwei Zwillingsbrüder, die sich alles teilen und schließlich der gleichen Frau den Hof machen. Dabei geht es drunter und drüber, und als die Frau dann weg ist, ziehen sich die Brüder zurück, um Doktor zu spielen. Ein perverses, verstörendes, unheimliches Vergnügen – mit sehr viel Humor der gleichen Art.

48 ARSENAL (Aleksandr Dovženko: UdSSR 1929)
Was bei ARSENAL stark auffällt, ist seine merkwürdige, exzentrische Erzählweise. Dovženko hintergeht hier wirklich alles, was man als konventionelles Erzählen bezeichnen kann: kleine, fast abstrakte Episoden, die scheinbar ohne schlüssige Logik aneinander gereiht werden... Von der titelgebenden Arsenal-Revolte in Kiev sieht man nur Bruchstücke. ARSENAL scheint mir Vertovs experimentellen ČELOVEK S KINOAPPARATOM näher zu sein als Eisensteins Revolutionsepen.


49 THE LEGEND OF LYLAH CLARE (Robert Aldrich: USA 1968)
Es hat keinen Spaß gemacht, diesen Film zu sehen. Unter den nunmehr 20 Filmen Robert Aldrichs, die ich kenne, würde ich THE LEGEND OF LYLAH CLARE vielleicht sogar als seinen schwierigsten bezeichnen. Der Film ist chronologisch und weitestgehend übersichtlich erzählt, aber irgendwie scheint doch alles komplett auseinander zu fallen und nicht richtig zu passen – und nicht nur die Hauptfigur, die zwischendurch wie in Trance zu Lylah Clare „wird“ und ihre Umwelt mit wüsten deutschen Beschimpfungen („Drecksau“ – O-Ton) anspuckt, oder zwischendurch völlig unmotiviert oben herum nur mit BH zu einem Arbeitsgespräch geht. Dann noch diese völlig halluzinatorischen Rückblenden. Diese morbide Atmosphäre: alles scheint vom Geist der toten Lylah „infiziert“ zu sein. Bis hin zu diesem fast apokalyptischen Ende mit den Werbehunden, die alsbald jeden und alles in kleine Stücke zerfleischen werden (Jean-Luc Godard dürfte bei der Sichtung spätestens hier die Sonnenbrille von der Nase gefallen sein).
Den Rest des Abends, und die erste Hälfte des nächsten Tages fühlte ich mich vollkommen ausgelaugt, total leer, geradezu gelähmt von diesem Film. Kein angenehmes Gefühl, aber so absolut unmittelbar körperlich hat kein Film dieses Jahr auf mich gewirkt.

50 MOONFLEET (Fritz Lang: USA 1955)
Für Begräbnisse und Schlangen... von wegen! Lang meistert das Cinemascope-Format wunderbar und verwandelt eine simple Räuberpistole mit Räubern und Pistolen in ein visuelles Fest.

51 LUNCH HOUR (James Hill: UK 1961)
Der kleine unterschlagene Film der British New Wave: ein potentielles Schäferstündchen in einem Stundenhotel wird von der jungen Frau in eine hemmungslose Konfrontation mit den Lügengebilden ihres (verheirateten) Liebhabers umgemünzt – bis schließlich die Lügen zu einer eigenständigen Geschichte werden. Ob Abbas Kiarostami LUNCH HOUR in Vorbereitung zu seinem COPIE CONFORME sah?

52 SMASHING TIME (Desmond Davis: UK 1967)
Manfred schrieb Ende März 2017 über die Verfilmung von Edna O‘Briens Roman The Lonely Girl aka Girl with Green Eyes durch Desmond Davis. Auf eine gewisse Weise könnte man SMASHING TIME als das Sequel interpretieren: die Mädchen sind der irischen Landtristesse entkommen und im Swinging London angekommen, wo freundliche Hippie-Boutiquen, wilde Tortenschlachten, aufdringliche Kussroboter (!) und interessante Ketchup-Spülmittel-Verwechslungen auf sie warten.


Negativ-Film des Jahres / ultimatives Zeitdokument anno 2017

SVEZIA INFERNO E PARADISO (Luigi Scattini: Italien 1968)
Über diesen Mondo-Film schrieb ich bereits ausführlich in meinem Bericht zum Terza Visione.
Monate später nun... Nazis... Verzeihung... Vertreter des „besorgten Bürgertums“ sind in massiver Zahl in den Bundestag und in weitere eine Ländervertretung eingezogen. Und mittlerweile ist mir vielleicht noch klarer geworden, was mich an SVEZIA INFERNO E PARADISO so sehr abstößt: Es ist diese absolute Selbstverständlichkeit, gekoppelt mit einer großen Portion von Unschuld, mit der im Film die noch so größten Scheußlichkeiten ausgesprochen werden. So auch in Deutschland anno 2017: Menschen werden wieder in völliger Unschuld mit allen möglichen Begriffen und Beschimpfungen bezeichnet, die noch vor 10 Jahren zurecht als etwas galten, was man nur beim NPD-Stammtisch aussprach, und sobald diese Worte in völliger Unschuld ausgesprochen worden sind, folgen die abstrusesten und hirnrissigsten Behauptungen, paranoiden Fantasien, Verschwörungstheorien, die man sich nur vorstellen kann – mit absoluter Selbstverständlichkeit, als wären diese Aussprüche so natürlich wie das Atmen. Purer, unbändiger, unverstellter Hass, ausgedrückt mit einem freundlich-unschuldigen Lächeln. (Diese „neue Unschuld“ in Sachen Rassismus ist sicherlich in der ostdeutschen Provinz, und in dieser verbringe ich einen Großteil meines Alltags, wesentlich spürbarer als in westdeutschen Metropolen). SVEZIA INFERNO E PARADISO wirkt für mich mehr und mehr wie ein prophetisches Zeitdokument, mit dem eine deutsche und europäische Wirklichkeit anno 2017 ein halbes Jahrhundert vorher skizziert wurde. Wie eingefroren, in rotstichigen Bildern feiernder, arbeitender oder auch unglücklicher und leidender Menschen, die mit Häme übergossen werden.


Wiedersehen macht Freude 2017

Dieses Jahr habe ich anteilmäßig wieder mehr Filme geschaut, die ich bereits kenne. Einige Wiedersichtungen waren alles andere als erhebend und sogar sehr enttäuschend. Drei Filme habe ich allerdings mit völlig neuen Augen und großem Enthusiasmus wieder entdeckt.


THE MAN WHO SHOT LIBERTY VALANCE (John Ford: USA 1962)
Als Schuljunge hat mich John Fords Klassiker schwer gelangweilt: wenig Action, viel Gerede, mehr von dem Normalo James Stewart als von dem charismatischen John Wayne... Die Meistererzählung des großen Frontier-Mythos in diesem Film und zugleich ihre präzise, analytische Dekonstruktuion, hat mich nun über ein Jahrzehnt, mehrere Seminare über politische Theorie und Kultur der USA, viele Ford-Filme und viel Lektüre über Ford im Allgemeinen und diesen Film im Speziellen nun in ihrem großen Reichtum viel besser erreicht. Da das ja auch ein Ford-Film ist, kommen die Themen (die amerikanische Bürgergesellschaft, begründet von idealistischen Juristen in der Frontier – nachdem ihre Feinde von Außenseitern erschossen wurden) nicht trocken rüber, sondern in einem Film voller Menschlichkeit. Über trockene Pädagogik macht sich Ford ja direkt selbst lustig: mitten im Unterricht meldet sich der kleine mexikanische Junge, weil er auf‘s Klo muss. Demokratie hin oder her: manchmal muss man halt eben!



CRASH (David Cronenberg: Kanada / UK 1996)
Einige Leute bezeichneten CRASH einmal als einen der erotischsten Filme aller Zeiten. Bei der Erstsichtung sah ich nur einen äußerst kalten Film, der mich, nun ja, kalt ließ und diese Einschätzung von CRASH als erotischen Film empfand ich einfach nur als verwunderlich und abstrus. Die Zweitsichtung offenbarte mir unter der kalten Oberfläche einen stürmischen, leidenschaftlichen, obsessiven Film, der alle Unterschiede zwischen „intellektuellem“ und „sinnlichem“ Zugang völlig verwischt. Der Gang dreier der vier Protagonisten durch das nächtliche „Unfall-Diorama“ hat mich in seiner erschreckenden, grausamen Schönheit fast umgehauen.



SE SEI VIVO SPARA (Giulio Questi: Italien / Spanien 1967)
Träge, zögernd, sinnlos mäandernd, langweilig – so schätzte ich Questis Debütfilm noch vor einigen Jahren ein. Wie schrecklich dumm und unwissend von mir! SE SEI VIVO SPARA ist natürlich ein grandioser Film. Da die Dinge, die er behandelt, nämlich kapitalistische Gier und sogenannter Alltagsfaschismus, voll und ganz weltlicher Natur sind, ist er kein komplett mystischer Western, auch wenn immer wieder surreale und christliche Motive die Bilder spicken (die Auferstehung des vielleicht toten Protagonisten nach Manier des Lazarus, seine Kreuzigung im Folterkeller, die Pietà- und Kreuzweg-Posen, als er seine ehemaligen Räuberkameraden vom Galgen abhängt). SE SEI VIVO SPARA ist auch ein im Keim erstickter Rachefilm: der Fremde kann sich nicht mehr an seinen Ex-Kameraden rächen, weil diese bereits mehrheitlich von den „besorgten Bürgern“ der Kleinstadt regelrecht massakriert wurden. Also wird er versuchen, die nicht völlig korrupten Elemente des Kaffs, nämlich einen Teenager-Jungen und eine von ihrem Ehemann gefangen gehaltene Frau, zu retten und dabei erbärmlich scheitern.


1. Januar 2018
Die Idee, am ersten Tag des Jahres nach dem späten Aufstehen und einem langen Frühstück RIO BRAVO zu gucken, ist meiner Meinung nach großartig! Weniger großartig ist es, wenn nach 75 Minuten der Player im Leerlauf dreht, weil die DVD aus der Reihe einer großen, überregionalen Tageszeitung rumspinnt. Diese Reihe mit den zu hohen Hüllen und den Rechtschreibfehlern in den Texten (es gibt zu Howard Hawks ein Zitat von „Jaques“ Rivette) wird mir immer mehr zuwider. Ein wahrhaftig fürchterlicher, niederschmetternd trauriger Start in das neue Jahr. Hoffentlich kein schlechtes Omen. Meine DVD von HATARI! funktionierte glücklicherweise und konnte den Tag retten...


Ich wünsche allen Lesern von „Whoknows Presents“ ein schönes Jahr 2018 – mit vielen tollen, spannenden, interessanten, aufrüttelnden und verstörenden Filmen!