Sonntag, 13. September 2015

Ein (Nicht-)Musical in Rot

HOT BLOOD
USA 1956
Regie: Nicholas Ray
Darsteller: Cornel Wilde (Stephano Torino), Jane Russell (Annie Caldash), Luther Adler (Marco Torino)


Marco Torino ist in großen Sorgen. Er ist der König einer großen Roma-Gemeinde in einer sonnigen US-amerikanischen Stadt (wahrscheinlich Los Angeles) – das ist keine einfache Aufgabe, und sie wird ihm zunehmend schwer fallen, denn er ist lungenkrank und muss sich entweder bald zurückziehen und zur Ruhe setzen oder aber sterben. Seine Krankheit verheimlicht er gegenüber seinen Angehörigen. Deshalb arbeitet er fleißig daran, eine Nachfolge zu finden. Die Wahl fällt auf den jüngeren Bruder Stephano, der jedoch Probleme macht: Stephano hat sich von der traditionellen Roma-Kultur entfernt und möchte am liebsten ein bürgerliches US-Leben führen, mit einer „Gajo“-Freundin und einem Job als Tanzlehrer bei reichen „Gajo“-Familien. Damit der kleine Bruder König der Gemeinde werden kann, muss er nach Marcos Willen heiraten und zwar eine richtige Romni, die ihn auf den richtigen Weg bringt. Die passende Kandidatin ist schnell gefunden: Annie Caldash, die Marco kürzlich aus dem Gefängnis zusammen mit ihrem Vater und ihrem Bruder (gespielt von James H. Russell – auch im wahren Leben Jane Russells Bruder) befreit hat, in dem er ihre Kaution bezahlte.

Alle sind mit der geplanten Hochzeit zufrieden, außer Stephano, der sich von seinem Bruder nichts vorschreiben lassen und keine Unbekannte heiraten möchte (auch wenn er ihre üppige Oberweite anerkennend begutachtet hat). Doch Annie offenbart Stephano, dass sie sowieso ganz eigene Pläne hat: sie, ihr Vater und ihr Bruder sind eigentlich Ehebetrüger, die nur Marcos Mitgift kassieren wollen. Kurz, bevor die Ehe ausgesprochen wird, soll Annie ein Malaise vortäuschen und würde dann mit dem Geld abhauen. Ein Plan, der Stephano gefällt: so muss er nicht wirklich heiraten, und wenn sein Bruder eins ausgewischt bekommt, dann freut er sich umso mehr.

Natürlich kommt alles anders, und die Hochzeit läuft nicht so, wie geplant. Das heißt eigentlich: sie läuft tatsächlich so, wie eine Hochzeit üblicherweise läuft. Annie täuscht nämlich kein Unwohlsein vor, sondern lässt die Ehezeremonie tatsächlich vollziehen. Ihr überraschter Vater gerät darüber in Tränenausbrüche (was die Anerkennung aller Anwesenden hervorruft „so viele Emotionen“!). Der vollkommen düpierte und nun frisch vermählte Stephano wird darüber hingegen zur Weißglut getrieben, doch muss er seine Wut während der restlichen Festlichkeiten zügeln. Nur die Peitsche bei dem Braut-und-Bräutigam-Peitschentanz lässt er besonders heftig knallen.

Marco Torino ist krank und sucht einen Nachfolger
Sein Bruder Stephano wird zu einer Ehe überlistet
Als beide sich dann im Schlafgemach befinden, fliegen die Fetzen und werden gar Fenster zu Bruch gebracht, was die Hochzeitsgäste, die vor der Zimmertür kampieren und singen, als großes „Temperament“ deuten. Im Inneren des Zimmers befindet sich das Paar allerdings nicht in stürmischer Umarmung, sondern in einem tiefen Streit. Annie möchte tatsächlich eine ernsthafte Ehe führen. Stephano droht hingegen gleich mit einer Scheidung nach traditioneller Roma-Manier: er wird vor dem Rat der Gemeinde aussagen, dass es „keine Liebe“ gibt – und fertig wäre die Sache. Stephano geht dann zu einem Date mit seiner „Gajo“-Freundin weg. Seine Wut tobt er letztlich damit aus, dass er dem Agenten einer Tanzlehrervermittlung, der ihn wohl aus Rassismus nicht eingestellt hat, eine öffentliche Tanzvorführung gibt und ihn schlussendlich durch ein Schaufenster schmeißt. Die Polizei ist bald zur Stelle, und so verbringt Stephano seine Hochzeitsnacht im Knast.

Marco bezahlt natürlich die Kaution für seinen Bruder, während der Rest der Familie nichtsahnend im Wohnzimmer sitzt und wartet, bis das Ehepaar aufsteht und zum Frühstück rauskommt. Stephano, dem das alles egal ist, benutzt nicht die Schleichwege und so kommt offiziell raus, dass er die Hochzeitsnacht nicht bei seiner Frau verbracht hat. Für Marco ist es nun umso wichtiger, dass Stephano endlich in seiner Ehe ankommt. Er bittet Annie, Stephano um jeden Preis zu ihrem Ehemann zu machen (ergo: zu verführen), damit er ein guter Nachfolger wird und setzt Stephanos Ehefrau sogar in Vertrauen über seinen Gesundheitszustand. Die möchte sowieso ihren Ehemann verführen und mischt ihm auch einen leckeren Wein mit Pfirsichen. Stephano, leicht betrunken, deutet nun Annie gegenüber an, dass er die nächste Nacht ganz gerne mit ihr verbringen würde. Genau in diesem Augenblick platzt Marco, der die letzten paar Minuten an der Tür gelauscht hat, rein. Stephano, der in der Situation (nicht ganz zu Unrecht) ein Arrangement zwischen Marco und Annie hinter seinem Rücken wittert, läuft wutentbrannt weg, um sich mit seiner „Gajo“-Freundin zu treffen und vielleicht sogar mit ihr auf Tanztournee zu gehen. Dass Annie ihm folgt und dann die Freundin sogar in eine Kneipenschlägerei verwickelt, besiegelt endgültig seinen Entschluss, wegzugehen.

So beginnt Stephanos Tanztournee – während derer er immer wieder an Annie denken muss. Deshalb kehrt er rasch zurück, nur um zu entdecken, dass bei einer großen Feier seine Ehefrau recht fröhlich mit seinem Bruder tanzt und die beiden recht doppeldeutige Sachen sagen. Stephano reagiert etwas eifersüchtig – was Annie und Marco tatsächlich eiskalt zusammen kalkuliert haben, um den wütenden Ehemann besser an seine Frau zu binden. Der Abend endet damit, dass Stephano wieder Lust auf seine Ehefrau hätte, doch die will nur schlafen und fühlt sich am nächsten Morgen absolut elend. Das liegt daran, dass sie aus Versehen ein Aphrodisiakum geschluckt hat, das der Opa (nach einem Originalrezept aus Serbien) spontan für Stephano gebraut hatte. An dem fürchterlichen Gebräu wäre zweifelsohne jedem Menschen speiübel geworden, doch natürlich denken jetzt alle, dass Annie schwanger sei. Auch Stephano denkt das, nimmt aber an, dass Marco der Vater des (nichtexistenten) werdenden Kindes sei. So bricht er auf, um seinen Bruder zu verprügeln und verkracht sich dann definitiv mit Annie. Als er jedoch erfährt, dass Marco totkrank ist, wird er wieder weich. Zu spät: beim nächsten Ratstreffen des Clans wird Stephano zum neuen König gewählt und seine erste Amtshandlung besteht darin, vor dem versammelten Rat Annies Scheidungsantrag („There is no love!“) zu bestätigen. Als sich die Versammlung auflöst, spornt Marco seinen Bruder dazu an, wie ein „Gajo“ zu handeln und Annie nachzurennen. Dies tut er, hält um ihre Hand an, beide liegen sich in den Armen und Stephano trägt Annie auf den Schultern ins nächstgelegene Zimmer, um nun die Ehe endlich zu „vollziehen“.

Ende gut, alles gut: Stephano trägt Annie über die Schulter ins nächste freie Zimmer

Nicholas Ray drehte in seiner Karriere noirs, Westerns, Melodramen und auch das eine oder andere Epos, jedoch weder ein Musical, noch eine Screwball-Komödie (auch wenn JOHNNY GUITAR – hier einige Worte von mir zu diesem Film – sich teilweise wie ein Musical mit gesprochenen Worten statt Gesängen und Gewaltausbrüchen statt Tänzen anfühlt). HOT BLOOD ist gewissermaßen das, was in Rays Filmographie einem Musical und einer Screwball-Komödie am nächsten kommt. In die Kinos kam HOT BLOOD zwischen den Meilensteinen REBEL WITHOUT A CAUSE und BIGGER THAN LIFE und gilt heute gemeinhin als kurioses Nebenwerk, wobei dies meist tendentiell eher pejorativ gemeint ist.

Die Franzosen wussten es natürlich als erste bereits besser. Jean-Luc Godard, dem kein Superlativ auf der Welt grandios genug war, um DIE Ikone der späteren nouvelle-vague-Rebellen zu loben, schrieb 1957 in seiner Kritik zu HOT BLOOD mit dem Titel „Rien que le cinema“ (Nichts anderes als das Kino), dass Nicholas Ray der einzige Regisseur der Welt sei, der nicht nur fähig, sondern auch willens wäre, das Kino im Falle seines Verschwindens neu zu erfinden. Etwas weniger ekstatisch lobte François Truffaut die Lebendigkeit und Inszenierung des Films.

Die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen. Es gibt viele und gute Gründe dafür, HOT BLOOD dämlich zu finden. So ist das Drehbuch etwa ziemlich klobig und ruckelt an vielen Ecken und Enden. Marcos schwere Krankheit bleibt die meiste Zeit eine reine Behauptung: manchmal hüstelt Luther Adler etwas vor sich hin, aber so etwas wie Fallhöhe wird noch nicht mal im Ansatz entwickelt. Die Konflikte zwischen den beiden Brüdern scheinen die meiste Zeit wie aus der Konservendose zu kommen und eine tragische oder überhaupt ernsthafte Ebene wird da nie erreicht (selbst dann nicht, als Stephano Marco verprügelt). Das aufgepappte Happy-End könnte lächerlich sein, weil er einfach nicht zu den Konflikten passen will, die vorher mit viel Mühe, aber ohne wirkliche Überzeugungskraft aufgebaut wurden (vielleicht können diese Konflikte deshalb so rasch beiseite gewischt werden, weil sie eh keine Schwere entwickeln konnten). So entwickelt HOT BLOOD eine eigentlich unpassende Balance: die Sachen, die hier passieren, sind zu ernsthaft und tragisch, um den Film wirklich als vollwertige Komödie wahrzunehmen, aber irgendwie auch zu lachhaft, als dass irgend ein Sinn für Tragik entstehen könnte.

Am problematischsten ist aber natürlich das Bild, das in HOT BLOOD von „Zigeunern“ gezeichnet wird: so ein Film würde in dieser Form heute nicht mehr gedreht werden, und darüber sollten wir alle sehr froh sein! HOT BLOOD ist so etwas wie eine audiovisuelle Enzyklopädie aller Zigeuner-Klischees, die man sich so denken kann: der „Zigeuner an sich“ tanzt gern, ist überhaupt sehr musikalisch, trägt bunte Sachen und Bling-Bling-Kram, spricht ständig von Temperament und Emotionen („hot blood“ und so), klaut gerne Sachen, ist fürchterlich abergläubisch, hat es nicht so mit der Moderne, lebt und denkt nur in Familienstrukturen, haut „Gajos“ gerne in die Pfanne etc. Auch kann man den Eindruck nicht loswerden, dass „Zigeuner“ lediglich die Funktion haben, mit ihren Stereotypen das Drehbuch zusammenzuhalten. Es ist ein Drehbuch, dass in einer geschlossenen Gruppe mit strengen, traditionellen Strukturen und Bräuchen (etwa arrangierten Ehen) spielen muss: christlich-traditionalistische Gruppierungen, von denen es in den USA einige gibt, hätten dafür auch herhalten können, aber dann hätte der Film das Hays-Büro wohl definitiv nicht passieren können, und außerdem würden die Figuren dann keine bunten Sachen tragen und tanzen. Das alles hinterlässt schon ein etwas flaues Gefühl im Magen, nicht zuletzt, wenn eine der Nebenfiguren dann fragt, wen man denn beklauen könne, wenn keine „Gajos“ da wären.

Diese Probleme können sicher nicht beiseite gewischt werden wie die intradiegetischen Konflikte am Ende. Doch HOT BLOOD bietet selbst von alleine einige interessante Anmerkungen und Überlegungen zu den Problemen, die er aufwirft. Er baut Klischees auf, die er teilweise wieder zerschlägt. Er schreibt Roma Eigenschaften zu, um dann wenige Augenblicke später andere Eigeschaftszuschreibungen als solche zu entlarven. „No gajos? Who do we steal from?“ fragt also der Opa verwundert, nur um dann von Marco  ein genervtes „Papo, why do you upset me?“ entgegen geschmettert zu bekommen. Immer wieder muss Marco Leute aus seiner Gemeinde mit teils recht teuren Kautionen aus dem Gefängnis befreien: er zahlt dann Hunderte von Dollars an die Polizei für Menschen, die verhaftet worden sind, weil sie (O-Ton Marco) „verdächtigt wurden, Zigeuner zu sein“. Stephano klagt hingegen gegenüber dem Tanzagenten die Ungerechtigkeit an, dass er nicht als privater Tanzlehrer engagiert wird, weil reiche Leute einen „Zigeuner“ nicht in ihrer Villa haben möchten.

Die Welt außerhalb der Roma-Gemeinde in Blau-Grün-Tönen
Es ist bei Ansicht des Films kaum zu glauben, dass HOT BLOOD ursprünglich ein ernsthaftes und ethnografisch minutiöses Drama über das Leben der Roma in den USA sein sollte. Das Drehbuch in der Urfassung stammt von der Journalistin Jean Evans, mit der Nicholas Ray Ende der 1930er Jahre verheiratet war, und die Geschichte war tatsächlich das Ergebnis intensiver ethnografischer Recherchen seitens Evans‘ in US-amerikanischen Roma-Gemeinden. Es wurde dann allerdings von Jesse L. Lasky und Ray komplett umgeschrieben – das eine oder andere tragische Element, das etwas kontextlos im Film herumschwebt, mag wohl auf Evans‘ Originaldrehbuch zurückzuführen sein. Jedenfalls mag HOT BLOOD mag zwar jede Menge Böcke abschießen im Bezug auf die Darstellung von Roma in den USA, andererseits nimmt der Film eine fast hermetische Binnenperspektive ein: es gibt zwar einige wenige Nicht-Roma-Figuren, doch keine, die von Belang wäre. Der Polizist auf der Station, Stephanos Freundin, der Tanzagent und die Kassiererin des Trailerparks, in dem Marco den Wohnwagen für seine letzte Reise stehen hat – das war‘s. Interessanterweise wird die Umgebung dieser Figuren farblich anders codiert als die Umgebung der Roma, nämlich in Blau-Türkis-Tönen: Stephanos Freundin fährt einen türkisfarbenen Wagen, das Wachhäuschen der Trailerpark-Kassiererin ist blau-grün, während die Roma in Rot- und Orange-Tönen und -Variationen (darunter auch das intensive Nicholas-Ray-Rot) eingebunden sind – und in Rot treten bei Nicholas Ray meistens die „Guten“ auf.

HOT BLOOD sieht die Gemeinde der Roma als Gruppe von ethnischen und sozialen Außenseitern, innerhalb derer wiederum gebrochene Individuen leben. Außenseitergruppen und -individuen: klassische Nicholas-Ray-Helden auch in diesem Film. So problematisch der klischierte Blick des Films auf seine Hauptfiguren ist, so intensiv und leidenschaftlich identifiziert er sich auch mit ihnen. Der Film ist auf ihrer Seite und das ohne wenn und aber. Das unterscheidet HOT BLOOD auch merklich von Rays letztem Hollywood-Film, dem absolut unsäglichen 55 DAYS AT PEKING, der einen dezidiert imperialen Blick auf chinesische (und überhaupt ostasiatische) Figuren hat.

Howard Hawks sagte einmal, ein guter Film sei „drei gute Szenen und keine schlechte“. Ob das unmotivierte und angeklebte Happy-End eine schlechte Szene ist, sei dahingestellt (ich finde sie eher unpassend als wirklich schlecht). Auf jeden Fall hat HOT BLOOD mehr als drei gute Szenen. Vielleicht ist er nicht mehr als die Summe seiner Teile, doch die einzelnen Teile haben es teils wirklich in sich! Der Film ist voller Szenen, die man von der Grundstruktur her in vielen anderen Filmen der Zeit sehen würde, aber die dennoch auch offbeat sind, die ein Element haben, die sie einzigartig macht.

Die Hochzeitsszene bietet zunächst so etwas wie den komödiantischen Höhepunkt des Films, als während der Vermählungszeremonie Stephano und Annies Vater innerhalb kürzester Zeit merken, dass Annie die Vermählung durchziehen wird. Die Kombination von Cornel Wildes entsetztem Gesichtsausdruck und Jane Russells selbstbewußtem Auftreten bietet nicht nur den vielleicht größten Lacher des Films, sondern verdichtet auch in einem  einzigen Bild nonverbal die komplette Situation.

Peitschentanz in Nicholas-Ray-Rot
Wie die kurz darauf folgende Peitschentanzszene die Wächter des Production Codes passierte, muss wohl ein Rätsel bleiben. Man kann diese Momente getrost als eine Art Sex-Ersatzszene sehen: Russell tanzt lasziv, hebt ihr weißes Brautkleid, enthüllt darunter viel Bein sowie ein ein knalliges Nicholas-Ray-Rot, während Wilde seine lange Peitsche schwingt. Er schlägt ihr die roten Zierblumen und den Schleier vom Kopf, versucht mehrmals, sie mit der Peitsche an sich zu ziehen. Ein Verführungs- und Unterwerfungsspiel, das wütender Sex mit einem Hauch „kinkiness“ kombiniert und – wie viele andere Momente im Film – wie der unfertige oder abstrahierte Entwurf einer Musical-Szene wirkt. (was die Probleme von HOT BLOOD mit dem Production Code Office betrifft, so wird er zumindest bei IMDb als einer von vielen Filmen in der Sektion „features“ der Dokumentation HOLLYWOOD UNCENSORED erwähnt).

Die nächste dieser „unfertigen“ Musical-Szenen ist Stephanos Tanzeinlage vor der Agentur, die ihn abgelehnt hat. Er will dem Agenten demonstrieren, wie gut er tanzen kann. Alle umgebenden Personen klopfen einen Rhythmus, während Stephano herausfordernd zu tanzen beginnt. Das ganze wird größtenteils als Totale gefilmt, damit man das Gesicht des Tänzers nicht sieht – weil Wilde hier gedoubelt wurde. Das gibt der Sequenz auch eine merkwürdige und sehr auffallende Distanz.

Anfang und Schluss der bizarrsten
(Nicht-)Musicalnummer des Films

Der bizarrste Moment im ganzen Film ist zugleich die merkwürdigste Interpretation einer Musical-Szene. Stephano kommt nach der Nacht im Gefängnis zurück. Annie erwartet ihn, fest entschlossen, ihn zu verführen. Sie bereitet gerade einen Wein mit Pfirsichen vor und adressiert Stephano mit einer Mischung aus Rede, Sprechgesang und Gesang. Dieses Spiel mündet in die Musicalnummer „I could learn to love you“, die allerdings nicht live von Russell gesungen wird, sondern als „playback“ gespielt wird: Annie singt das Lied nicht, sondern denkt es nur, sie stellt es sich vor, während Stephano sich im Hintergrund umzieht, sich kurz wäscht, sein Hemd sucht und anzieht. Das ganze endet mit der Linie „Husband, here‘s your wine“, während Annie Stephano ein Glas hinhält. Die Musik stoppt, Stephano guckt wie hypnotisiert auf Annie, die die Schlusslinie des Liedes noch einmal sprechen muss, damit ihr Ehemann reagiert – als wäre er von dieser Musik, die Annie eigentlich nur denkt, hypnotisiert worden.

Diese „extradiegetische Musicalnummer“ gehört schon jetzt zu meinen absoluten Szene-Favoriten des Jahres, und überhaupt von dem mir bisher bekannten Werk Nicholas Rays. Auch nach ihr gibt es viele denkwürdige Szenen. Etwa die wüste Prügelei zwischen Stephanos Ehefrau und seiner „Gajo“-Freundin in der Kneipe. Oder natürlich auch der dramatische Gürtelkampf zwischen Stephano und Marco: die beiden geraten auf dem Trailerpark, in dem Marco seinen „letzten“ Wohnwagen stehen hat, in einen schweren Streit, und Stephano ist bereit, sich mit Marco zu prügeln. Statt sich aber wie vulgäre „Gajos“ zu hauen, machen sie es auf traditionelle „Zigeuner“-Art: Sie hauen sich gegenseitig mit ihren Gürteln. Diese Szene ist auf vielerlei Art bemerkenswert. Erstens natürlich einfach nur aufgrund der ungewöhnlichen Kampfweise: schließlich peitschen sich hier zwei Männer mit Gürteln. Zweitens ist diese späte Szene innerhalb des Films praktisch symmetrisch zur frühen Peitschentanzszene auf der Hochzeit angeordnet und spiegelt sie in gewisser Weise. Während Stephano in der ersten eine Frau auszupeitschen versuchte, auf die er wütend war, weil er sie nicht haben wollte, versucht er in letzterer den Mann auszupeitschen, der ihm diese Frau, die er nun doch begehrt, vermeintlich wegnehmen will. Drittens erinnert diese Kampfszene in ihrer Inszenierung ein wenig an die Kampfszene mit den Springklingenmessern vor dem Planetarium in REBEL WITHOUT A CAUSE. Überhaupt scheint in HOT BLOOD das eine oder andere von Rays berühmten James-Dean-Film übernommen worden zu sein. Auffällig ist etwa, dass die Polizeistation am Anfang HOT BLOOD im Eingangsbereich ebenso einen „Thron“ hat, wie jene in REBEL WITHOUT A CAUSE (in beiden Fällen handelt es sich um einen Sitz für Personen, die sich ihre Schuhe putzen lassen möchten – warum auch immer so etwas im Eingangsbereich einer US-amerikanischen Polizeistation stehen sollte). Auf den „Thron“ setzt sich im früheren Film der vollkommen betrunkene Jim Stark, im späteren Film „thront“ tatsächlich der König der Roma-Gemeinde, während er sich mit einem Polizisten unterhält.

Ein merkwürdiger Thron in REBEL WITHOUT A CAUSE
und in HOT BLOOD
Und natürlich (und da ähnelt HOT BLOOD in Rays Werk nicht nur REBEL WITHOUT A CAUSE) strotzt der Film nur so vor Rot. Mit Ausnahme von vielleicht Michael Powell und Emeric Pressburger (ich kenne allerdings nicht genug ihrer Filme, um da eine sichere Aussage machen zu können) gibt wohl niemanden, der die Farbe Rot so inszeniert wie Nicholas Ray. Kein Mensch im Universum trägt Rot wie die Figuren bei Ray: Viennas leuchtend rote Lippen, ihre Halsschlaufe, ihr Hemd in JOHNNY GUITAR, Jim Starks Jacke, Judys Mantel und Platos Socke in REBEL WITHOUT A CAUSE, Richie Averys Jacke oder einzelne Kleidungsstücke der Schüler in BIGGER THAN LIFE, und eben Stephanos T-Shirts und Schals sowie Annies Blusen, Korsetts und Röcke in HOT BLOOD. 

Ich habe, um ein wenig vergleichen zu können, REBEL WITHOUT A CAUSE gleich nach der zweiten Sichtung von HOT BLOOD zwecks Verfassen dieses Text geschaut. Dabei ist etwas passiert, was ich nicht erwartet hätte: HOT BLOOD ging aus dem (persönlichen) Vergleich als eindeutiger Sieger hervor, während REBEL WITHOUT A CAUSE – Jean-Luc Godard möge mich dafür gerne steinigen – in meiner Wertschätzung mit dieser (dritten) Sichtung erneut ein wenig niedriger rutschte. Die Gründe dafür (unter anderem eine trotz allem sehr traditionelle und auch unangenehme Sichtweise auf Männlichkeit, die ihn fast schon zum sozial konservativen Film macht) würden einen eigenen Text benötigen. HOT BLOOD gefiel mir bei der ersten Sichtung ganz gut und ich fand ihn so bizarr und bemerkenswert, dass er mir einen eigenen ausführlichen Text wert zu sein schien. Bei der zweiten Sichtung nun habe ich ihn wirklich ins Herz geschlossen...

Ein Film voller Rot

...und nach meinem jetzigen Kenntnisstand würde ich ihn in Rays Werk als Mittelteil einer inoffiziellen „Trilogie des Fieberwahns, der knalligen Farben und überlebensgroßen Gesten“ einordnen, chronologisch zwischen JOHNNY GUITAR und PARTY GIRL – Filmen, die im Kern hauptsächlich aus diesen drei Elementen bestehen (wobei die restlichen Zutaten von JOHNNY GUITAR für zwanzig Filme reichen). Die große Klasse von JOHNNY GUITAR mag HOT BLOOD vielleicht nicht haben (aber das können sowieso nur ganz wenige Filme von sich behaupten), und wahrscheinlich scheitert er im Gegensatz zum wohl großartigsten Western aller Zeiten darin, aus dem Fieberwahn, den knalligen Farben und den überlebensgroßen Gesten etwas wahrhaftig Großes zu machen. Diesem Scheitern zuzusehen ist allerdings ein Erlebnis voller Überraschungen, absolut faszinierend und kurzweilig.



HOT BLOOD ist natürlich in französischen und US-amerikanischen, aber auch in italienischen, britischen und spanischen DVD-Editionen verfügbar. Ich selbst kann nur die UK-Fassung bewerten, die in Bild und Ton gut bis sehr gut ist.

Montag, 24. August 2015

Auf Tauchstation

Vielleicht hat sich mancher schon gewundert, weil bei mir in letzter Zeit nichts los ist. Bei mir waren es die diversen Hitzewellen, die die Arbeitsmoral unterminierten, und Stress durch Wohnungssuche, was mich komplett blockiert hat. Und nach dem Umzug, der demnächst erfolgt, werde ich bis voraussichtlich Anfang Oktober ohne Internet sein, also erst mal weiter durch Abwesenheit glänzen. Aber heute ist nicht alle Tage, ich komm wieder, keine Frage! Davids weiterem Zeitplan möchte ich hier natürlich nicht vorgreifen.

Sonntag, 2. August 2015

Ein erotisches Kuleschow-Experiment an der Adriaküste

VERFÜHRUNG AM MEER / OSTRVA
Bundesrepublik Deutschland / Jugoslawien 1963
Regie: Jovan Živanović
Darsteller: Peter van Eyck (Peter), Elke Sommer (Eva)


„Eine miserabel gespielte und schlecht inszenierte Kolportage-Geschichte, deren Ansätze zu spekulativer Erotik unfreiwillige Heiterkeit erzeugen könnten, wenn der Film nicht so extrem langweilig wäre.“ So urteilte das Lexikon des internationalen Films in dem ihm so typischen Duktus über VERFÜHRUNG AM MEER - einem in vielerlei Hinsicht absolut bemerkenswerten Film (weshalb er in meinem großen persönlichen Filmkanon des Jahres 2014 Eingang gefunden hat).

Eva zieht im Dorf die Blicke aller Männer auf sich, interessiert
sich aber nur für eine der umliegenden Inseln und ihrem
mysteriösen Herrn
Worum geht es? Eine junge Frau (Elke Sommer) erhält in Berlin von einem dubiosen älteren Paar einen mysteriösen Auftrag, der sie an die jugoslawische Adria-Küste bringt. Mit ihrem natürlichen Charme verdreht sie dort allen Männern, ob jung und alt, den Kopf, doch sie interessiert sich nur für die umliegenden, angeblich vollkommen unbewohnten Inseln, die sie mit einem Boot abfährt. Eine der Inseln wird offenbar doch von einem Bewohner für sich reklamiert: ein unfreundliches Schild, ein Gewehrschuss, bellende deutsche Schäferhunde vertreiben Eva rasch von diesem Eiland. Sie kehrt dennoch zurück und lernt schließlich den Bewohner kennen: Peter (Peter van Eyck), ein Einsiedler, der von der Zivilisation abgewandt in einer improvisierten Bretterhütte haust und sich autark mit Fischerei versorgt. Eva setzt alles daran, diesen freiwilligen „Robinson“ zu verführen - dies gehört offenbar zu ihrem Auftrag, denn zwischendurch kehrt sie an die Küste zurück und telefoniert mit ihrer dubiosen Auftraggeberin. Deren Plan wird jedoch durchkreuzt, als sich auch Eva wirklich in Peter verliebt...

Nur anhand der Inhaltszusammenfassung könnte man hinter VERFÜHRUNG AM MEER eine Altherrenfantasie vermuten, die in biederer Inszenierung öde vor sich hinschmiert. Tatsächlich haben wir es bei diesem faktischen Zweipersonenkammerspiel auf einer mediterranen Insel mit einem Film zu tun, der eine ungeheuerliche und sehr erotische Energie entwickelt, und dabei immer ein Quäntchen Mysterium behält.

VERFÜHRUNG AM MEER funktioniert in erster Linie über die Montage. Diese treibt den Film voran, indem sie narrative Erklärungen teils brutal abwürgt und dafür auf Emotionalisierung und Affekt setzt. So wird schon der Prolog, in dem Eva ihren Auftrag erhält, abrupt unterbrochen: sie und ihre Auftraggeberin kommen gerade zu den Details, als die ältere Frau die jüngere fragt, ob sie etwas trinken wolle, „Kaffee? Oder Cognac“ - Schnitt - zu der jungen Frau, die bereits auf dem Adria-Dampfer ist und an der Schiffsbar einen Cognac nimmt. Einen ähnlichen „matching cut“ gibt es später an dem Küstendorf, wo der lokale Beau (eigentlich Gigolo) Eva nachstellt und sie fragt, ob er für sie den Mond stehlen solle. Sie bittet ihn darum, die Tafel am Badestrand zu klauen, an der für Touristen die Wasser- und Lufttemperatur des Tages vermerkt ist (und die in früheren Szenen en passant gezeigt wurde). Schnitt - Eva befindet sich auf der Insel des Einsiedlers und verfasst darauf eine besänftigende Nachricht.

Die Verweigerung, im ersten Drittel den „Auftrag“ zu erklären, wäre in einem anderen Film ein Aufhänger für eine Spannungssituation. Nicht hier jedoch. Die „Motivation“ des „Auftrags“, die ganz am Ende noch nachgereicht wird, scheint fast schon ein Zugeständnis an plotgesättigte Zuschauererwartungen zu sein. Wer mit solchen an den Film rangeht, wird ihn vermutlich tatsächlich „extrem langweilig“ finden. VERFÜHRUNG AM MEER ist im Kern ein Film darüber, wie sich eine junge Frau in einer Situation verliert und sich verliebt, weil irgendetwas an dem Einsiedler oder irgendetwas an seiner Lebenssituation ihn reizt. Als „schwierig, schweigsam, ohne Charme, verwöhnt, grob, müde“ beschreibt sich Peter selbst gegen Ende des Films. Eva kann ihm nur antworten, dass sie schon immer genau so einen Mann gesucht habe. VERFÜHRUNG AM MEER zeigt einen Prozess, in dem aus der kalkulierenden Eva, die eiskalt auf Geld aus ist und gegenüber Peter zunächst sehr theatralisch aufspielt, eine liebende Eva wird; und wie aus dem abweisenden, eigenbrötlerischen Peter ein liebender Peter wird. Diesen Prozess hält VERFÜHRUNG AM MEER in tatsächlich verführerischen, erotischen und oft mysteriösen Bildern fest. Der Moment, in dem es bei den beiden „Klick“ macht, ist undeutlich (und irgendwie ist das ja auch wie im wirklichen Leben). Der Film etabliert aber eine Grundatmosphäre, in dem dieser Prozess möglich wird und inszeniert die Umgebung, in der sich Eva und Peter befinden, als Raum, der mit erotischem Knistern und mit begehrenden Blicken angereichert wird, als Resonanzraum, der auf die Annäherungen zwischen den beiden zu reagieren scheint.

Auf eine kurze Formel ausgedrückt: über weite Strecken funktioniert VERFÜHRUNG AM MEER wie erotisches (und von den Füßen auf den Kopf gestelltes) Kuleschow-Experiment. Scheinbar neutrale, oder um es in der Sprache des Lexikons des internationalen Films auszudrücken, langweilige Bilder, werden durch die Montage mit erotischer Spannung aufgeladen.

Am deutlichsten wird dies an einer Einstellung, bei der man Kiesgeröll einen Abhang hinunterrollen sieht. Diese kommt direkt nach einer Einstellung, in der Eva auf der Inselküste ihre Bluse ausgezogen und begonnen hat, sich in einem knappen Bikini zu sonnen, um Peters Blicke auf sich zu ziehen (gesehen aus einer relativ großen Distanz von oben - eine voyeuristische Perspektive andeutend). Ein erotisches Bild wird mit einer banalen Naturimpression verbunden. Später im Film wird die Geröll-Einstellung fast identisch wiederholt, nachdem Eva eine Botschaft auf dem geklauten Temperaturenschild geschrieben hat: keine vordergründig erotische Szene, doch durch das wiederholte Geröllbild wirkt die gesamte Situation dennoch wieder aufgeladen.

Sonnenbad (beobachtet von voyeuristischer Position), gefolgt von Geröll
Tafel platzieren, gefolgt von erotisch aufgeladenem Geröll
Solche merkwürdigen Montagen durchziehen den gesamten Film: immer wieder schneidet er von Elke Sommer in mehr oder minder anzüglichen Posen auf die Umgebung - auf die Meereswellen, auf einen schwankenden Schiffsmast, auf kreischende Möwen im Himmel. Irgendwann hat dies die Nebenwirkung, dass das Meer im Hintergrund, das Möwengeschrei auf der Tonspur, das Bild eines Bootes am Strand eine eigene Erotik entwickeln. Die Spitze dieser Inszenierung findet sich, als Peter und Eva sich am Strand leidenschaftlich küssen und auf den Boden niedersinken. Ein Schnitt führt uns zu einer Felsenverengung am Ufer, die von einer tosenden Welle aufgefüllt wird: ein Explizite-Sexszene-Vermeidungsschnitt-mit-Symbolbildcharakter, der sich gut in den Rest des Films einbettet.

Von Evas Beinen zu den Möwen
Von Eva und ihrem Rücken zum Meer und wieder zu den Möwen
Sex on the Beach - sexy Montage
Diese Montagetechnik lädt die scheinbar zufällige, „neutrale“ Umgebung nicht nur auf, sondern macht sie auch zum Beobachter, gar zum Voyeur. Als Eva von Peter recht schroff von der Insel verwiesen wird, bereitet sie sich zum Gehen auf, doch bevor sie ins Boot steigt, kommt ihr ein Gedanke: sie nimmt ihre Schwimmflossen und „verbummelt“ sie hinter einem Busch, wohl um später einen Vorwand zu haben, auf die Insel zurückzukehren. Ein ganz kurzer Zwischenschnitt zeigt eine Ziege. Mit einfachen, aber effizienten Mitteln wird gleich deutlich gemacht, dass Eva bei ihrem Manöver beobachtet wird (und wenn Peter sie später genau darauf anspricht, erinnert sich der Zuschauer daran, dass sie tatsächlich beobachtet wurde).

Ganz ohne diese Techniken arbeitet die vielleicht bemerkenswerteste Szene von VERFÜHRUNG AM MEER. Peter und Eva, mittlerweile ein Paar, bereiten sich auf einen Kinobesuch vor. Sie zieht ein hübsches Abendkleid an, er einen Anzug mit Krawatte. Sie treten aus dem Haus, also Peters Bretterhütte, und rufen ein Taxi. Da keines vorbeikommt, gehen sie eben zu Fuß. Auf dem Weg zum Kino entscheiden sie, dass sie einen Liebesfilm schauen wollen. Sie kommen an der Kasse (einem Baum) an: sie kauft die Tickets, dann betreten sie den Saal und müssen sich dann an bereits sitzenden Zuschauern vorbei auf ihre Sitze schmuggeln. Eva entschuldigt sich mehrmals, als sie aus Versehen Co-Zuschauer stört. Während der Film läuft, lobt sie das Spiel des Hauptdarstellers, den Peter als John Dos Passos identifiziert. Eva, die sehr wohl weiß, dass Dos Passos ein Schriftsteller ist, bringt das zum schmunzeln und sie spricht ihn auch darauf an. Peter begeistert sich hingegen eher für die Hauptdarstellerin (die „voyeuristische“ Inselziege). Als Eva Anzeichen von Eifersucht zeigt, legt ihr Peter den Arm um die Schultern und fordert seine Co-Zuschauer dazu auf, ihm das nicht übel zu nehmen. Schließlich küssen sich die beiden und die Kamera enthüllt, dass er die ganze Zeit seine Hauspantoffeln und sie ihre Gummistiefel trug.

Sich schick machen, Tickets kaufen, bei Co-Zuschauern um Verzeihung bitten
Der Liebesfilm läuft, doch die beiden möchten im Kinosaal lieber rumknutschen
Die beiden, die gerade eine Art Idylle durchleben, mimen selbstbewusst und parodierend ein bürgerliches Leben in einer ganz und gar unbürgerlichen Umgebung und haben sichtlich Spaß daran. Es ist vielleicht der Moment, in dem deutlich wird, dass die Beziehung der beiden tatsächlich etwas Handfestes geworden ist, und in dem beide Figuren im Umgang miteinander jegliche Doppelbödigkeit haben fallen lassen. Der „Kinobesuch“ ist passend auch ein Moment, in dem sich die angestaute Spannung des Films humoristisch entlädt, in dem die Figuren ebenso wie die Zuschauer sich etwas entspannen können - durchaus in einer bewußten Komplizenschaft, denn Eva wie auch Peter brechen mehrmals die vierte Wand, wobei der jeweilige Adressat ein imaginärer Co-Zuschauer im imaginären Kino ist. Ein Kommentator bei IMDb erinnerte dieser Bruch der vierten Wand an französische nouvelle-vague-Filme.

Ganz falsch ist diese Bemerkung nicht, doch eigentlich war die Welle nicht französisch, sondern jugoslawisch und „schwarz“: VERFÜHRUNG AM MEER ist eine Produktion Artur Brauners, mit zwei deutschen Hauptdarstellern, doch die komplette restliche Crew war jugoslawisch, mit teils persönlichen Verbindungen zur „Jugoslawischen Schwarzen Welle“ (über die ich bereits hier und hier schrieb). Regisseur Jovan Živanović, der in den 1940er Jahren seine Filmkarriere begann und zunächst vor allem im Dokumentarfilmbereich tätig war, inszenierte in den 1960er Jahren vor allem Melodramen mit einer pessimistischen Sicht auf den jugoslawischen Lebensalltag. Sein urbanes Melodrama ČUDNA DEVOJKA („Studentenliebe“) von 1962 wurde als „kitchen sink realism“ auf Jugoslawisch bezeichnet. UZROK SMRTI NE POMINJATI („Do Not Mention The Cause Of Death“), das in einem Dorf während des Zweiten Weltkriegs spielt, sorgte wohl 1968 für starke politische Kontroversen. I BOG STVORI KAFANSKU PEVAČICU (“Und Gott schuf die Wirtshaussängerin”) von 1972 vermischt pessimistischen Realismus, Melodrama und Folklore-Musical-Elemente und gilt unter Kennern als Wegmarke der späten Jugoslawischen Neuen Welle.

Kameramann Stevan Mišković war bereits in den 1930er Jahren im Filmbereich aktiv. Sein Haupttätigkeitsbereich war jedoch nicht der Spiel-, sondern der Dokumentarfilm (etwas, was man den Bildern von VERFÜHRUNG AM MEER nicht unbedingt wirklich ansieht). Seine „schwarze“ Verbindung war seine Mitarbeit mit dem berühmten Skandalregisseur Dušan Makavejev an dessen kontroversen Dokumentarfilm/Mockumentary/Essay NEVINOST BEZ ZASTITE (“Unschuld ohne Schutz”).

Die mazedonische Cutterin Jelena Bjenjas arbeitete wiederholt mit Jovan Živanović. Später schnitt sie auch Filme von Miodrag Popović und Vojislav Rakonjac, zwei zentralen Figuren der „Schwarzen Welle“.


VERFÜHRUNG AM MEER ist in einer deutschen DVD-Edition erhältlich. Diese ist zwar ziemlich schmucklos, enthält aber den Film in einer recht guten Bild- und Ton-Qualität. Der Film liegt nur in einer deutschen Tonfassung vor. Gemäß IMDb ist die Originalsprache des Films Serbokroatisch. Falls es sich tatsächlich um eine Synchronfassung handelt, dann hat sich für diese auf jeden Fall Peter van Eyck selbst eingesprochen.

Dienstag, 14. Juli 2015

Casa Ricordi: Oper als Film, Film als Oper

Oder: Ein Reader's Digest der italienischen Oper des 19. Jahrhunderts

CASA RICORDI (DAS HAUS RICORDI)
Italien/Frankreich 1954
Regie: Carmine Gallone
Darsteller: Paolo Stoppa (Giovanni Ricordi), Renzo Giovampietro (Tito I Ricordi), Andrea Checchi (Giulio Ricordi), Roland Alexandre (Gioachino Rossini), Marcello Mastroianni (Gaetano Donizetti), Maurice Ronet (Vincenzo Bellini), Fosco Giachetti (Giuseppe Verdi), Gabriele Ferzetti (Giacomo Puccini), Märta Torén (Isabella Colbran), Roldano Lupi (Domenico Barbaja), Micheline Presle (Virginia Marchi), Nadia Gray (Giulia Grisi), Myriam Bru (Luisa Lewis), Elisa Cegani (Giuseppina Strepponi), Fausto Tozzi (Arrigo Boito), Danièle Delorme (Maria)

Giovanni Ricordi in der Scala
Rossini, Donizetti, Bellini, Verdi, Puccini. Die klangvollen Namen stehen für rund hundert Jahre italienischer Operngeschichte, die grob vom Beginn bis zum Ende des 19. Jahrhunderts reicht, und CASA RICORDI ist ein Episodenfilm, der jedem der fünf Meister einen Abschnitt widmet. Gekrönt sind die Episoden jeweils durch eine Arie des in diesem Abschnitt behandelten Komponisten, dargeboten auf einer Opernbühne im farbenfroh-opulenten Stil des 19. Jahrhunderts. Es handelt sich um Ausschnitte aus Rossinis "Der Barbier von Sevilla", Donizettis "Der Liebestrank", Bellinis "Die Puritaner", Verdis "Othello" und Puccinis "La Bohème". Carmine Gallone stellte dazu keine Opernsänger auf die Bühne, sondern Schauspieler, und ließ sie von professionellen Sängern stimmlich doubeln - darunter so klangvolle Namen wie Mario del Monaco (der den Othello singt) und Renata Tebaldi (Mimi in "La Bohème"). Als Aufhänger und verbindende Klammer des Ganzen fungiert eine Familien- und Firmengeschichte: Der in Mailand beheimatete Musikverlag Casa Ricordi wurde bald nach seiner Gründung im Jahr 1808 zum weltweit führenden Verlag für Opernpartituren und sonstige klassische Musik, und CASA RICORDI folgt über mehrere Generationen den Leitern des Verlags, der ca. 150 Jahre lang ein Familienbetrieb blieb (ohne intensiv auf deren Geschicke einzugehen - im Vordergrund stehen immer die Komponisten). Auch die fünf im Film behandelten Tonsetzer waren alle bei Casa Ricordi unter Vertrag.

Rossini und Isabella Colbran
Während bei den meisten italienischen und französischen Episodenfilmen der 50er und 60er Jahre jede Episode von einem anderen Regisseur realisiert wurde, lag hier alles in den Händen von Carmine Gallone. Allerdings gibt es sechs Drehbuchautoren (einer davon ist Gallone), und bei jedem ist übereinstimmend in der IMDb "story and screenplay" vermerkt. Ohne dass ich eine Bestätigung dafür gefunden hätte, legt das den Verdacht nahe, dass einer von ihnen für die Rahmenhandlung und von den anderen jeder für eine Episode verantwortlich war - insofern also doch ein typischer Episodenfilm. Ich habe mir nicht die Mühe gemacht und nachgeprüft, was an der Handlung authentisch und was erfunden ist - von einem solchen Film erwartet ohnehin niemand historische Genauigkeit. Das Folgende ist also der Inhalt des Films, aber nicht unbedingt im Detail die historische Wahrheit.

Der "Barbier von Sevilla" - erst Debakel, dann Triumph
1808 im napoleonisch regierten Mailand: Der Drucker Giovanni Ricordi macht mit überall angeklebten Flugblättern Reklame für seine Künste, und das bringt ihm einen Auftrag des damals schon renommierten Opernhauses, der Scala, ein: Er soll Noten in einem Rekordtempo drucken, das kein Konkurrent liefern kann. Ricordi nimmt den Auftrag an und gestaltet die Konditionen zu scheinbar für ihn ungünstigen Bedingungen um: Statt sich in Geld bezahlen zu lassen, verlangt er die Berge an altem, mit Noten beschriebenem Papier (samt Verwertungsrechten), das in den Kellergewölben der Scala unbeachtet vor sich hin gammelt. Der Intendant der Oper hält ihn für verrückt, doch in Wirklichkeit hat sich Ricordi damit eine Goldgrube eröffnet. Im sich schnell entwickelnden Markt für Partituren erlangt Casa Ricordi bald ein Quasi-Monopol, und Giovanni kann von den Direktoren der Opernhäuser ebenso wie von der Laufkundschaft viel höhere Preise verlangen, als sie bislang üblich waren. Doch er handelt nicht nur eigennützig: In bisher ungekanntem Ausmaß beteiligt er auch die Komponisten an den Einnahmen, und er gewinnt so ihr Vertrauen, ja ihre Zuneigung, und er kann viele mit langfristigen Verträgen an sein Haus binden.

Donizetti und Virginia Marchi; unten Marchi in "Der Liebestrank"
Gleich einer der ersten seiner neuen Klienten ist ein abgerissener junger Hungerleider, ein gewisser Gioachino Rossini, den er erst einmal mit einem von seiner Frau gekochten Gulasch aufpäppeln muss, bevor über Musik und Geschäfte gesprochen werden kann. Nach ersten Erfolgen arbeitet Rossini an einer Vertonung des Librettos "Der Barbier von Sevilla", und das ist ein gewagtes Unterfangen, weil bereits Jahre zuvor Giovanni Paisiello dasselbe Libretto zu einer Oper gemacht hatte. Paisiello hat viele fanatische Anhänger, die es als Majestätsbeleidigung auffassen werden, wenn ein Emporkömmling denselben Stoff nochmal in die Finger nimmt und damit die Künste ihres Idols in Frage stellt. Rossini hat auch ein hausgemachtes Problem: Er ist ein heißblütiger Frauenheld, und er beginnt eine Affäre mit der Sängerin Isabella Colbran, die eigentlich mit Rossinis Freund Domenico Barbaja liiert ist, dem Impresario des Opernhauses in Neapel, wo er seine ersten Opern zur Aufführung brachte. Eigentlich wollte Barbaja seinen Freund gegen Paisiello unterstützen, aber zufällig bekommt er Wind vom Verhältnis Rossinis mit Isabella, und so macht er nun das Gegenteil. So gerät die Uraufführung in Rom zum Debakel mit teilweise unfreiwillig komischen Einlagen. Anhänger Paisiellos und bezahlte Störer pfeifen pausenlos, und Rossini ist am Boden zerstört. Doch sein Aufstieg lässt sich nicht verhindern: Ricordi hält an ihm fest, setzt sofort eine neue Aufführung mit aufgeschlossenerem Publikum durch, und die gerät zum Triumph. Selbst Barbaja hat ein Einsehen und gibt der Oper ebenso wie Rossini und Isabella seinen Segen.

Generationenwechsel - Giovanni und Tito Ricordi
Der Einzige, der bei der ersten Aufführung Rossini verteidigt hat, war ein junger Mann, der selbst Musiker ist. Er stellt sich Ricordi als Gaetano Donizetti vor und wird bald selbst unter Vertrag genommen. In einem raffiniertem Schachzug erledigt Ricordi gleich mehrere Probleme gleichzeitig. Denn er selbst und mit ihm zusammenarbeitende Operndirektoren leiden unter den Launen der Diva Virginia Marchi, der man nichts recht machen kann, und die wegen jeder Kleinigkeit vor Gericht zieht. Ricordi arrangiert Proben von Donizetti mit Marchi, und trotz einiger Irritationen zwischen den beiden ist am Ende Marchi einmal zufrieden, Donizetti hat eine erstklassige Sängerin für die Titelpartie, die Direktoren akzeptieren Donizettis Werk für ihr Haus, und so steht einer triumphalen Premiere nichts mehr im Weg - und Donizetti und Virginia werden auch noch ein Paar. - Jahre später. Giovanni Ricordis Sohn Tito ist inzwischen ein junger Mann, der sich im Verlag engagiert, und - teilweise gegen den Widerstand seines Vaters - einige Neuerungen einführt, z.B. neue Druckverfahren. Nun wird er nach Paris geschickt, wo Vincenzo Bellini lebt und arbeitet, bereits ein Starkomponist. Doch in letzter Zeit hat man nichts mehr von ihm gehört, es gibt nur Gerüchte über seine angegriffene Gesundheit. Tito reist also nach Paris, um sich nach Bellinis Befinden zu erkundigen. Wie sich erweist, wird Bellini von seiner Geliebten Luisa Lewis in einer Villa außerhalb von Paris abgeschirmt und vor seinen Freunden, die ihn besuchen wollen, verleugnet - angeblich, um ihn zu schonen, aber in Wirklichkeit aus Eigennutz, weil sie ihn mit niemandem teilen will, wie der Arzt des tatsächlich kranken Bellini konstatiert. Insbesondere vor Bellinis früherer Geliebten Giulia Grisi, die zugleich die Sängerin seiner großen Partien ist, will sie ihn fernhalten. Erst als er am Abend der Premiere seiner neuen und letzten Oper im Fieberwahn zusammenbricht, erkennt Luisa ihren Fehler. Sie fährt mit einer Kutsche in die Oper, gesteht ihre Machenschaften und fordert Giulia, Tito und den mit Bellini befreundeten Rossini auf, mit ihr zu Bellini in die Villa zu kommen. In einer rasenden nächtlichen Kutschfahrt bei Gewitter, die wie ein Ausflug in den Gothic Horror wirkt, eilen die vier in die Villa - nur um Bellini tot auf dem Boden liegend vorzufinden. Verzweifelt bricht Luisa über ihm zusammen.

"Die Puritaner"; Bellini liegt krank darnieder; Giulia Grisi, Tito Ricordi und Rossini in Bellinis
Sterbezimmer; der tote Bellini und Luisa Lewis - Finale wie in der Oper
Erneuter Sprung in die Zukunft: Giovanni Ricordi ist tot, Tito ist der Chef des Hauses Ricordi, und der immer noch expandierende Verlag hat ein neues, größeres Gebäude bezogen. Titos Sohn Giulio stößt sich in den Revolutionswirren 1848 die Hörner ab und engagiert sich dann ebenfalls im Verlag. Der neue Star des Hauses heißt Giuseppe Verdi. Doch nachdem er für "Ein Maskenball" schlechte Kritiken erntet, gerät Verdi in eine tiefe Schaffenskrise. Die neue Mode der Wagner-Oper hat auch in Italien ihre Anhänger gefunden, und Verdi wird von einem Teil der Kritiker als altmodisch geschmäht. Beleidigt beschließt der Maestro, überhaupt keine Musik mehr zu schreiben, sondern sich als Edel-Bauer auf sein Landgut zurückzuziehen. Verdis Frau Giuseppina und sein Librettist Arrigo Boito können nur mit Mühe verhindern, dass er die schon begonnene Partitur zu "Othello" vernichtet, aber weder sie noch Giulio Ricordi (der in die Fußstapfen von Tito getreten ist, der sich zur Ruhe gesetzt hat) können ihn dazu bewegen, wieder zu komponieren. Der Umschwung kommt erst, als Verdi nach Parma fährt und mit seiner Kutsche mitten zwischen die Fronten von rebellierenden Armen und schussbereiter Polizei gerät. Als man ihn erkennt, stimmen die Massen spontan den Gefangenchor aus "Nabucco" an, und nun begreift Verdi, wer sein wahres Publikum ist: nicht die Kritiker, mögen sie ihn feiern oder verdammen, sondern das einfache Volk, das seine Musik liebt. Er macht sich wieder an die Arbeit zum "Othello", und einmal mehr endet eine Episode in diesem Film mit einer umjubelten Premiere.

Verdi als Ehrengast bei den Ricordis und zwischen den Fronten in Parma
Und schließlich Giacomo Puccini. Wir befinden uns mittlerweile im Jahr 1895, "im Zeitalter des Eiffelturms", wie jemand im Film sagt, denn Puccini recherchiert in Paris. Das Café Momus im Quartier Latin, in dem sich die Protagonisten von Henri Murgers Scènes de la vie de bohème trafen, existiert schon lange nicht mehr, doch Puccini will jenen Stoff zu einer Oper mit dem Titel "La Bohème" machen. In einer Parallele zwischen Roman und Oper einerseits und der Wirklichkeit andererseits lernt Puccini eine Clique junger Künstler kennen, die ohne Geld, aber sorglos in den Tag hinein leben. Eine von ihnen ist Maria, und Puccini verliebt sich in sie. Doch wie Mimi, die Heldin von "La Bohème", leidet auch Maria an der Schwindsucht, aber sie verschweigt Puccini ihren Zustand. Die Premiere von "La Bohème" findet in Italien statt, und Puccini war zur Vorbereitung schon - ohne Maria - einige Wochen anwesend. Nun soll zum Premierenabend Giulio Ricordis Sohn, der wie sein Großvater Tito heißt (zur besseren Unterscheidung werden sie auch als Tito I und Tito II bezeichnet), Maria mit dem Zug aus Paris holen. Doch er bringt nur die Nachricht, dass sie vor vier Wochen gestorben ist. So endet diese Episode für Puccini mit einem künstlerischen Erfolg, aber in Trauer. Und damit endet auch der Film - nein, nicht ganz. Als Giulio Ricordi wieder im Verlagshaus ist, wartet dort ein junger Musiker, der um ein Gespräch gebeten hat, und der zum Zeitvertreib ein paar seiner eigenen Noten auf dem Klavier spielt. Giulio hält einige Momente inne und lauscht interessiert den Klängen, bevor er sich dem jungen Mann zuwendet. Das Leben geht weiter, und die Musikgeschichte auch ...

Othello und die tote Desdemona
Man muss weder Opernexperte noch Opernliebhaber sein, um CASA RICORDI etwas abgewinnen zu können (wie ich als Opernmuffel hiermit ausdrücklich bestätige). Der Film ist in keiner Weise tiefschürfend, aber er bietet ansehnliche Schauwerte, insbesondere prächtige Technicolor-Farben, und mit seiner episodischen und anekdotenhaften Struktur wird er über seine Länge von ungefähr zwei Stunden hinweg nie langatmig, sondern bietet kurzweilige Unterhaltung (wobei die deutsche Version, die ich gesehen habe, um ungefähr 10 Minuten gekürzt ist). Große Gefühle und Dramatik (eben wie in der Oper) gibt es auch, vor allem das Finale der Bellini-Episode ist hier fast eine Oper im Kleinen.

Puccini und Maria
So etwas wie ein Reader's Digest (was ich hier nicht abwertend meine) ist CASA RICORDI nicht nur in Bezug auf 100 Jahre Operngeschichte, sondern auch hinsichtlich Carmine Gallones Schaffen. Gallone (1885-1973) war ein sehr produktiver Regisseur, der seit 1913 ca. 125 Filme drehte und dabei natürlich verschiedene Genres bediente. So schuf er etwa aufwändige Historienepen, z.B. eine dreistündige Stummfilmfassung von DIE LETZTEN TAGE VON POMPEJI (1926), den im Zweiten Punischen Krieg spielenden KARTHAGOS FALL (1937), der als der teuerste Film des faschistischen Italien gilt, MESSALINA (1951), DER KURIER DES ZAREN (1956, die Version mit Curd Jürgens) und zuletzt KARTHAGO IN FLAMMEN (1960, diesmal ist es der Dritte Punische Krieg). Bei uns ist Gallone wahrscheinlich am besten als Regisseur des dritten und vierten der Don-Camillo-Filme mit Fernandel und Gino Cervi in Erinnerung. Aber sein eigentliches Metier war der Opernfilm: MADAME BUTTERFLY (1939), RIGOLETTO (1946), VERDIS LA TRAVIATA (1947, auch als DIE KAMELIENDAME), IHRE WUNDERBARE LÜGE (1947, wie der Originaltitel ADDIO MIMÌ! schon vermuten lässt, handelt es sich um "La Bohème"), DER TROUBADOUR (1949), LA LEGGENDA DI FAUST (1949, nach "Mefistofele" von Arrigo Boito, der nicht nur Librettist, sondern auch Komponist war), SIZILIANISCHE LEIDENSCHAFT (CAVALLERIA RUSTICANA, 1955), MADAME BUTTERFLY (1954), und schließlich TOSCA (1956). Dazu kamen noch einige Musikerbiografien wie DREI FRAUEN UM VERDI (1938), MELODIE ETERNE (1940, mit Gino Cervi als Mozart - kein Witz!), und PUCCINI - LIEBLING DER FRAUEN (1953). Fosco Giachetti, Gallones Verdi in CASA RICORDI, spielte auch schon im Film von 1938 den Maestro, und auch Gabriele Ferzetti war schon im Puccini-Film von 1953 in der Titelrolle zu sehen, wo auch Märta Torén, Nadia Gray, Myriam Bru und Paolo Stoppa mitspielten, die allesamt in CASA RICORDI wieder auftauchten. Bei all diesen (und noch weiteren) Filmen konnte Gallone auf begnadete Stimmen zurückgreifen (als Schauspieler oder Sänger-Doubles), wie etwa mehrfach Beniamino Gigli, Jan Kiepura und Maria Cebotari. CASA RICORDI bildet also so etwas wie einen Schnelldurchlauf, einen (wenn auch sicher nicht repräsentativen) Querschnitt durch Gallones Werk als Opernfilmregisseur.

"La Bohème" - Mimi auf ihrem Sterbebett; Marias Platz in der Vorstellung bleibt frei
CASA RICORDI ist in Italien auf DVD erschienen (ohne fremdsprachige Untertitel). Die Originalfassung ist derzeit auch auf YouTube zu finden (ebenfalls ohne Untertitel). Die deutsche Fassung mit einer Fernseh-Laufzeit von 104 Minuten (was einer Kino-Laufzeit von gut 108 Minuten entspricht) war letztens in mindestens zwei Dritten Programmen zu sehen. Vielleicht lohnt es sich, darauf zu achten, ob sie nochmal irgendwo läuft.

Giulio Ricordi, bereit für einen neuen Klienten - vielleicht ein neues Genie

Mittwoch, 1. Juli 2015

Wenig Chancen für morgen

ODDS AGAINST TOMORROW (dt. WENIG CHANCEN FÜR MORGEN)
USA 1959
Regie: Robert Wise
Darsteller: Harry Belafonte (Johnny Ingram), Robert Ryan (Earle Slater), Ed Begley (Dave Burke), Shelley Winters (Lorry), Kim Hamilton (Ruth Ingram), Lois Thorne (Eadie), Gloria Grahame (Helen), Will Kuluva (Bacco), Carmen de Lavallade (Kitty), Mae Barnes (Annie)

Johnny Ingram
Die bis zur Unkenntlichkeit zerfetzten und verkohlten Leichen zweier Männer (wie man als Zuschauer weiß - zu sehen bekommt man sie nur von Leichentüchern bedeckt) liegen vor rauchenden Trümmern nebeneinander auf dem Boden. Dialog eines Sanitäters und eines Polizisten:

"Well, these are the two that did it."
"Which is which?"
"Take your pick!"

Der Clou dabei: Als sie noch lebten, war der eine ein Farbiger und der andere ein rassistischer Weißer, der voller Hass und Verachtung auf Ersteren herabblickte. Jetzt sind sie ununterscheidbar geworden - man kann sich aussuchen, wer wer ist. Hämischer als Robert Wise (und seine Drehbuchautoren Abraham Polonsky und Nelson Gidding) am Schluss von ODDS AGAINST TOMORROW kann man Rassismus kaum verhöhnen.

Earle Slater
Zurück zum Anfang. ODDS AGAINST TOMORROW ist die Geschichte dreier verkrachter Existenzen in New York City, die sich widerwillig zu einem Bankraub zusammenschließen. Johnny Ingram ist ein talentierter junger Nachtclubsänger, den seine Leidenschaft für Pferdewetten in den privaten und finanziellen Ruin getrieben hat. Seine Frau Ruth hat sich wegen seines Lebenswandels von ihm scheiden lassen, seine kleine Tochter Eadie darf er nur zu den genau festgesetzten, knapp bemessenen Zeiten sehen. Johnny kann kaum die Alimente für Ruth und Eadie zahlen, und er hat 7500 Dollar Schulden bei dem Gangsterboss Bacco, von denen er nicht weiß, wie er sie zurückzahlen soll - wenn er nicht beim nächsten Rennen gewinnt. Earle Slater, der Rassist, stammt aus den Südstaaten, und seit seiner Zeit bei der Armee hat er beruflich und privat nichts auf die Reihe gekriegt. Momentan ohne Job, ist er impulsiv und unberechenbar. Es ist Selbstmitleid und ein latenter Minderwertigkeitskomplex, den er mit seinem aggressiven Verhalten kaschiert. Slater saß schon zweimal im Gefängnis, das zweite Mal wegen Totschlags. Zahm ist er nur bei seiner Freundin Lorry, die einen guten Job hat und genug für beide verdient. Doch Slaters Ego verträgt es auf Dauer nicht, von ihr ausgehalten zu werden.

Dave Burke
Treibende Kraft des Bankraubs ist der gealterte Ex-Polizist Dave Burke. Er saß ein Jahr in Sing Sing ein, weil er vor einem Ausschuss zur Untersuchung des organisierten Verbrechens die Aussage verweigert hatte. Er sei da zum Sündenbock gestempelt worden, meint er zu Slater bei ihrer ersten Begegnung. Vielleicht war das so, vielleicht war er aber auch selbst in korrupte Machenschaften verstrickt. Wie sich nämlich zeigt, besitzt er einen guten Draht zu Bacco. Es ist Burke, der den Plan für den Überfall ausbaldowert und Johnny und Slater als Komplizen auserkoren hat, und der sie nun nacheinander zu sich bestellt. Slater sieht eine Chance, seine finanzielle Misere zu beenden, und sagt mit Vorbehalten zu. Johnny ist ein alter Bekannter von Burke, fast sind sie sogar Freunde - aber nur fast. Denn Johnny will zunächst sauber bleiben und lehnt seine Mitwirkung ab. Da greift Burke zu einem drastischen Mittel: Er wendet sich an Bacco, und der setzt daraufhin Johnny die Daumenschrauben an. Bacco verlangt die sofortige Zurückzahlung der Schulden, und um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen, droht er Johnny, sich an Ruth und Eadie zu vergreifen. Johnny weiß, dass es sich um keine leeren Drohungen handelt, und weil er keine andere Möglichkeit sieht, das Geld aufzutreiben, gibt er nun doch seine Zusage zur Mitwirkung. Doch als Slater erfährt, dass ein Farbiger mit von der Partie ist, will er nichts mehr damit zu tun haben und zieht sich zurück. Aber nach einem unerfreulich verlaufenden Tag, an dem Lorry befördert wird und noch mehr Geld verdient, während Slater mit der aufdringlichen Nachbarin Helen schläft, hält er es weniger denn je aus, ohne eigenes Einkommen dazustehen, und er steigt doch wieder ins Boot.

Bacco und Burke füttern Tauben - und hauen Johnny in die Pfanne
So findet sich also das ungleiche Trio zusammen. Und jeder der drei hat einen triftigen Grund dafür, auch Burke. Wenn er seinen beiden Komplizen seinen Plan schmackhaft machen will, spricht ihm zwar die nackte Geldgier aus den Augen, doch da ist noch mehr. Die Wände seiner kleinen Wohnung in einem heruntergekommenen Hotelbau, in dem der Wind durch das Treppenhaus pfeift, sind vollgepflastert mit Erinnerungsfotos, Urkunden und Ehrenplaketten aus 30 Jahren Polizeidienst. Es ist offenkundig, dass er noch nicht mit seiner Polizistenvergangenheit und deren unrühmlichem Ende abgeschlossen hat. Er will sich nicht nur materiell verbessern, sondern auch neue Reputation gewinnen. "Fifty grand can change it back", sagt er zu Johnny, und damit meint er die 50.000 Dollar, die jeder der drei als Beute zu erwarten hat. Wohlgemerkt, 50.000 Dollar von 1959, ungefähr das Achtfache wert wie dieser Betrag heute. - Als Ziel ausersehen ist die First National Bank in einer Kleinstadt am Hudson River, 100 Meilen nördlich von New York. (Der Ort namens Melton ist fiktiv, die dort spielenden Szenen wurden in Hudson gedreht.) In dieser Bank werden jeden Donnerstag die Lohngelder der örtlichen Firmen für die Auszahlung am folgenden Freitag bereitgehalten und in den Abendstunden die Tageseinnahmen der Geschäfte am Ort gezählt und in die Bücher eingetragen - ein Vermögen in kleinen, nicht registrierten Scheinen, das nur darauf wartet, von Burke und seinen Spießgesellen abgeholt zu werden. Denn in der Bank befinden sich dann nur einige harmlose Angestellte und ein alter, kurzsichtiger Wachmann. Man muss nur in die Bank hineinkommen, und genau dafür brauchte Burke unbedingt Johnny. Denn an jedem dieser Donnerstage bringt ein Kellner aus einer nahe gelegenen Imbissbude um 18:00 Uhr Verpflegung für die Bankangestellten an einen Seiteneingang, der dafür vom Wachmann kurz geöffnet wird. Dieser Imbiss-Bote ist ein Farbiger, und der Plan sieht vor, ihn kurzzeitig außer Gefecht zu setzen, während Johnny in einer identischen Kellner-Uniform an die Tür klopft. Wenn der kurzsichtige Wachmann erst einmal geöffnet hat, wird es leicht sein, ihn zu überwältigen, und der Rest ist ein Kinderspiel.

New York City ...
Am Tag des Überfalls fahren die drei getrennt nach Melton, um sich erst dort zu vereinen, und schon dabei kommt es zu Unregelmäßigkeiten im Ablauf. Slater fährt den hochfrisierten Fluchtwagen und tankt kurz vor dem Ziel, und dabei wirft der Tankwart aus reiner Neugier einen Blick unter die Motorhaube und erkennt mit dem Blick des Fachmanns, dass der äußerlich unscheinbare alte Kombi stark übermotorisiert ist, worauf Slater aufbrausend reagiert. Wird sich der Tankwart an ihn erinnern, wenn er von dem Überfall hört? Als Johnny in der Stadt flaniert, ereignet sich ein harmloser kleiner Autounfall - und ein Polizist spricht ihn direkt an und fragt ihn, ob er den Unfall gesehen hat. Johnny trägt eine Sonnenbrille, aber wird ihn der Polizist mit seinem geübten Blick später vielleicht trotzdem beschreiben oder wiedererkennen können? Zwischen Johnny und Slater herrschte seit ihrer ersten Begegnung eine aggressive Spannung, und Burke musste immer wieder beschwichtigend eingreifen. Nun, beim Treffen der drei auf einer Brache irgendwo am Rand von Melton, droht die Stimmung weiter zu eskalieren, und Burke kann nur mit Mühe verhindern, dass die beiden anderen jetzt schon übereinander herfallen. Da bis zum Abend noch einige Zeit bleibt, trennen sie sich vorerst wieder, um die Zeit totzuschlagen, durch zielloses Herumgehen oder Dasitzen und auf den Fluss Starren. In dieser Passage kommt die Handlung für fünf Minuten praktisch zum Stillstand. Nach klassischen Genre-Konventionen müsste man das als Durchhänger bezeichnen. Doch in Wirklichkeit ist der Film in dieser Sequenz völlig bei sich. Nicht durch Handlungselemente, aber durch eine Atmosphäre bleierner Langsamkeit und Schwere wird eines klargemacht: nämlich, dass die Protagonisten längst auf verlorenem Posten stehen. Um noch mit heiler Haut davonzukommen, müssten sie schleunigst zusammenpacken und verschwinden. Doch selbst wenn jeder einzelne von ihnen das wollte, würden sie durch ihre interne Gruppendynamik daran gehindert werden.

... und Melton / Hudson
So nimmt das Verhängnis also seinen Lauf. Unmittelbar vor dem Überfall weicht Slater vom Plan ab. Entgegen der Abmachung gibt er Johnny nicht die Autoschlüssel für den Fluchtwagen, sondern er behält sie zunächst selbst und gibt sie dann in der Bank an Burke weiter. Der Überfall selbst verläuft zunächst wie geplant. Der Wachmann kann problemlos überwältigt werden, und in der Bank gibt es keine Überraschungen. Doch als Burke als erster die Bank verlässt, steht zufällig ein Polizeiwagen ganz in der Nähe. Burke wird zum Stehenbleiben aufgefordert, und als dann Sekunden später die Alarmsirene der Bank losgeht, kommt es sofort zur Schießerei mit den Polizisten. Burke wird getroffen und bricht fluchtunfähig zusammen. Statt seinen Lebensabend im Gefängnis zu verbringen, zieht er es vor, sich eine Kugel in den Kopf zu schießen. Johnny und Slater könnten jetzt noch mit dem schnellen Wagen fliehen - wenn sie den Schlüssel hätten. Doch der liegt jetzt vor Burke auf der Straße, mitten im Schussfeld der Polizei. So bleibt nur die Flucht zu Fuß, und aus dem Schusswechsel mit der Polizei wird dabei eine Schießerei der beiden Kontrahenten gegeneinander. Der finale Showdown findet auf den Dächern riesiger Treibstofftanks statt. Es kommt, wie es kommen muss: Eine Kugel schlägt an der falschen Stelle ein, und alles fliegt mit einem gewaltigen Rumms in die Luft (wie es zehn Jahre zuvor schon James Cagney in Raoul Walshs WHITE HEAT widerfuhr). Als i-Tüpfelchen folgt der schon geschilderte Epilog mit den Sanitätern und Polizisten. Als die Leichen abtransportiert werden, gerät ein Schild mit der Aufschrift "STOP - DEAD END" ins Bild.

Zwei Seiten von Slater - mit Lorry und Helen
ODDS AGAINST TOMORROW wird meist als Film noir bezeichnet. Das ist auch nicht falsch, aber von den klassischen Vertretern der Gattung aus den 40er und frühen 50er Jahren unterscheidet er sich doch deutlich. 1959 gedreht, weist er schon deutlich in die 60er Jahre. Das beginnt schon mit der Titelsequenz, die mit abstrakt-grafischen Ornamenten gestaltet ist, und die an Kreationen des großen Meisters Saul Bass erinnert. Heute noch modern wirkt auch der unterkühlt-jazzige Soundtrack des Films. Geschrieben wurde er von John Lewis, dem musikalischen Vordenker und Pianisten des Modern Jazz Quartet. Diese Formation verband Bebop und Cool Jazz mit Einflüssen europäischer Klassik und bewahrte dabei eine dezente Blues-Note. Lewis und seine drei Kollegen im Modern Jazz Quartet spielten die Musik auch ein, unterstützt von einigen weiteren Solisten und einem Orchester. Der Soundtrack erschien 1959 auch auf LP. - Die Außenaufnahmen - von denen es reichlich gibt - wurden komplett on location in New York und in Hudson gedreht, und die Innenaufnahmen entstanden auch nicht in Hollywood, sondern in einem altehrwürdigen Studio in der Bronx, das einst der Biograph Company gehört hatte. ODDS AGAINST TOMORROW knüpft damit nicht an die klassischen Noirs an, die meist komplett im Studio produziert wurden, sondern an die Semidocumentaries wie etwa Jules Dassins THE NAKED CITY (1948), in dem der "Big Apple" New York der eigentliche Star des Films ist. - Nicht neu, aber selten genutzt war ein Stilmittel, das Robert Wise unbedingt einmal ausprobieren wollte, wozu er jetzt die Gelegenheit hatte, nämlich den Einsatz von Infrarot-empfindlichem Film in manchen Szenen (das hatte beispielsweise auch schon Leni Riefenstahl bei DAS BLAUE LICHT gemacht). Noir-typisches low key lighting gibt es dagegen wenig, und die meisten Szenen spielen im Tageslicht.

Johnny bei Ruth und Eadie
Produziert wurde ODDS AGAINST TOMORROW von einer kleinen und kurzlebigen Firma namens HarBel Productions, und "HarBel" bedeutete nichts anderes als "Harry Belafonte". Tatsächlich war Belafonte die treibende Kraft des Films. Durch Hits wie "Matilda", "Island in the Sun" und dem "Banana Boat Song" bereits berühmt und wohlhabend geworden, konnte er es sich leisten, seine eigene Produktionsfirma zu gründen. ODDS AGAINST TOMORROW war ihr erster Film, allerdings war er kommerziell erfolglos, und nachdem ein oder zwei weitere von HarBel produzierte Filme an der Kasse auch durchfielen, gab Belafonte seine Ambitionen als Produzent schnell wieder auf. In den Credits von ODDS AGAINST TOMORROW wird er nicht genannt, aber er war tatsächlich der Executive Producer, also der, der letztlich zahlt und anschafft. Und er war es, der den Stoff auswählte (nach einem Roman eines William McGivern, von dem der Film dann vor allem am Schluss erheblich abweicht), und der Abraham Polonsky als Drehbuchautor und Robert Wise als Regisseur verpflichtete. In den Credits steht "Directed and produced by Robert Wise", aber in seiner Eigenschaft als Produzent war Wise nur für die praktischen Tagesentscheidungen beim Dreh zuständig - der Chef war Belafonte. Belafonte hatte damals auch schon als Schauspieler reüssiert, vor allem mit der männlichen Hauptrolle in Otto Premingers CARMEN JONES, so dass es keine Hybris war, sich selbst mit der Rolle des Johnny zu betrauen. Tatsächlich hatte er HarBel auch dazu gegründet, sich selbst Rollen von starken, unabhängigen Charakteren abseits subalterner Klischee-Schwarzer zu verschaffen (auch in dieser Hinsicht ist ODDS AGAINST TOMORROW meilenweit von den Noirs der 40er Jahre entfernt). Es war auch Belafonte, der das Modern Jazz Quartet ins Spiel brachte, aber Wise war von dieser Idee auch gleich begeistert.

Killens oder Polonsky? Auflösung unten im Text
Über Robert Wise, einen der vielseitigsten Regisseure, die Hollywood hervorgebracht hat, will ich hier nicht viele Worte verlieren, und dafür ein bisschen über Abraham Polonsky (1910-1999) berichten, dessen Drehbuch schon mehr oder weniger fertig war, als Wise engagiert wurde. Polonsky war Kommunist und machte kein großes Geheimnis daraus. Im Krieg war er beim militärischen Geheimdienst OSS in Frankreich aktiv, danach schrieb er u.a. die Drehbücher zu Robert Rossens BODY AND SOUL und den von ihm selbst inszenierten FORCE OF EVIL, beide mit John Garfield in der Hauptrolle. 1951 wurde Polonsky von Sterling Hayden (der auch beim OSS gewesen war) vor dem einschlägigen Kongressausschuss unamerikanischer Umtriebe bezichtigt. Daraufhin selbst vorgeladen, weigerte er sich, seinerseits Namen zu nennen, und wurde deshalb von seinem damaligen Studio 20th Century Fox gefeuert und auf die Schwarze Liste gesetzt. In den 50er Jahren lebte er dann hauptsächlich als ungenannt bleibender Drehbuchautor von TV-Serien. Unter wechselnden Pseudonymen soll er auch weiterhin an Kinofilmen beteiligt gewesen sein, aber anscheinend ist nichts Näheres darüber bekannt, um welche Filme es sich handelte und wie er sich jeweils nannte. ODDS AGAINST TOMORROW ist jedenfalls der erste Film nach Polonskys Blacklisting, bei dem seine Mitwirkung gesichert ist. Weil aber die Schwarze Liste damals noch Bestand hatte, war er in den Credits als John O. Killens aufgeführt. Dieser Name war nicht erfunden, sondern Killens war ein schwarzer Schriftsteller, und ein guter Freund von Belafonte, der sich hier als Strohmann zur Verfügung stellte. Als weiterer Drehbuchautor von ODDS AGAINST TOMORROW ist Nelson Gidding (1919-2004) gelistet. Gidding war ein Freund von Robert Wise, und er schrieb allein oder gemeinsam mit anderen bei vier weiteren Wise-Filmen das Drehbuch, nämlich I WANT TO LIVE!, THE HAUNTING, THE ANDROMEDA STRAIN und THE HINDENBURG. Ich bin nicht sicher, ob Gidding bei ODDS AGAINST TOMORROW als zusätzlicher Strohmann eingeführt wurde, sozusagen zur doppelten Absicherung, oder ob er noch nennenswert zum Script beitrug, das ja eigentlich schon fertig war, als er dazustieß. Falls Letzteres, war sein Beitrag jedenfalls deutlich kleiner als der von Polonsky. Bemerkenswert ist übrigens, dass die Involvierung von Polonsky nicht nur dem engsten Kreis um Belafonte und Wise bekannt war, sondern mit semi-offizieller Billigung durch United Artists geschah, die den Vertrieb von ODDS AGAINST TOMORROW übernahm. 1997, zwei Jahre vor seinem Tod, wurde Polonsky von der Writers Guild of America offiziell als Autor von ODDS AGAINST TOMORROW anerkannt.

Typisch Noir - in diesem Film eher die Ausnahme
Der Banküberfall gegen Ende des Films nimmt nur wenig Raum ein, viel mehr Zeit und Gewicht bekommen davor die Interaktionen der drei Protagonisten untereinander und mit ihrem jeweiligen Umfeld: Johnny als Sänger und Vibraphonist in einem verrauchten Nachtclub. Sein letzter Besuch bei Ruth, wobei er als Fremdkörper wirkt, weil sie gerade mit ihren honorigen (und überwiegend weißen) Bekannten von der Eltern-Lehrer-Vereinigung (PTA) eine Sitzung abhält. Sein letzter Ausflug mit Eadie in den Central Park. Als er nach dem Ausflug mit Ruth allein ist, wird deutlich, dass er sie noch immer liebt, aber sein Versuch, wieder eine Brücke zu ihr zu bauen, wird abgeblockt. Belafonte gibt diesen zornigen jungen Mann zwischen Verzweiflung und Selbstbehauptungswillen sehr überzeugend. Und Earle Slater und sein kompliziertes Verhältnis zu Lorry, sein Seitensprung mit der verheirateten Helen, und seine brutale Überreaktion, als er in einer Bar von einem vorlauten jungen Soldaten provoziert wird. Robert Ryan - privat ein netter Mensch - wohnte damals in derselben Gegend wie Belafonte, und sie waren gut miteinander bekannt, ihre Kinder gingen zusammen zur Schule. Wie so oft in seiner Karriere spielt Ryan hier keinen platten, eindimensionalen Schurken, sondern einen getriebenen Charakter, in dessen Abgründe man hineinschauen, die man aber nicht ausloten kann. Auch Ed Begley gibt eine famose Vorstellung. Er stand in seiner Karriere selten in der ersten Reihe, glänzte aber in prägnanten Nebenrollen, etwa in TWELVE ANGRY MEN, SWEET BIRD OF YOUTH, BILLION DOLLAR BRAIN (wo er als durchgeknallter Milliardär mit einer Privatarmee die Sowjetunion erobern will und von Michael Caine als Agent Harry Palmer daran gehindert wird) oder in dem vom Italowestern beeinflussten HANG 'EM HIGH mit Clint Eastwood. - Die überzeugenden Darsteller, Wise, Polonsky, die Musiker, der Kameramann Joseph Brun und Belafonte als Mastermind des Ganzen haben einen Film gemacht, der heute auf mich zeitlos modern wirkt.

Zeit totschlagen bis zum Abend
ODDS AGAINST TOMORROW ist u.a. in den USA und in England auf DVD erschienen. In der US-DVD von MGM, die ich besitze, ist in den Credits tatsächlich Polonsky statt Killens aufgeführt. Der Soundtrack ist auf CD und Vinyl zu haben. Derzeit ist ODDS AGAINST TOMORROW auch auf drei Portionen verteilt auf YouTube zu sehen.

Eine Lunchbox als Sesam-öffne-dich; der Autoschlüssel - unerreichbar

Montag, 22. Juni 2015

Howard Hawks zu Gast bei Jess Franco

X312: FLUG ZUR HÖLLE
Bundesrepublik Deutschland / Spanien 1971
Regie: Jess Franco
Darsteller: Thomas Hunter (Tom), Esperanza Roy (Anna Maria Vidal), Fernando Sancho (Bill der Steward), Gila von Weitershausen (Steffi), Siegfried Schürenberg (Alberto Rupprecht), Howard Vernon (Pedro)


Vor einigen Wochen schrieb ich in meinem Bericht zum goEast-Festival 2015 über einen Film, der die „trashig-sleazige“ Seite von Artur Brauners Wirken als Filmproduzent veranschaulichte. Nun, im Gegensatz zur „Riskanten Welle“, die sich auf einen Film beschränkte (also ČOVEK I ZVER), war Brauner in diesem Bereich etwas umfangreicher tätig. So produzierte er ab Anfang der 1970er Jahre mehrere Filme des Eurosleaze-Papstes Jess Franco, darunter VAMPYROS LESBOS, DR. M SCHLÄGT ZU (eine Art Mabuse-Ripoff, wenn man das wirklich so sagen möchte), DER TODESRÄCHER VON SOHO (nach einer Vorlage von Edgar Wallaces Sohn Bryan Edgar) – und eben X312: FLUG ZUR HÖLLE. Das Arbeitsverhältnis Brauners mit Franco war wohl enger als mit Menahem Golan, da er mit dem Spanier zusammen auch die Drehbücher verfasste.

Stets mit charmantem Lächeln, oft mit schmackhaftem
Drink in Griffweite: Tom (hier im Beicht-Modus)
Irgendwo in einer brasilianischen Küstenstadt lässt sich ein etwas müde aussehender Mann zu einem Bürogebäude chauffieren. Dort setzt er sich in einen Arbeitsraum, greift nach den beiden Arbeitsgegenständen, die er in den nächsten Stunden brauchen wird – nämlich eine Flasche Scotch mit Glas und ein Diktiergerät – und beginnt seine Erzählung, oder man möchte fast sagen: seine Beichte. DOUBLE INDEMNITY-mäßig erinnert er sich an die vergangenen, todbringenden Ereignisse. Tom, der im „wahren“ Leben als Reporter arbeitet, ist zusammen mit einer Gruppe von mehr oder minder bizarren Passagieren in einem holprigen Flugzeug aus Chile geflohen (wir schreiben das Jahr 1971: Salvador Allende ist der erste Marxist, der in demokratischen Wahlen Ende 1970 zum Präsident eines lateinamerikanischen Landes gewählt wurde – für manche Leute in Chile und international ein geradezu apokalyptisches Ereignis, wesentlich apokalyptischer als die Ereignisse Ende 1973. Jedenfalls greift der Film diese „Rote-Socken“-Panik auf, zumindest am Rande). Unter Toms Co-Passagieren findet sich ein hunde- und männerliebender spanischer Adeliger, eine ultranervige US-amerikanische Touristin, die naive junge Wienerin Steffi, ein junger Mann namens Carlos, der besagter Steffi schöne Augen macht, der grobschlächtige Steward Bill und eine mysteriöse Schönheit namens Anna Maria Vidal. Vor allem aber fliegt der ehemalige Chef der chilenischen Nationalbank Alberto Rupprecht mit einem Aktenkoffer voller Kostbarkeiten mit. Dumm nur, dass dies nicht geheim gehalten wurde und er nur einen Bodyguard dabei hat, der sich auch noch auf dem Flugzeugklo wie ein kleiner Amateur von einem Gangster erschießen lässt. Der Gangster allerdings, der den Auftrag hat, die Maschine zu einem mit seinen Auftraggebern ausgemachten Treffpunkt umleiten zu lassen, ist auch nicht der Geschickteste: den Piloten kann er im Cockpit nicht unter Kontrolle bringen und die Maschine stürzt ab. So findet sich die illustre Gesellschaft mitten im brasilianischen Dschungel wieder. Der Survival-Marsch beginnt. Würze in das ganze bringt die Tatsache, dass alle auf den Inhalt von Alberto Rupprechts Koffer neugierig sind, und die gröberen unter ihnen (zum Beispiel der Steward Bill) durchaus bereit sind, über Leichen zu gehen.

So weit, so banal, möchte man sagen. X312: FLUG ZUR HÖLLE könnte ein fürchterlicher Langweiler sein (und die ersten zehn Minuten deuten ein wenig in diese Richtung). Dennoch ist der Film, wenn man keine allzu bornierte Sichtweise auf Kino und seine Magie hat, wunderbar gelungen. Und zugespitzt ausgedrückt könnte man sagen: er ist gelungen, trotzdem Jess Franco auf dem Regiestuhl saß und gleichzeitig eben weil der exzentrische Spanier den Film gedreht hat.

Zum „trotzdem“: X312: FLUG ZUR HÖLLE ist ein Actionfilm mit leichtem Survival-Thriller-Touch, also ein Stoff, der eine effiziente, ökonomische, dynamische Inszenierung verlangt, mit einem Drehbuch, das recht schnörkellos von A nach B führt. Das sind nicht gerade Attribute, die man mit Jess Franco in Verbindung bringt, bei dem eine Striptease-Szene sich auch über ganze fünf Minuten hinziehen kann und dessen Filme im Allgemeinen eher frei assoziativ als kompakt zusammengeschnürt sind. Die Gratwanderung gelingt ihm dennoch und mit X312: FLUG ZUR HÖLLE ist etwas herausgekommen, das man wohl als so etwas wie einen „straighten“ Jess-Franco-Actionfilm bezeichnen kann (aber bei über 200 Filmen kann es durchaus vielleicht noch ein weiteres halbes Dutzend von dieser Sorte geben).

X312: FLUG ZUR HÖLLE ist tatsächlich als Actionfilm im wörtlichen Sinne inszeniert, als Aktionsfilm, als Film der permanenten Bewegung. Bei Franco bewegt sich die Kamera meistens nicht, sie zoomt, rein, raus, wieder rein, und das nicht zu wenig. Und was hier Franco liefert, ist ein schwindelerregendes Crashzoom-Feuerwerk ohnesgleichen. Kein Stillstand, immer Bewegung, Schnitt von einem Zoom in den nächsten. X312: FLUG ZUR HÖLLE wurde mehr am Schneidetisch realisiert als „in“ der Kamera. Das betrifft natürlich auch den Zusammenschnitt aus holprigen Studiodrehs mit Aufnahmen, die sehr offensichtlich von der Second Unit gedreht wurden oder gar Stockmaterial sind und der bei Jess Franco fast schon als „auteuristisches“ Statement erscheinen kann. Was in einigen seiner anderen Filme nicht recht überzeugt, weil es den Bogen dann doch überspannt, funktioniert hier wunderbar. Franco übt sich sogar ein wenig darin, Stockmaterial zu sparen, wenn die Explosion des Flugzeugwracks so gefilmt wird, dass sie nur zu hören bzw. auf den schockierten Gesichtern der Verunglückten zu sehen ist.

So schön kann es sein, sich zu verlieben!
Wohldosierte Zärtlichkeit in einer erbarmungslosen Welt
In den ersten Minuten des Films überwog bei mir noch die Skepsis. Die „Vorstellung“ der Flugpassagiere durch Tom im Off weckte mein Interesse, weil die teils gekippt gefilmten Bilder der Gesichter so bizarr und elliptisch zusammengeschnitten wurden. Die kurze Zwischenlandung in einer schmierigen Dschungelbar (wo Alberto Rupprecht zusteigt) nahm mich schließlich ganz für den Film ein. Steffi, die Wienerin, sitzt Carlos gegenüber. Den Kuschelbär, den sie im Flugzeug auf dem Nebensitz angeschnallt hatte, hat sie für die Zwischenlandung mit raus genommen (wie sie überhaupt auch später im Dschungel den Teddybären immer mit sich und ihn sogar zwischendurch zu Carlos' Radio tanzen lässt!). Carlos hingegen hat sein tragbares Radio auf den Tisch gestellt: es läuft gerade ein leichter Schlager und der Junge Mann beginnt, fröhlich die Melodie mitzupfeifen, während er die Wienerin dabei anschaut. Steffi, die bislang die Blicke Carlos‘ eher uninteressiert, wenn nicht sogar etwas genervt entgegennahm, fängt an zu lächeln! Später kriegen die beiden vor lauter Lächeln und Pfeifen gar nicht mit, dass es mit dem Flug weitergehen soll und der Steward muss sie schon sehr laut auffordern, mitzukommen. Die Szene in der schmierigen Dschungelbar ist überhaupt toll: das Dekor ist wahrscheinlich eher eine bundesdeutsche Kantine, aber das „Beba CocaCola“-Schild und ein Pflanzentopf mit brasilianischer Flagge teilen uns mit, dass wir uns im südamerikanischen Dschungel befinden. Bill tauscht ein paar Worte mit dem Kneipier aus (der für den Steward natürlich noch ein kaltes Getränk im Hinterzimmer übrig hat). Tom ist offenbar verkatert und deswegen trinkt er ein großes Glas Rum mit einer darin aufgelösten Aspirintablette. Die mysteriöse Schönheit namens Anna Maria Vidal, die später im Film wichtig wird, sitzt weiterhin hinten, raucht und sieht dabei verführerisch und mysteriös aus. Dann geht‘s weiter.

Edelsteine mit klangvollen Namen
Von Hawks‘ianischer Figurencharakterisierung zu sprechen ginge vielleicht zu weit, aber tatsächlich werden die Figuren in X312: FLUG ZUR HÖLLE hauptsächlich über ihre Handlungen und nicht über ihre Auslassungen charakterisiert. Stichwort Hawks: der hat zusammen mit einigen anderen großen Regisseuren ein kleines Cameo in einer der wohl wunderlichsten Details dieses an Details sehr reichen Films. In der Aktentasche des Alberto Rupprecht befindet überhaupt kein Geld, sondern gewöhnlicher Plunder – und ein unscheinbares Zigarrenkarton, das einige wertvolle Edelsteine enthält. Das findet Bill heraus, nachdem er Rupprecht ermordet und den Krokodilen zum Fraß gegeben hat. Die weggeworfene Zigarrenschachtel findet später Anna Maria Vidal, und darin befindet sich ein Papier mit der Auflistung der Edelsteine – und ihrer Namen!

Aufgelistet von den teuersten zu den billigsten (unter den Namen, die erkennbar sind) handelt es sich um:
[Howard] „Hawks“ – 374.000 $
[Buster] „Keaton“ – 325.000 $
[Nicholas] „Ray“ – 243.000 $
[Ernst] „Lubitsch“ – 198.000 $
[Max] „Ophuls“ – 145.000 $
[Josef von] „Sternberg“ – 121.000 $
[George] „Cukor“ – 120.000 $
[Alexander] „Dovjenko“ – 117.000 $
[Budd] „Boetticher“ – 90.000 $
„Scarface“ – 88.000 $ (zwei Mal Hawks kann nie schaden?)
(Ohne Pause- und Einzelbild-Funktion beim DVD-Player hätte ich Sternberg vielleicht nicht und Cukor sicherlich gar nicht entdeckt.)
Wenn ich den Film bis zu diesem Zeitpunkt auch schon vorher mochte: spätestens da habe ich mich in ihn verliebt. Mitten im Urwald in einem wilden Action-Survival-Exploiter eine Liste mit den „teuersten“ Regisseuren rauszuholen, das hat schon irgendwie Klasse! Ob das Francos und Brauners gemeinsame Liste ist? Dass Franco den Surrealisten Keaton, den expressionistischen Seelenerkunder Ray und den abstrakten Minimalisten Boetticher mochte, wäre zumindest nicht verwunderlich.

Nackte Haut; grausame Tode; Howard Vernon mit Bräunungscreme
und Goldkettchen; Faustkampf auf dem Lastwagen
X312: FLUG ZUR HÖLLE bleibt dennoch ganz und gar ein Franco-Film. Am deutlichsten wird dies in den Szenen, die man als „Sleaze-Inserts“ bezeichnen könnte. Anna Maria Vidal, die ausgiebig zur treibenden Musik Bruno Nicolais in einer Dschungelkaskade badet – dann wird sie von einer Schlange bedroht und von Tom gerettet, der ihr mitteilt, dass er sie wie die Schlange die ganze Zeit beobachtet hat. Oder Anna Maria Vidal, die später von der Freundin des schmierigen Dschungelgangsters Pedro (Howard Vernon mit angeklebtem Schnurrbart und Bräunungscreme) auf dessen Anordnung vergewaltigt wird, bevor er dann selber ranmöchte (dumm für ihn, dass er in seinem Zimmer Stichwaffen so offen rumliegen lässt).

Am Franco-istischsten ist vielleicht der Umgang mit dem gewaltsamen Tod der Figuren. So unfeierlich, dreckig, klanglos, gänzlich von jeglichem Pathos entledigt sterben in Filmen wohl nur wenige Figuren außerhalb des Franco-Universums. Das betrifft nicht nur „Pappkameraden“ am Rande, sondern den harten Kern der Figurenriege. Die zarte Liebe, die Franco zwischen Steffi, Carlos, seinem Radio und ihrem Teddybär sanft aufbaut, ist ein zartes Pflänzchen, das vor Pfeilen, Messern, Gruppenvergewaltigungen und Kopfschüssen nicht sicher ist. Ein einfaches Abenteuer-Survival-Filmchen mit Diamantenraub-Subplot hätte jeder drehen können. Für einen holprigen Exploiter voller irritierender Brüche, der weder schmachtenden Kitsch noch wahrhaftig Abgründiges verschmäht, der den Zuschauer zwischendurch geradezu auf die Schnauze fallen lässt, brauchte es schon einen Exzentriker wie Franco.

X312: FLUG ZUR HÖLLE ist in Deutschland auf einer DVD von Pidax erhältlich. Ton und Bild sind in Ordnung, wirklich mehr, was man auf dieser Edition gut oder schlecht finden könnte, gibt es nicht, außer vielleicht, dass der Film hier im Gegensatz zur britischen DVD offenbar ungekürzt ist.