Donnerstag, 17. Juli 2014

Argentinische Chronik einer Kindheit

CRÓNICA DE UN NIÑO SOLO (engl. CHRONICLE OF A BOY ALONE, auch CHRONICLE OF A LONELY CHILD)
Argentininen 1965
Regie: Leonardo Favio
Darsteller: Diego Puente (Polín), Victoriano Moreira (Fiori), Leonardo Favio (Fabián), Beto Gianola (Polizist), Tino Pascali (Justizbeamter)

Polín mit alter und neuer Frisur
Der elfjährige Celedón Rosas, von allen nur "Polín" genannt, ist Insasse eines Erziehungsheims für Jungen irgendwo im Großraum Buenos Aires. Der Ort gleicht mehr einer Kadettenanstalt als einer Schule, die Erwachsenen sind eher Wärter als Erzieher, etwa der knochentrockene Fiori, der mit den Jungen hauptsächlich per Trillerpfeife kommuniziert. Polín und die anderen träumen von Flucht, untereinander herrscht teilweise Solidarität, teilweise Rivalität - so kommt es zu einer Prügelei zwischen dem für sein Alter schon ziemlich abgebrühten Polín und einem anderen Jungen um die soziale Hackordnung, ohne große Begeisterung von beiden, aber die Spielregeln lassen keinen Rückzieher zu. Dummerweise werden sie von Fiori überrascht, was demütigende Strafmaßnahmen nach sich zieht. Als Fiori eines Tages wieder einmal Polín aus geringfügigem Anlass schlägt, kann sich dieser nicht mehr beherrschen und schlägt zurück. Das hätte er besser nicht getan, denn jetzt landet er zunächst auf dem Polizeirevier und dann in einer Arrestzelle. Doch mit Hilfe seines Gürtels und einer akrobatischen Einlage gelingt ihm die Flucht.

Im Heim
Zu Fuß und mit dem Bus macht sich Polín auf den Weg nach Hause, in eine Slumsiedlung (in Argentinien villa miseria genannt) in den Außenbezirken von Buenos Aires. Im Bus zeigt sich, wie abgebrüht Polín schon ist: Er klaut einem anderen Fahrgast ein Geldbündel aus der Tasche, und es ist offensichtlich, dass er das nicht zum ersten Mal macht. Zuhause nehmen Políns Eltern seine unerwartete Rückkehr mit gelinder Überraschung und wenig Begeisterung zur Kenntnis. Weil ein Nachbar auf etwas unklare Weise zu Tode gestürzt ist, herrscht in der Siedlung gerade erhöhte Polizeipräsenz, was Polín nervös macht. Deshalb macht er sich mit einem befreundeten Jungen erst mal davon, um einige Stunden beim Baden an einem nahen Fluss zu verbringen. Doch auch dort herrscht bald dicke Luft: Drei andere Jungen machen sich über Políns fast kahl geschorenen Schädel, den er im Gefängnis erhalten hat, lustig, und sie vergreifen sich an seinem Freund, mit dem sie noch eine Rechnung offen haben, während Polín aus sicherer Entfernung tatenlos zusehen muss. Zurück in der Siedlung, begegnet Polín dem jungen Zuhälter Fabián (von Favio selbst gespielt). Der will seine Kutsche, die von einer alten Schindmähre gezogen wird, demnächst gegen einen Ford eintauschen, deshalb macht er Polín das Angebot, ihm den Gaul zu verkaufen. Im Grunde ein illusorischer Vorschlag, aber Polín gerät darüber ins Träumen. Nach Einbruch der Dunkelheit schleicht sich Polín zu Fabiáns schäbigem Slum-Puff und beobachtet das Treiben der Schlange stehenden Freier, dann schnappt er sich das Pferd und macht damit einen nächtlichen Spaziergang. Doch er läuft geradewegs einem Polizisten in die Arme, der aufgrund Políns Gefängnisfrisur den Braten riecht und ihn mitnimmt. Políns Freiheit hat gerade mal einen Tag gedauert.

Fiori mit seinem bevorzugten Kommunikationsmittel
Leonardo Favios erster Spielfilm über ein Kind an der fließenden Grenze zwischen Rebellion und Kriminalität muss sich hinter Klassikern des Genres wie Buñuels LOS OLVIDADOS nicht verstecken - im Gegenteil, er ist selbst ein Klassiker des argentinischen Films. Favio hält sich von Sentimentalität und übertriebener Dramatik fern und betätigt sich als nüchterner Chronist der Zustände - das CRÓNICA im Titel hat durchaus seine Berechtigung. Neben Dialogpassagen gibt es immer wieder längere wortlose Sequenzen, teilweise als ausgetüftelte Plansequenzen gestaltet. Musik wird sehr sparsam eingesetzt, nur drei oder vier Passagen sind mit klassischer Musik unterlegt. Diese Szenen haben mich etwas an Bresson erinnert, speziell an EIN ZUM TODE VERURTEILTER IST ENTFLOHEN. Die eine oder andere Anleihe bei der Nouvelle Vague gibt es auch, und im Gestus steht der Film auch dem Neorealismus nicht fern, vor allem die zweite Hälfte in der villa miseria. Man kann gelegentlich lesen, CRÓNICA DE UN NIÑO SOLO sei nicht nur eine Anklage gegen die Zustände in den staatlichen Besserungsanstalten und Waisenhäusern, sondern auch gegen das "faschistische Regime" in Argentinien im Allgemeinen. Allerdings war von 1963 bis 1966 eine zivile Regierung unter einem demokratisch gewählten Präsidenten an der Macht - im Argentinien der 50er und 60er Jahre nicht die Regel, sondern die Ausnahme. Und der Präsident wurde denn auch 1966 durch einen Militärputsch gestürzt, und es regierten wieder Generäle. Dieses Regime war zwar weit weniger schlimm als die Militärjunta, die nach dem Putsch von 1976 Zehntausende foltern und ermorden ließ, aber alles andere als liberal war es dennoch. CRÓNICA DE UN NIÑO SOLO gewann Preise auf den Festivals von Mar del Plata in Argentinien und Acapulco in Mexiko, und er erhielt den argentinischen Filmpreis Cóndor de Plata (Silberner Kondor) für den besten Film - und dann wurde er verboten. Das Verbot überdauerte auch die Wiederherstellung der Demokratie in den 80er Jahren. Erst 1996, nach drei Jahrzehnten, wurde CRÓNICA DE UN NIÑO SOLO wieder aus dem Giftschrank geholt. Und noch heute ist er in Argentinien erst ab 18 freigegeben (was vielleicht daran liegt, dass Polín und zwei der anderen Jungen bei der langen Sequenz am Fluss keine Badehosen tragen).

In der Zelle
Leonardo Favio (1938-2012), als Fuad Jorge Jury in der argentinischen Provinz Mendoza geboren, entstammte einer Familie syrisch-libanesischer Herkunft. Favio hatte eine schwierige Kindheit und Jugend - er wuchs in einem Armenviertel auf, der Vater verließ die Familie früh, die Mutter strampelte sich ab, um die Kinder durchzubringen, und der halbwüchsige Leonardo kam mit dem Gesetz in Konflikt und sah auch das Gefängnis von innen. CRÓNICA DE UN NIÑO SOLO trägt also autobiografische Züge - das Drehbuch schrieb Favio gemeinsam mit seinem Bruder Jorge Zuhair Jury, der regelmäßig als Co-Autor für Favio arbeitete und auch selbst einige Filme inszenierte. Nach Verirrungen als Priesterseminarist und bei der Marine wurde Favio als junger Mann schließlich Schauspieler und fand damit seinen Weg. Von 1957 bis 1971 spielte Favio in gut 20 Filmen, insbesondere in sechs Filmen von Leopoldo Torre Nilsson, der ihn förderte, und mit dem sich Favio befreundete. In einer Texttafel am Anfang von CRÓNICA DE UN NIÑO SOLO widmet Favio den Film seinem Mentor Torre Nilsson. Seine frühen Auftritte, etwa in Torre Nilssons EL SECUESTRADOR und LA MANO EN LA TRAMPA verschafften dem gutaussehenden Favio den Ruf eines argentinischen James Dean. Doch bald zog es ihn auch hinter die Kamera. Nach zwei Kurzfilmen, einer davon unvollendet, war CRÓNICA DE UN NIÑO SOLO wie erwähnt Favios erster Spielfilm, dem bis 2008 sieben weitere folgen sollten. Und seit den 60er Jahren verfolgte Favio noch eine dritte Karriere, nämlich als Sänger und Songschreiber von Balladen, mit denen er nicht nur in Argentinien, sondern auch in anderen lateinamerikanischen Ländern ungemein populär war.

Villa miseria
Favio war ein langjähriger und prominenter Anhänger von Juan Perón und seiner Politik. Als Perón 1972 von Spanien zu einem kurzen Besuch nach Argentinien flog, um das mögliche Ende seines Exils zu erkunden, war Favio auf Peróns Einladung mit an Bord der Maschine, und als es bei Peróns offizieller Rückkehr aus dem Exil 1973 beim Flughafen von Buenos Aires zum "Massaker von Ezeiza" (ein Anschlag des rechten Flügels der Peronisten auf den linken Flügel) kam, befand sich Favio mitten im Getümmel und versuchte vergeblich, die Schießerei zu beenden. 1975 drehte er mit NAZARENO CRUZ Y EL LOBO seinen kommerziell erfolgreichsten Film, 1976 folgte noch ein Film (in dem Argentiniens tragischer Box-Heroe Carlos Monzón eine Hauptrolle spielt), aber dann war Favios Regiekarriere schon fast vorbei. Als die peronistische Regierung unter Isabel Perón (Juan Perón war mittlerweile verstorben) 1976 vom Militär gestürzt wurde und der "schmutzige Krieg" gegen Oppositionelle (und solche, die man dafür hielt) begann, ging Favio ins Exil, das er größtenteils in Kolumbien verbrachte, und das für ihn bis 1987 dauerte. Filme drehte er in den Jahren des Exils nicht, aber seine Musikkarriere konnte er mit Plattenveröffentlichungen und ausgedehnten Tourneen durch halb Lateinamerika nahtlos fortsetzen.

Auszeit am Fluss
Nach seiner Rückkehr inszenierte er 1993 und 2008 noch zwei Spielfilme, wobei er insbesondere mit seinem letzten Film ANICETO (ein Remake seines zweiten Spielfilms EL ROMANCE DEL ANICETO Y LA FRANCISCA von 1967) wieder an alte Erfolge anknüpfen konnte. Dazwischen hatte er 1999 die fast sechsstündige Dokumentation PERÓN, SINFONÍA DEL SENTIMIENTO über sein politisches Idol (und damit über ein paar Jahrzehnte argentinischer Geschichte) veröffentlicht, die, wie nicht anders zu erwarten, von Anhängern und Gegnern des Peronismus sehr unterschiedlich beurteilt wurde. In den letzten 15 oder 20 Jahren von Favios Leben hatte bereits seine Kanonisierung eingesetzt. 1998 ließ das argentinische Magazin Tres Puntos in einer Umfrage unter 100 Filmschaffenden den besten argentinischen Regisseur und die besten fünf argentinischen Filme aller Zeiten ermitteln, und dabei landeten Favio und seine erste ANICETO-Version jeweils auf dem ersten Platz, und als zwei Jahre später das Museo Nacional de Cine Argentino in einer weiteren Umfrage unter 100 Kritikern und Filmhistorikern nach den 100 besten argentinischen Tonfilmen suchte, kam CRÓNICA DE UN NIÑO SOLO mit mehr als 75% der Stimmen auf den ersten Platz. Neben weiteren Ehrungen wurde Favio 2010 von der Staatspräsidentin Cristina Fernández de Kirchner zum Kulturbotschafter des Landes ernannt.

Leonardo Favio als Zuhälter mit nicht standesgemäßem Fortbewegungsmittel
CRÓNICA DE UN NIÑO SOLO ist in Argentinien auf einer DVD mit englischen Untertiteln erschienen. - Mehr von Leonardo Favio demnächst in diesem Theater: Ein Werwolf in der Pampa.

Dienstag, 1. Juli 2014

Iranische Neue Welle mit Lepra, gefundenem Baby und Nachspiel in München

Forugh Farrokhzad und Ebrahim Golestan - ein iranisches Dreamteam

KHANEH SIAH AST (DAS HAUS IST SCHWARZ)
Iran 1962
Regie: Forugh Farrokhzad
22 Minuten

KHESHT VA AYENEH (BRICK AND MIRROR, auch THE BRICK AND THE MIRROR)
Iran 1965
Regie: Ebrahim Golestan
Darsteller: Zakaria Hashemi (Hashemi), Taji Ahmadi (Taji), Mehri Mehrinia (Frau in der Ruine) u.a.
124 Minuten

MOND SONNE BLUME SPIEL
Deutschland 2008
Regie: Claus Strigel und Julia Furch
Mit: Forugh Farrokhzad (Archivaufnahmen), Hossein Mansouri, Ebrahim Golestan, Mehrdad Farrokhzad, Farzaneh Milani
90 Minuten

Forugh Farrokhzad
In den 50er und 60er Jahren gab es bekanntlich nicht nur die Nouvelle Vague, sondern "neue Wellen" auch von Großbritannien, Deutschland und der Tschechoslowakei bis Japan, Brasilien und anderswo. Und auch die Filme, die Regisseure wie Dariush Mehrjui oder Sohrab Shahid Saless in der zweiten Hälfte der 60er und in den 70er Jahren im Iran drehten, wurden zumindest rückwirkend als "Iranische Neue Welle" bezeichnet - manchmal auch als "Erste Iranische Neue Welle", um sie von den Filmen abzusetzen, mit denen die Regisseure um Abbas Kiarostami und Mohsen Makhmalbaf erst nach der islamischen Revolution 1979 im Ausland Erfolge feierten. Die beiden iranischen Filme, um die es hier zunächst geht, werden je nach Sichtweise als Vorläufer oder als frühe Vertreter jener ersten neuen Welle gehandelt.

Der mittlerweile 91-jährige Ebrahim Golestan, 1922 in Schiras geboren, ist ein Schriftsteller und Übersetzer (er übertrug u.a. Mark Twain, Faulkner, Hemingway und Eugene O'Neill ins Persische), und von den 50er bis in die 70er Jahre war er auch unabhängiger Filmregisseur und -produzent. Der aus einer wohlhabenden Familie stammende, aber in seinen jungen Jahren sozialistisch gesinnte Golestan drehte ab Anfang der 50er Jahre Reportagen für amerikanische Fernsehsender, etwas später für die BBC, und 1956 machte er sich selbständig und gründete sein eigenes Studio, Golestan Films. Dort kreuzten sich 1958 seine Wege mit denen von Forugh Farrokhzad (1935-67).

A FIRE
Forugh oder Forough Farrokhzad (auch "Farrochsad" und weitere Schreibweisen, siehe Wikipedia), ist "die bedeutendste Poetin der modernen persischen Literatur" (Kindlers Literaturlexikon). Forugh Farrokhzads Nachruhm wurde durch ihren vorzeitigen Tod (sie starb mit 32 bei einem Autounfall) nicht behindert - im Gegenteil, sie wurde zu einem Mythos. Für die liberalen Teile der iranischen Gesellschaft ist sie bis heute eine Ikone aus einer vergangenen Zeit. Zu ihren Lebzeiten war sie im Iran heftig umstritten. In ihren fünf Gedichtbänden, die seit 1955 veröffentlicht wurden (der letzte posthum), behandelte sie aus autobiografischer Sicht u.a. Themen wie Sex und die Geschlechterrollen, womit sie beim konservativen Teil der Gesellschaft (und insbesondere beim Klerus) aneckte. Auch ihr Privatleben verursachte Skandale. Forugh (wie sie von vielen Iranern einfach genannt wird, was ich im folgenden auch tue) hatte schon mit 16 einen 15 Jahre älteren Satiriker geheiratet, der ein entfernter Verwandter von ihr war. Es war zwar keine arrangierte, sondern eine Liebesheirat, aber nach drei Jahren war die Ehe am Ende, es folgte die Scheidung, und das Sorgerecht für den gemeinsamen Sohn Kamyar bekam der Vater, ohne Besuchsrecht für Forugh, was sie schwer bedrückte. 1955 hatte sie einen Nervenzusammenbruch, und ihr erster Gedichtband, der im selben Jahr erschien, trug übersetzt den Titel "Der (oder die) Gefangene", was darauf hinweist, wie eingeengt sie sich gefühlt hatte. Die weiteren zu Lebzeiten veröffentlichten Bände hießen "Die Wand", "Rebellion" und "Neugeburt", was widerspiegelt, dass sie sich mit der Zeit emanzipierte und ihr Leben in den Griff bekam. Forughs Biografin Farzaneh Milani bezeichnete die Gesamtheit ihrer Gedichte in ihrer zeitlichen Entwicklung als "Bildungsroman" (sie benutzt das deutsche Wort in ihrem englischsprachigen Buch Veils and Words). Auch nach ihrem überstandenen Zusammenbruch litt sie unter Depressionen und Sinnkrisen (1960 unternahm sie sogar einen Selbstmordversuch), und Hossein Mansouri deutet in MOND SONNE BLUME SPIEL an, dass das Schreiben der Lyrik auch dazu diente, ihre Krisen zu bewältigen. Nach einer langen Reise nach Italien und Deutschland (ein Teil der Gedichte des dritten Bands entstand in Rom und München) nahm sie zu ihrer finanziellen Absicherung, und weil sie sich für Film interessierte, eine Stelle bei Golestan Films an.

A FIRE
Zunächst bekam sie nur einen Bürojob, doch das änderte sich schnell. Sie bekam eine Ausbildung in den Grundlagen des Filmhandwerks (die sie später bei einem Aufenthalt in England vervollständigte), und sie und Ebrahim Golestan verliebten sich ineinander. Der verheiratete Golestan ließ sich scheiden, und die beiden wurden bis zu ihrem Tod ein Paar ohne Trauschein, was weiteren Stoff für die Skandalpresse und Forughs konservative Gegner lieferte. - Golestan hatte sich zunächst auf kurze Industrie- und Dokumentarfilme spezialisiert. YEK ATASH (A FIRE), 1958 gedreht und 1961 erschienen, ist ein in Bild und Ton eindrucksvoller Film über eine in Brand geratene Ölquelle, die vom amerikanischen Spezialisten Myron Kinley und seinem Team nach wochenlangen aufwändigen Vorbereitungsarbeiten gelöscht wurde, und zwar mit einer gezielten Sprengung, die den Flammen den Sauerstoff raubte. Den Schnitt von YEK ATASH besorgte Forugh, und hier konnte sie schon mal zeigen, was sie gelernt hatte. Die anderen Kurzfilme von Golestan (die ich im Gegensatz zu YEK ATASH nicht gesehen habe) sind: MOJ, MARJAN, KHARA (THE WAVE, CORAL AND ROCK) von 1962 über den Bau eines Piers mit Ölverladestation auf der Insel Kharg im Persischen Golf; TAPPE-HAYE MARLIK (THE HILLS OF MARLIK) von 1963 über eine archäologische Ausgrabung; GANJINE-HAYE GOHAR (oder nach einer anderen Quelle JAVAHERAT-E SALTANATI; THE CROWN JEWELS OF IRAN) über eben jene Kronjuwelen. Dieser Film von 1965 wurde von der Zentralbank, wo die Juwelen aufbewahrt wurden, in Auftrag gegeben (nach einer anderen Quelle vom Kultusministerium, aber ersteres erscheint mir plausibler), dann aber wegen seiner implizit enthaltenen kritischen Tendenz zensiert (dabei war Golestan sogar mit dem Schah persönlich bekannt). Diese vier Filme wurden wegen ihrer formalen Eigenständigkeit und handwerklichen Qualität mit jenen von Alain Resnais aus den 50er Jahren verglichen. Ich bin nicht sicher, ob diese Filmografie der Kurzfilme, wie man sie in IMDb und Wikipedia findet, wirklich vollständig ist. Auf jeden Fall hat Golestan noch ein Segment zum kanadischen Film COURTSHIP von 1961 beigetragen, in dem es um Heiratsbräuche in verschiedenen Teilen der Welt geht.

DAS HAUS IST SCHWARZ

DAS HAUS IST SCHWARZ


1962 nahm Golestan einen ersten Spielfilm in Angriff, und Forugh, die auch Ambitionen als Schauspielerin hatte, sollte die Hauptrolle spielen. Doch als sich einer der Mitwirkenden als Drogensüchtiger und Dealer erwies, der die anderen Teammitglieder in seine Geschäfte hineinziehen wollte, brach Golestan die Dreharbeiten ab. Als Kompensation für die entgangene Hauptrolle bot er Forugh ein Projekt an, das ihm der Direktor der iranischen Leprahilfe vorgeschlagen hatte: Einen Film über eine Leprakolonie in der Nähe von Täbris im Nordwesten des Iran. Im Sommer 1962 fuhr Forugh zu einer kurzen Erkundungsmission nach Bababaghi, wie das Dorf heißt, und im Herbst kam sie mit Kameramann, Tontechniker und zwei oder drei Assistenten wieder. Golestan, der als Produzent fungierte, ließ ihr freie Hand. Die ersten der insgesamt zwölf Tage ihrer Anwesenheit dienten dazu, die Bewohner kennenzulernen und ihr Vertrauen zu gewinnen, dann wurde gedreht. Auch wenn manches im Film aus heutiger Sicht etwas archaisch anmutet - nach damaligen Maßstäben war Bababaghi eine durchaus moderne und humane Leprasiedlung, in der die Bewohner zeitgemäße medizinische Versorgung und Physiotherapie erhielten und ansonsten ein weitgehend normales Leben führten. Genau das ist - bei einer gekonnten und abwechlungsreichen visuellen und akustischen Gestaltung - das hervorstechende Merkmal von DAS HAUS IST SCHWARZ: Die Betonung der Normalität. Kinder beim Ballspiel und in der Schule, Männer in der Moschee, Frauen bei der gemeinsamen Essensausgabe, die Gemeinschaft bei einem Fest (einer Hochzeit?). Die Normalität ist auch der Schlüssel dafür, den Bewohnern ihre Würde zu lassen, obwohl die körperlichen Entstellungen deutlich gezeigt werden (Jonathan Rosenbaum hat den Film in dieser Hinsicht mit Tod Brownings FREAKS verglichen).

DAS HAUS IST SCHWARZ
Es wird ausgiebig Direktton verwendet, zusätzlich gibt es aber auch einen mehrstimmigen Off-Kommentar: Von Forugh vorgetragene poetische Texte aus dem Alten Testament, dem Koran und aus ihren Gedichten, und sachliche Informationen über Lepra (es wird vor allem Wert darauf gelegt, dass Lepra heilbar ist), gelesen von Golestan. - DAS HAUS IST SCHWARZ erregte bei seinem Erscheinen große Aufmerksamkeit im In- und Ausland und gewann einige Festivalpreise, vor allem den Preis für den besten Dokumentarfilm bei den Oberhausener Kurzfilmtagen 1964 (nach einigen Quellen 1963, aber hier steht 1964). Später verschwand der Film etwas in der Versenkung, aber spätestens 1997, als er beim New York Film Festival gezeigt wurde, tauchte er wieder auf. 2006 lief er erneut in Oberhausen, im Rahmen einer Reihe, die dem Nahen Osten gewidmet war.

DAS HAUS IST SCHWARZ

BRICK AND MIRROR


1965 drehte Ebrahim Golestan den Film, der nun tatsächlich sein erster Spielfilm wurde: KHESHT VA AYENEH, in Ermangelung eines deutschen Titels im folgenden BRICK AND MIRROR. Der Titel leitet sich von einer Zeile des mittelalterlichen persischen Dichters und Mystikers Fariduddin Attar ab: Was ein alter Mann in einem Lehmziegel sieht, sieht ein junger in einem Spiegel. - Hashemi ist Taxifahrer in Teheran. Eines Tages steigt spät abends eine schwarz verschleierte Frau (Forugh in einem Cameo) in sein Taxi und lässt sich zu einer heruntergekommenen Gegend irgendwo in den Außenbezirken fahren. Nachdem sie dort ausgestiegen und in der Dunkelheit verschwunden ist, stellt er fest, dass sie ein Baby im Taxi zurückgelassen hat, das zuvor unter ihrem Tschador verborgen war. Die Hintergründe bleiben im Dunkeln - die Frau taucht nicht wieder im Film auf. Was sich daraus entwickelt, ist ein existenzialistisches Drama, und zugleich eine kritische Bestandsaufnahme der Teheraner Gesellschaft Mitte der 60er Jahre. Formal gestaltet Golestan das als eine Abfolge weniger, sehr langer Sequenzen, in denen - bis auf die zwei wichtigsten - neben Hashemi und seiner Freundin Taji auch jeweils ein oder zwei Nebenfiguren in den Vordergrund rücken und in ausführlichen Mono- oder Dialogen zu Wort kommen, und die sich innerhalb eines einzigen Tages abspielen. Zunächst sucht Hashemi in der Dunkelheit nach der Frau und gerät dabei in die Ruine einer unfertigen Baustelle. In dieser unwirklichen nächtlichen Szenerie trifft er auf eine augenscheinlich nicht mehr ganz normale ältere Frau, die seine Fragen nach der anderen Frau ignoriert und in einen Klagemonolog verfällt. Später in der Nacht trifft sich Hashemi mit Freunden in einem modernen Nachtclub in der Innenstadt, und er erzählt die Geschichte vom gefundenen Baby, das er bei sich trägt. Doch seine Freunde sind wenig hilfreich - der eine glaubt seine Geschichte nicht und gibt entsprechend sarkastische Kommentare ab, der nächste verfällt in pseudointellektuelle Phrasen, etc. Immerhin erhält Hashemi den Rat, zur Polizei zu gehen, was er auch tut. Doch dort zeigt man sich wenig interessiert. Nachdem der Offizier auf dem Revier ausgiebig mit einem Arzt, der überfallen und verprügelt wurde, diskutiert und diesen schließlich abgewimmelt hat, erhält Hashemi nur die Auskunft, dass man nichts für ihn tun könne und dass ein nächtliches Polizeirevier kein Ort für ein Baby sei. Er solle es erst mal nach Hause mitnehmen und am nächsten Morgen beim Waisenhaus abliefern.

DAS HAUS IST SCHWARZ
Vor dem Revier wartet Taji auf ihn, die in einer offenbar nur lockeren Beziehung mit ihm lebt, die aber mehr will. Gemeinsam gehen sie in Hashemis winzige Wohnung, wo sie den Rest der Nacht miteinander verbringen. Taji versorgt das Baby, wozu Hashemi wenig beiträgt. Er ist überfordert und von der Situation genervt, vor allem aber hat er geradezu panische Angst davor, dass die Nachbarn etwas von der Anwesenheit Tajis und des Babys bemerken und falsche Schlüsse daraus ziehen (man kann das als Allegorie auf eine in Angst erstarrte Gesellschaft verstehen). So fährt er Taji ständig an, leise zu sein, und als das Baby zu schreien beginnt, reagiert er nicht gerade rational. Taji agiert vernünftiger, aber nicht ganz uneigennützig. Wie sich nach und nach erweist, erhofft sie sich, dass das Baby als Werkzeug dient, um Hashemi fest an sich zu binden. Ihr zunächst zaghaft geäußerter Vorschlag, das Kind zu behalten, wird von Hashemi brüsk abgewiesen. Trotz der angespannten Atmosphäre schlafen die beiden noch miteinander, aber wirklich näher kommen sie sich dadurch nicht - am nächsten Morgen ist die Stimmung eher noch trostloser als in der Nacht. Hashemi bringt jetzt das Kind ins Waisenhaus, wird aber erst mal abgewiesen, weil man nur Kinder aufnehmen könne, zu denen die nötigen Dokumente vom Gericht vorliegen. Während seiner Wartezeit im Waisenhaus bekommt er die tragisch-groteske Geschichte von der Frau mit, die unbedingt ein Baby adoptieren will, aber keines bekommt, weil sie ja schwanger sei - auch wenn ihre bisherigen Schwangerschaften alle in Fehlgeburten geendet haben. Am Ende enthüllt die verzweifelte Frau zum Entsetzen aller Anwesenden, dass sie die bisherigen Schwangerschaften nur mit unter die Kleider gestopften Lumpen vorgetäuscht und dann die Fehlgeburten erfunden hatte, um dem öffentlichen Makel der Unfruchtbarkeit zu entgehen. Um dem Kreislauf zu entfliehen, müsse sie nun endlich ein Baby vom Waisenhaus bekommen - doch sie bekommt keines.

DAS HAUS IST SCHWARZ
Im Gericht, einem imposanten, geradezu imperialen Gebäude, verläuft sich Hashemi fast und steht dann wieder hilflos in der riesigen Eingangshalle. Erst als er einen Beamten anspricht und ihm einige Zigaretten spendiert, erhält er die nötigen Dokumente. Seine zaghafte Frage nach einer möglichen Adoption redet ihm der Mann mit zynischen Kommentaren dazu aus. So liefert er also das Baby beim Waisenhaus ab. Wieder zurück bei Taji, ist diese bitter enttäuscht, dass er ohne das Baby gekommen ist, und sie macht ihm schwere Vorwürfe. Hashemi wird ebenso wie dem Zuschauer klar, dass die Beziehung am Abgrund steht, und so lenkt er etwas ein und fährt mit ihr zum Waisenhaus. Er bleibt aber draußen, während sie hineingeht, um "ihr" Baby zu suchen. In den kahlen, kalt wirkenden Räumen (es wurde in einem echten Waisenhaus gedreht) begegnet sie vielen Babys und Kleinkindern, die hier auf sich allein gestellt wirken, und nur wenigen Pflegerinnen, die keine Notiz von ihr nehmen, aber "das" Baby findet sie nicht. Am Ende ergreift stille Verzweiflung Besitz von ihr. Während sie bewegungslos an eine nackte Wand gelehnt ist, fährt die Kamera in einer langen Fahrt von ihr zurück und überlässt sie ihrer Einsamkeit. Diese minutenlang völlig wortlose Sequenz im Waisenhaus ist für mich der Höhepunkt des Films, und sie hat mich etwas an Antonioni erinnert. In der letzten Szene des Films steht Hashemi vor einem Schaufenster mit laufenden Fernsehern, in denen ein distinguierter Herr erbauliche Phrasen über den richtigen Umgang der Menschen miteinander absondert. Dann steigt er in sein Taxi, sinniert eine Weile, und fährt schließlich in die Abenddämmerung, einer neuen Spätschicht entgegen.

BRICK AND MIRROR - Taji
Wenn man sich erst an den langsamen Rhythmus gewöhnt hat, ist BRICK AND MIRROR ein wunderbarer Film - ein würdiger Beginn (oder meinetwegen Vorläufer) eine neuen Welle. Doch Golestans erster Spielfilm war zugleich sein vorletzter. 1967 ging er, der dem Schah-Regime zunehmend feindselig gegenüberstand, zum ersten Mal ins Exil nach England. 1972 kehrte er zurück, um seinen letzten Film ASRAR GANJ DAREHEYE JENNI (THE SECRET OF THE TREASURE OF THE JINN VALLEY, auch THE GHOST VALLEY'S TREASURE MYSTERIES) zu drehen. Ein armer Bauer findet durch Zufall eine Höhle mit einem Schatz und wird dadurch zu einem neureichen Dorftyrannen. Es handelt sich um eine allegorische Attacke gegen das Regime, viel grimmiger als die eher subtile Kritik in THE CROWN JEWELS OF IRAN und BRICK AND MIRROR. Wie man liest, ist THE SECRET OF THE TREASURE OF THE JINN VALLEY ein bitterer Film voller unsympathischer Charaktere. 1978 ging Golestan zum zweiten Mal und diesmal endgültig nach England. In der Nähe von London bewohnt er ein äußerst imposantes Herrenhaus. Die Filmerei hat er im Exil vollständig aufgegeben, seine Zeit verbrachte er hauptsächlich mit dem Schreiben von Romanen auf Persisch (es gibt nur wenig von ihm auf Englisch zu lesen).

BRICK AND MIRROR - Hashemi in seiner Wohnung

MOND SONNE BLUME SPIEL


Die letzte Szene von DAS HAUS IST SCHWARZ gab gleich zwei Filmen ihren Titel. In der Schule fordert der Lehrer einen Schüler auf, einen Satz mit "Haus" an die Tafel zu schreiben, und nach einigem Überlegen schreibt er "Das Haus ist schwarz". Ein anderer Schüler soll schöne Dinge aufsagen, und er antwortet "Mond, Sonne, Blume, Spiel". Dieser zweite, damals sechsjährige Junge namens Hossein Mansouri war von der fremden Frau aus Teheran sofort fasziniert, als sie in Bababaghi auftauchte. Obwohl eigentlich ein aufgeweckter und redseliger Junge, brachte er ihr gegenüber kein Wort heraus. Hossein lebte als gesunder Sohn (mit drei ebenfalls gesunden Schwestern) zweier leprakranker Eltern im Dorf (bei seiner Mutter wurde die Krankheit aber frühzeitig mit Antibiotika behandelt, und sie wurde vollständig geheilt). Es war Zufall, dass Hossein mit seiner Familie in Bababaghi war - bei Forughs erstem Besuch im Sommer waren sie noch abwesend. Damals lebten sie noch in einer anderen Leprakolonie bei Maschhad im Nordosten des Iran, vielleicht 1000 km oder mehr von Täbris entfernt. Doch Hosseins Vater war dort mit einem leitenden Arzt aneinandergeraten und hatte ihn sogar tätlich angegriffen, deshalb wurde die ganze Familie nach Bababaghi "strafversetzt". Nicht nur Hossein war von Forugh fasziniert, sie fand auch sofort Gefallen an ihm. Und gegen Ende der Dreharbeiten fasste sie den Entschluss, Hossein zu adoptieren. Die Eltern waren schnell einverstanden, hauptsächlich, um die Gefahr einer Ansteckung mit Lepra für Hossein dauerhaft zu bannen. Und so kam der kleine Hossein, der nicht wusste, wie ihm geschah, in eine ihm fremde Welt nach Teheran. Die Liebe, die Forugh ihrem leiblichen Sohn Kamyar nicht geben konnte, weil er ihr entzogen war, schenkte sie nun Hossein, und auch von Forughs sechs Geschwistern und ihrer Mutter wurde der Neuankömmling herzlich als neues Familienmitglied aufgenommen. Einige Zeit später besuchte Hosseins Vater ihn in Teheran, aber da prallten bereits zwei Welten aufeinander. Hossein fürchtete, nach Bababaghi zurück zu müssen, und die Begegnung endete in gegenseitiger Sprachlosigkeit. Es war das letzte Mal, dass Hossein seinen Vater sah. Er starb, als Hossein 14 war. Im Februar 1967, als Hossein 10 war, prallte Forugh beim Versuch, einem anderen Fahrzeug auszuweichen, mit ihrem Auto gegen eine Wand. Sie wurde aus dem Fahrzeug geschleudert und starb an ihren Kopfverletzungen. Hosseins weitere Erziehung übernahm nun Forughs Mutter (wie es schon der Fall gewesen war, wenn Forugh auf Reisen war).

BRICK AND MIRROR - im Waisenhaus
Als junger Mann ging Hossein nach England, um zu studieren. Er bewohnte dort zeitweise eine gemeinsame Wohnung mit Kamyar - die Verbindung zur Familie von Forughs Ex-Mann war also offenbar nicht ganz abgerissen. Doch nach knapp zwei Jahren zog es Hossein nach Deutschland und speziell nach München, wo schon Forugh einige Wochen oder Monate verbracht hatte, und wo drei seiner "Adoptivonkel" studiert und gelebt hatten. Hossein Mansouri lebt seit fast 40 Jahren in München, wo er sich heimisch und pudelwohl fühlt, wie er sagt. Hier wurde er ein Dichter und Übersetzer, Musiker ist er auch, und zum Broterwerb hat er seit 30 Jahren eine Anstellung als Archivar in einer Patentanwaltskanzlei. DAS HAUS IST SCHWARZ sah er zum ersten Mal, als er schon über 30 war und in einer Identitätskrise steckte. Er bat Oberhausen um eine Kopie des Films und bekam tatsächlich eine geschickt. Doch die Geschichte seiner Herkunft behielt er sehr lange für sich. Nicht einmal gute Freunde wussten, dass er der Adoptivsohn einer berühmten Dichterin ist. Für die Literaturgeschichte war die Adoption von 1962 nur eine Fußnote, und außerhalb Forughs Familie wusste niemand, was aus dem Jungen von einst geworden war.

BRICK AND MIRROR - im Gericht
Erst der Münchner Regisseur Claus Strigel brachte es ans Tageslicht, in seinem Film MOND SONNE BLUME SPIEL, der 2008 bei den Hofer Filmtagen seine Premiere feierte. Strigel hatte 1976 gemeinsam mit Bertram Verhaag die Produktionsfirma DENKmal-Filmgesellschaft gegründet (Walter Harrich war anfangs auch dabei, aber der gründete bald mit seiner Frau Danuta eine eigene Firma). Meist gemeinsam mit Verhaag drehte Strigel sowohl fürs Fernsehen als auch für die Kinoleinwand viele Dokumentarfilme (am bekanntesten vielleicht der Wackersdorf-Film SPALTPROZESSE), aber gelegentlich auch Spielfilme. Seit 2012 besitzen Strigel und Verhaag getrennte Firmen (ob sie sich auch persönlich verkracht haben, ist mir nicht bekannt). Julia Furch, bei MOND SONNE BLUME SPIEL erstmals Strigels Co-Regisseurin, war mir bisher unbekannt. Der Film begleitet Hossein Mansouri, meist in seinem gewohnten Lebensumfeld im Münchner Westend, und lässt ihn erzählen, von seiner erstaunlichen Kindheit, aber auch von seinem jetzigen Leben. Einen Off-Kommentar gibt es nicht (wie man in diesem einstündigen Radio-Interview im Deutschlandfunk erfährt, gibt es den bei Strigel nie). Er erzählt, dass er eine Mission hat, die sozusagen sein Lebenszweck ist und ihm über Identitätskrisen hinweghilft. Worin diese Mission besteht, sagt er nicht explizit, aber es kristallisiert sich heraus, dass er Forughs Vermächtnis erhalten und weiterverbreiten will. Man erlebt ihn bei einer Lesung von Forughs Gedichten, die er selbst übersetzt hat, in Kombination mit einer Vorführung von DAS HAUS IST SCHWARZ. Der Film macht auch Abstecher nach England und in den Iran. Gemeinsam mit Strigel besucht Mansouri seinen "Adoptivvater" (auch wenn er nicht mit Forugh verheiratet war) in seinem imposanten Landsitz. Das Verhältnis zu Golestan erscheint im Film freundschaftlich, aber auch von einer gewissen respektvollen Distanz geprägt - Mansouri nennt ihn immer "Herr Golestan", statt beim Vornamen. Strigel geht auch in Teheran auf Spurensuche, mit Mehrdad Farrokhzad als Hossein Mansouris Stellvertreter - Mansouri kann mit seinem Asylantenpass überallhin reisen, nur nicht in den Iran. Mehrdad ist einer der jüngeren Brüder von Forugh, die in Deutschland studiert hatten, er spricht immer noch Deutsch, und er hat ein ausgezeichnetes Verhältnis zu Mansouri - er bot sich für diese Mission also an.

DAS HAUS IST SCHWARZ - der sechsjährige Hossein Mansouri
Emotionale Höhepunkte von MOND SONNE BLUME SPIEL sind die beiden Szenen, in denen Mansouri von seiner Adoption sowie vom späteren Besuch seines Vaters in Teheran erzählt. Mansouri ist hier sichtlich aufgewühlt und ringt um Fassung. Bei diesen Momenten begann ich mich zu fragen, ob die Adoption nicht eine fragwürdige Angelegenheit war, bei der Hossein und seine Eltern von Forugh überrumpelt wurden. Doch sein aufgewühlter Zustand lag wohl hauptsächlich daran, dass er hier diese entscheidenden Momente zum ersten Mal erzählte. In diesem Radio-Interview vom Mai 2014 (in derselben Sendereihe wie das mit Strigel) trägt Mansouri seine Geschichte viel entspannter vor als im Film, und er lässt keinen Zweifel daran, dass die Adoption der große Glücksfall seines Lebens war. - Was ich mir vom Film noch gewünscht hätte, wäre eine etwas tiefere zeitgeschichtliche und biografische Einordnung von Forughs Leben und Schaffen gewesen, doch man erfährt darüber wenig (was ich hier darüber berichte, stammt hauptsächlich aus englischsprachigen Quellen im Web). Die passende Ansprechpartnerin dafür wäre Farzaneh Milani gewesen. Die in den USA lebende iranische Professorin für persische Literatur und für Frauenstudien hatte schon ihre Dissertation über Forugh verfasst, weitere Texte über sie veröffentlicht (etwa 1982 einen mit dem Titel Love and Sexuality in the Poetry of Forugh Farrokhzad: A Reconsideration und im schon erwähnten Buch Veils and Words: The Emerging Voices of Iranian Women Writers von 1992), und eine in langjähriger Arbeit erstellte Biografie mit dem Titel An Iranian Icarus: The Life and Poetry of Forugh Farrokhzad soll wohl in naher Zukunft erscheinen. Aber von ihrem sicher profundem Wissen gibt sie in MOND SONNE BLUME SPIEL, wo sie mit Hossein Mansouri (der auch an einem Buch über Forugh arbeitet) zusammentrifft, wenig preis, was über Allgemeinplätze hinausgeht. So bleibt Forugh für den Zuschauer des Films letztlich ein Mysterium. Wahrscheinlich wäre es gar nicht möglich (und vielleicht auch nicht wünschenswert), das Mysterium vollständig zu lüften, aber ein bisschen mehr Kontext und harte Fakten hätte ich mir schon gewünscht.

MOND SONNE BLUME SPIEL - Hossein Mansouri
Nichtsdestotrotz ist MOND SONNE BLUME SPIEL ein faszinierender Film, der seine spannende Geschichte unterhaltsam aufbereitet. Strigel schreckt vor optischen Spielereien nicht zurück - so gibt es ziemlich am Anfang einen Kameraschwenk, der in Teheran beginnt und ohne erkennbaren Schnitt in München endet. Überhand nehmen solche Tricks nicht, aber die Kamera ist stets beweglich und erzeugt meist große Nähe zu Mansouri und den anderen Protagonisten, gelegentlich aber auch Distanz. Alles in allem ein sehr ansprechender Film! - Forughs jüngerer Bruder Fereydoun Farrokhzad war ein Sänger, Schauspieler, Poet und Politikwissenschaftler. Er hatte in Deutschland und Österreich studiert und dann einige Jahre in München gelebt, wo er u.a. Radioprogramme gestaltete. 1967 ging er zurück in den Iran, wo er als Sänger und TV-Entertainer ein Superstar wurde. Nach der islamischen Revolution ging er ins Exil, zunächst in die USA und dann wieder nach Deutschland. 1992 wurde Fereydoun Farrokhzad in Bonn auf blutrünstige Weise ermordet, sehr wahrscheinlich von Agenten des Mullah-Regimes, das er öffentlich scharf kritisiert hatte. Offiziell geklärt wurde der Fall nie. Claus Strigel plant einen Film über Fereydoun Farrokhzad (hier ein Teaser).

MOND SONNE BLUME SPIEL - Ebrahim Golestan
Es existieren weitere Filme über Forugh. 1963, als sie mit DAS HAUS IST SCHWARZ auch international bekannt wurde, produzierte die UNO ein kurzes Portrait von ihr, und im selben Jahr drehte auch Bernardo Bertolucci einen 15-minütigen Film mit ihr. In Bertoluccis Filmografien in IMDb und Wikipedia findet man keine Spur davon, und ich weiß nicht, ob dieser Film jemals regulär veröffentlicht wurde, aber gedreht wurde er jedenfalls. Ein Nasser Saffarian drehte eine zweieinhalbstündige dreiteilige Doku, die unter dem engl. Titel THE MIRROR OF THE SOUL: THE FOROUGH FARROKHZAD TRILOGY in den USA auf DVD zu haben ist (darin sollen auch Ausschnitte aus Bertoluccis Film zu sehen sein). - In Frankreich erschien einige Jahre lang das Filmmagazin Cinéma halbjährlich in Buchform, und Ausgabe 07 vom Frühjahr 2004, die noch zu erschwinglichen Preisen bei den üblichen Quellen zu haben ist, enthielt auf einer beigelegten DVD DAS HAUS IST SCHWARZ (mit fest eingebrannten franz. Untertiteln) sowie Golestans A FIRE (in einer englischsprachigen Fassung). DAS HAUS IST SCHWARZ ist auch in den USA auf DVD erschienen, sowohl auf einer Einzel-DVD (mit zwei frühen Kurzfilmen von Mohsen Makhmalbaf als Bonus), als auch im Paket mit THE MIRROR OF THE SOUL. Von BRICK AND MIRROR konnte ich keine DVD ausfindig machen (und musste auf eine Datei von zweifelhafter Herkunft und mit sehr schlechter Bildqualität zurückgreifen). MOND SONNE BLUME SPIEL ist auf einer DVD erschienen, die man direkt bei Strigel (Javascript erforderlich) bestellen kann. Dort gibt es den Film auch für 10 € als DRM-freien Download (was bei mir unkompliziert geklappt hat).

MOND SONNE BLUME SPIEL - vor Golestans Wohnsitz und in seinem Garten

Montag, 16. Juni 2014

(Post-)koloniale Stillleben mit Akt und andere Vergnüglichkeiten


TIM FRAZER JAGT DEN GEHEIMNISVOLLEN MISTER X
Österreich/Belgien 1964
Regie: Ernst Hofbauer
Darsteller: Adrian Hoven (Tim Frazer), Paul Löwinger (Inspektor Stoffels), Corny Collins (Janine), Ady Berber (Lode van Dijk), Mady Rahl (Rosalie), Hector Camerlynck (Jeroom), Ellen Schwiers (Farida), Sieghardt Rupp (Jack van Druten), Marcel Hendrickx (anatolischer Konsul)




Eine Mordserie im Hafen Antwerpens versetzt die Stadt und besonders die Hafenarbeiter in Angst und Schrecken. Die belgische Polizei lädt den britischen Polizisten Tim Frazer ein, damit er zusammen mit Inspektor Stoffels an der Aufklärung des Falls mitwirkt. Die Morde werden stets mit einem Stilett durchgeführt, und ein Fingerabdruck führt zum Kleinkriminellen Jack van Druten, der verhaftet wird. Doch die Mordserie endet damit nicht, auch nicht als Lode van Dijk, der Bruder des letzten Opfers, sich als Köder anbietet. Die Regelmäßigkeit der Mordserie – alle zehn Tage – deutet auf einen Zusammenhang mit dem Schifffahrplan hin und ein Joint bei einem der Opfer lässt als Hintergrund eine Drogenschmuggel-Affäre vermuten. Deren Spur führt Frazer und Stoffels in zwei „einschlägige“ Etablissements, die miteinander Geschäfte machen und deren Besitzerinnen Rosalie und Farida sich gegenseitig Schutz bieten: eine zwielichtige Arbeiter-Bar (die „Sansibar“) und ein gehobeneres Tanzlokal mit Bordellbetrieb im ersten Stock (die „Madison“). In letzterem verkehrt auch der anatolische Konsul, der etwas mit dem Schmuggel zu tun haben könnte, jedoch später ermordet wird. Mordanschläge gibt es auch gegen Frazer: einmal versucht ihn ein Handlanger zu töten, der kurz nach gescheitertem Attentat von seinen Auftraggebern ermordet wird, und einmal macht Frazer Bekanntschaft mit einer Autobombe. Derweil möchte Janine, Frazers Verlobte, diesem bei der Verbrechersuche helfen und schleust sich ohne dessen Wissen als Kellnerin in Rosalies „Sansibar“ ein, wird aber enttarnt. Frazer, Stoffels und Lode treten zum Showdown an...

Falls das alles nach einer überkomplizierten, überstrapazierten und überkonstruierten Räuberpistole klingt, hängt das damit zusammen, dass dies lediglich eine verkürzte Plot-Zusammenfassung ist und das, was „dazwischen“ passiert, wesentlich reizvoller ist. TIM FRAZER JAGT DEN GEHEIMNISVOLLEN MISTER X nutzt seine Räuberpistole gewissermaßen als Hülle, als Gefäß für eine prall gefüllte Wundertüte an skurrilen, lustigen, befremdlichen, reißerischen, irritierenden, experimentellen Ideen. In seinen Details, seinen kleinen Einfällen ist der Film fast schon besessen. So entwickelt der Film zwar keine narrative Konsistenz, aber eine Konsistenz der Bemühung, möglichst jede Szene interessant zu machen.

Wie TIM FRAZER JAGT DEN GEHEIMNISVOLLEN MISTER X unter der Oberfläche funktioniert, sieht man am deutlichsten an einer Szene, die man vielleicht am besten „(Post)koloniales Stillleben mit Akt und Rotweinflasche“ betiteln könnte. Jack van Druten, ein ehemaliger Falschspieler, ist gerade verhaftet worden und wird Stoffels und Frazer zwecks Verhör vorgeführt. Sein Fingerabdruck befand sich auf der letzten Mordwaffe (später wird klar, dass er völlig unbeteiligt ist und sein Fingerabdruck ohne sein Wissen in Stempelform nachgeahmt wurde). Wie so üblich bei solchen Befragungen wird van Druten nach seinem Alibi befragt. Wer nicht nur hinhört, sondern genau hinsieht, wird im Hintergrund zwei merkwürdige Elemente sehen: an der Wand eine Karte von Belgisch-Kongo und auf einem kleinen Beistelltisch eine halbvolle (oder halbleere) Flasche Rotwein: Beides Elemente, die in einer Polizeistation im Belgien des Jahres 1963/64 (nichts weist darauf hin, dass Film in der Vergangenheit spielt) eigentlich ziemlich deplatziert wirken. Gänzlich absurd wird das Ganze dann, als van Druten sich vor dieser Szenerie ausziehen soll, um zu zeigen, dass er keinerlei Kratzspuren am Körper hat (das letzte Mordopfer hatte Hautpartikeln unter seinen Fingernägeln). – So einfach lässt sich eine etwas geschwätzige Verhörszene auflockern. Später wird das Stillleben übrigens einer Entziehungskur unterzogen: die Belgisch-Kongo-Karte ist immer noch im Hintergrund zu sehen, doch wo einst die Weinflasche stand, steht nun eine Thermoskanne. Vielleicht wurde aber einfach nur der Rotwein in ein diskreteres Gefäß umgefüllt?

Später im Film gibt es keine Verhör- und Befragungsszenen mehr, sondern nur noch im Keim erstickte Ansätze von solchen. Als Frazer und Stoffels jeweils in der „Madison“ und in der „Sansibar“ zur Morgenzeit Befragungen durchführen wollen, kommt es zu denkwürdigen Begegnungen. In der leeren „Sansibar“ versucht sich Inspektor Stoffels zunächst erfolglos am Spielautomaten, bevor er von der im Pyjama gekleideten Besitzerin Rosalie munter mit „Na Dicker, jetzt schon saufen? Ist das nicht ein bisschen früh?“ begrüßt wird. Eher schroff und lustlos antwortet sie auf die Fragen des Inspektors. Ihr Lebensgefährte und Gehilfe Jeroom kommt dazu. Beide Wirte beide haben Kratzer an Hals und Armen und amüsieren sich darüber, dass sie sich gestritten haben – und sich nun wieder vertragen: „Sehr lustig mit ihr. Na inzwischen haben wir uns ja versöhnt. Und die Versöhnung war nicht ohne. Was, Schatzi?“, so Jeroom. Nach dem Wust an Ehestreitereien, Versöhnungssex und der Bereitschaft zu noch einer Runde Versöhnungssex, der ihm unter die Nase gerieben wird, entfernt sich Inspektor Stoffels mürrisch, nicht ohne vorher zu meckern, dass der Spielautomat nicht funktioniert.

Derweilen unterhält sich auch Frazer bestens im „Madison“. Er wird von einer nicht mehr frisch aussehenden Dame empfangen, die – große Schlücke direkt aus der Flasche trinkend – die Treppen herunterstolpert, zur Jukebox torkelt, eine Nummer wählt und anfängt zu tanzen. „Empfangen“ ist zu viel gesagt, da die Dame Frazer aufgrund ihres hohen Blutalkoholspiegels wohl nicht wahrnimmt. Die Herrin des Hauses Farida taucht aber doch noch auf (wie Rosalie im Lokal gleich gegenüber ebenfalls mit Pyjama gekleidet, aber drapiert in einem Pelzmantel) und scheucht ihre Mitarbeiterin weg. Wirklich viele Fragen wird sie Frazer nicht beantworten, bevor sie ihn wieder hinausbittet, nachdem ein grimmig aussehender Handlanger aufgetaucht ist.
Auch hier überwiegt wieder der Wunsch von Regisseur und Autor Ernst Hofbauer, eine potentielle „talking-head“-Szene mit Skurrilem aufzulockern, der Wunsch, mehr über Atmosphäre und Aktion als über Dialog zu erzählen. Ein Versuch, der zu zwei herrlich witzigen Szenen in Parallelmontage führt.

Nachdem nun nach und nach die ganzen Bande an Verdächtigen eingeführt worden ist (Farida, ihr Handlanger, Rosalie, Jeroom, der anatolische Konsul), werden die Karten an einem Abend in der „Madison“ wieder neu gemischt. Frazer und Stoffels haben durch einen anonymen Anruf erfahren, dass dort der nunmehr sechste Mord stattfinden soll. Am Höhepunkt des Abends, als eine Sängerin ein Lied mit dem Titel „J‘ai péché“ (Ich habe gesündigt) zum Besten gibt, versuchen Stoffels und Frazer den Überblick über die anwesenden Personen im Raum zu behalten – vergeblich: der anatolische Konsul stürzt beim Applaus mit einem Stilett im Rücken nieder. Es ist eine bemerkenswerte Szene, die ein auflockerndes musikalisches Intermezzo mit einem Moment der Hochspannung  und einem Hauch schwarzem Humor verknüpft.

TIM FRAZER JAGT DEN GEHEIMNISVOLLEN MISTER X wartet im letzten Drittel auch gleich mit zwei fantastischen Verfolgungsjagden auf. In der ersten verfolgt Lode Jeroom durch das Hinterzimmer der „Sansibar“, die verschlungenen Gassen Antwerpens, einen riesigen Parkplatz und den Hafen der Stadt. Das Ganze endet schließlich an einer Klappbrücke, die gerade hochgeklappt wird, und an der die beiden Männer noch hochklettern.

Wenig später findet das Showdown statt, in dem der Film seinen Titel einlöst: Frazer jagt den geheimnisvollen Mr. X, und die Verfolgungsjagd endet in einem unterirdischen Tunnelsystem (ob es sich um die U-Bahn handelt oder um ein Unterführungssystem, kann ich leider nicht sagen). Eine Actionszene mit großer Lust an der Bewegung und am atmosphärischen Setting, der einengend (in Höhe und Breite) und zugleich unendlich (in Länge) erscheint.

Neben diesen „großen“ Momenten glänzt TIM FRAZER JAGT DEN GEHEIMNISVOLLEN MISTER X auch mit vielen „kleinen“ Momenten, einige so kurz, dass man sie leicht übersehen kann. So erscheint es deplatziert, dass Tim Frazer in Stoffels Büro wie aus heiterem Himmel kurz in der Nase popelt. Scheinbar zufällig spaziert später eine schwarze Katze (die bekanntlich Unglück bringt) über den Bürgersteig, als Frazer sein Hotel verlässt, um mit einem Mietwagen weg zu fahren – den er jedoch mit Sprengstoff präpariert vorfindet. Des weiteren erfreut ein visuell unglaublicher Moment das Auge, als Lode durch den nächtlichen Hafen an einem Holzlattengitter vorbeiläuft. Die Kamera filmt durch das Gitter und folgt ihm in seinem entschiedenen Schritt. Die Gitter haben nur eine klar beleuchtete Kante, und so verschwimmt das ganze Bild für mehrere Sekunden zu einem wilden Stroboskop-Effekt.

Meine Ausführungen sind möglicherweise etwas disparat ausgefallen. Ohne richtigen roten Faden. Es fällt aber auch schwer, die Faszination dieses Films zu erklären. Diese vielen kleinen Einzelteile sind für sich genommen toll, aber passen oft irgendwie nicht zusammen, und ergeben meistens keinen Sinn. Oder vielleicht eben doch?
Aus welchen Gründen auch immer hat TIM FRAZER JAGT DEN GEHEIMNISVOLLEN MISTER X bei mir eine Assoziation an ein Zitat des US-amerikanischen Drehbuchautors A. I. Bezzerides erinnert, der über seine Arbeit zu KISS ME DEADLY folgendes sagte: „People ask me about the hidden meanings in the script, about the A-bomb, about McCarthyism, what does the poetry mean, and so on. And I can only say that I didn't think about it when I wrote it ... I was having fun with it. I wanted to make every scene, every character, interesting.“ TIM FRAZER JAGT DEN GEHEIMNISVOLLEN MISTER X ist nicht so grotesk, expressionistisch, gewalttätig, erotisch und explosiv wie KISS ME DEADLY, aber er ist auch in Film, in dem jede Szene, jeder Moment interessant gemacht wird. Natürlich bieten sich assoziativ auch andere Anknüpfungspunkte: die Autobombe, die bizarren Nonsense-Begegnungen.
Und die Tatsache, dass auch Tim Frazer eine gegen den Strich gelesene bzw. umgedeutete literarische Figur war. Frazer war die Erfindung des britischen Schriftstellers und Hörspielautors Francis Durbridge. Die Krimis des Briten waren in der Bundesrepublik sowieso sehr populär und wurden auch für Fernsehen und Kino adaptiert. Auch der Reihe um die Figur Tim Frazer wurde eine sechsteilige , eponyme Fernsehserie gewidmet, die der WDR Anfang 1963 ausstrahlte. TIM FRAZER JAGT DEN GEHEIMNISVOLLEN MISTER X orientierte sich allerdings weder an den Romanen und Hörspielen Durbridges, noch an seinem Stil: Tim Frazer ist nur der Name für einen komplett unabhängigen Film – der gleichwohl offensichtlich an den überwältigenden Erfolg der TV-Serie anknüpfen wollte. Das ging freilich nach hinten los: die Zuschauer erwarteten etwas anderes und der Film wurde dafür gerügt, dass er mit dem „echten“ Tim Frazer nichts zu tun habe.

TIM FRAZER JAGT DEN GEHEIMNISVOLLEN MR. X war der erste, eigene, abendfüllende Film des gebürtigen Wieners Ernst Hofbauer als Regisseur. In den späten 1940er und in den 1950er Jahren hatte er erste Erfahrungen im Kinogeschäft als Produktionsdesigner und Regieassistent bei österreichischen und bundesdeutschen Filmen gesammelt. In WIENER LUFT (1958) und AUCH MÄNNER SIND KEINE ENGEL (1959) teilte er sich die Regie-Credits mit Karl Leiter (der seine Filmkarriere 1920 begonnen hatte) und Walter Kolm-Veltée. Ein breites Publikum erreichte Hofbauer zunächst im Fernsehen, als Regisseur der ersten beiden Staffeln der äußerst populären Serie PERCY STUART im Jahre 1969. Ein Jahr drehte Hofbauer SCHULMÄDCHEN-REPORT: WAS ELTERN NICHT FÜR MÖGLICH HALTEN: nach Zuschauerzahlen noch 43 Jahre später der fünfterfolgreichste deutsche Film in deutschen Kinos. Der Erfolg führte in den nächsten zehn Jahren zu zwölf Fortsetzungen, die mehrheitlich ebenfalls vom Österreicher inszeniert wurden. Hofbauer blieb dem Sexfilm-Genre weitestgehend treu, drehte aber auch als Co-Regisseur Action- und Abenteuerfilme in der Türkei und in Hong Kong. Nur wenige Wochen nach der Premiere von RASPUTIN: ORGIEN AM ZAREN HOF starb Hofbauer mit nur 58 Jahren in München. Trotzdem er wie erwähnt Regisseur eines der fünf erfolgreichsten deutschen Filme überhaupt war, dürfte er den meisten deutschen Zuschauern unbekannt sein. In der deutschen Blogsphäre ist Hofbauer aber nicht unbekannt, hat ihn doch schließlich eine Untergruppe der Eskalierenden Träumer zu ihrem Heiligen Schutzpatron erklärt. Über den „Edgar G. Ulmer des deutschen Erotikfilms“ und seine Werke kann man bei „Eskalierende Träume“ mehr lesen.

Eine vielleicht noch schillerndere und abwechslungsreiche Karriere hatte Hauptdarsteller Adrian Hoven. In den 1950er Jahren war er sehr beliebt als „romantic lead“ in Komödien und Heimatfilmen. Bevor er in den 1970er Jahren wiederkehrend Nebenrollen in Fassbinder-Filmen spielte (WELT AM DRAHT, MARTHA, FAUSTRECHT DER FREIHEIT, MUTTER KÜSTERS‘ FAHRT ZUM HIMMEL, SATANSBRATEN, LILI MARLEEN etc.) begann er ab den mittleren 1960er Jahren, sich als Produzent und Regisseur zu betätigen. Sein erster Film DER MÖRDER MIT DEM SEIDENSCHAL, der film noir, Polizeikrimi, Gangstermilieu-Film und poetischen Kindheitsfilm mischt, floppte (leider) bei Publikum und Kritik. Manche sehen darin den Grund, dass sich Hoven danach ausschließlich Exploitation-Stoffen zuwandte. Als Produzent wirkte er an drei Filmen Jess Francos (NECRONOMICON – GETRÄUMTE SÜNDEN, ROTE LIPPEN SADISTEROTICA und KÜSS MICH MONSTER) mit, in denen er auch als Schauspieler auftrat. Als Regisseur drehte er die berühmt-berüchtigten Witchploitation-Filme HEXEN BIS AUFS BLUT GEQUÄLT und HEXEN – GESCHÄNDET UND ZU TODE GEQUÄLT. Ersterer schwankt übrigens in Deutschland zwischen Beschlagnahmungen und Liste-B-Indizierungen, während ihm in Österreich das Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien eine internationale Konferenz widmet. Wie Hofbauer starb auch Hoven viel zu jung mit 58 Jahren.

Aufgrund seiner schieren körperlichen Präsenz erwähnenswert ist auch Ady Berber, der Lode van Dijk spielt. Dass der gebürtige Wiener Freistilringer war und dazu auch noch mehrfacher Europa- und Weltmeister, nimmt nicht gerade Wunder, wenn man den Mann sieht: 1,95 m (nach anderen Quellen gar 2,00 m) groß, 150 kg schwer. Er spielte nicht nur Nebenrollen in Edgar-Wallace-Filmen, und später auch in Hovens DER MÖRDER MIT DEM SEIDENSCHAL, sondern auch in Filmen wie BEN HUR und LOLA MONTÈS. In TIM FRAZER JAGT DEN GEHEIMNISVOLLEN MISTER X verknüpft er auf interessante Weise den Typus des sanften Riesen mit dem eines energischen Mannes, der bei der Aufklärung des Mordes an seinem Bruder mithelfen möchte und dabei auch Schläge austeilen kann, wenn man ihm in die Quere kommt.




TIM FRAZER JAGT DEN GEHEIMNISVOLLEN MISTER X ist als DVD beim Label „filmjuwelen“ erhältlich. Bild- und Tonqualität sind nicht überragend, aber okay.

Mittwoch, 28. Mai 2014

Ere erera baleibu izik subua aruaren

...ERE ERERA BALEIBU IZIK SUBUA ARUAREN... (ursprünglich: ERE ERERA BALEIBU ICIK SUBUA ARUAREN)
Spanien 1968-70
Regie: José Antonio Sistiaga


Was ist das denn für ein Titel? Baskisch? Damit liegt man nicht weit daneben, denn der 1932 in San Sebastián geborene José Antonio Sistiaga ist in der Tat Baske. Doch der Titel bedeutet überhaupt nichts - er besteht aus Fantasiewörtern, die nur baskisch klingen sollen, und die Sistiagas Freund und Kollege Rafael Ruiz Balerdi für ihn erfand. Mehr dazu weiter unten.


...ERE ERERA BALEIBU IZIK SUBUA ARUAREN... ist ein abstrakter Film, den Sistiaga direkt, also ohne Kamera, auf 35mm-Film malte. Das ist eine Technik mit langer Tradition. Schon um 1912 schufen die beiden italienischen Brüder Arnaldo Ginna und Bruno Corra, die dem Futurismus nahestanden, einige abstrakte handgemalte Filme, die von Prinzipien der chromatischen Musik inspiriert waren. Besonders elaboriert waren die Filme wohl noch nicht (sie sind nicht erhalten, es existieren nur verbale Beschreibungen von Corra). Das änderte sich in den 30er Jahren, als mit dem damals in England tätigen Neuseeländer Len Lye und mit Norman McLaren, der direkt von Lye inspiriert wurde, zwei Großmeister des handgemalten abstrakten Films die Szene betraten (wobei McLaren dann auch viele andere Techniken verwandte und z.T. selbst erfand). Len Lye war es wohl auch, der für handgemalte und andere kameralose Filme den Terminus direct film prägte (in diesen Zusammenhang gehören auch LE RETOUR À LA RAISON und EMAK-BAKIA von Man Ray, in denen wenigstens zum Teil die Technik der Rayographie auf den Film erweitert wurde). Nach Lye und McLaren arbeiteten beispielsweise Harry Smith, Stan Brakhage und in Deutschland Bärbel Neubauer mit dieser Technik, und fast immer entstanden dabei abstrakte Filme.


...ERE ERERA BALEIBU IZIK SUBUA ARUAREN... zeichnet sich, abgesehen von seiner handwerklichen und künstlerischen Qualität, durch ein besonderes Merkmal aus: Er dauert 75 Minuten, und er ist damit mit Abstand sowohl der längste handgemalte als auch der längste abstrakte Film, den ich kenne. Man muss sich das vorstellen: 75 Minuten, das sind bei 35mm über zwei Kilometer Filmstreifen, es sind vor allem 108.000 einzelne Frames. Um das zu bewerkstelligen, arbeitete Sistiaga von 1968 bis 1970 17 Monate lang wie ein Besessener: Täglich 10 oder 12 Stunden. Zeitweise schlief er sogar neben dem entstehenden Film, er reduzierte seine Mahlzeiten auf das Nötigste, und er rasierte sich nicht, um keine Zeit zu verschwenden. Der Großteil des Films entstand im baskischen Hondarribia, aber eines Tages fiel ein Sonnenstrahl durch ein offenes Fenster auf den trocknenden Abschnitt des Filmstreifens, und da fasste Sistiaga den Entschluss, den Film unter freiem Himmel zu vollenden, und so übersiedelte er nach Ibiza, wo er schon 1961/62 ein Jahr gelebt hatte, und schuf dort den Schluss des Films. Das war, wie er selbst mehrfach in Interviews sagte, typisch für ihn: Immer wachsam und offen für Zufälle, für Chancen, für plötzliche Eingebungen.


Sistiaga - der Wert darauf legt, nicht Spanier, sondern Baske zu sein - entwickelte schon als Kind eine Abneigung gegen den franquistischen Staat und zwei seiner Hauptstützen, Kirche und Militär, nachdem sein Vater durch einen Priester und Soldaten zweimal denunziert und inhaftiert worden war. In Interviews betont Sistiaga immer wieder den Wert des Individuums und sein Misstrauen gegenüber Organisationen, Behörden, Parteien. Ebenfalls schon als Kind verspürte Sistiage das Talent und das Interesse für die Malerei, und so wurde er denn auch Maler. 1955-61 verbrachte er in Paris, und dort sah er 1958 einen Film von McLaren, was in ihm den Grundstein zu dem Plan legte, selbst einmal einen derartigen Film zu machen. Nach seiner Rückkehr aus Frankreich lebte er, wie erwähnt, ein Jahr auf Ibiza, dann wieder im Baskenland, wo er zu den jungen Avantgarde-Künstlern zählte, die gegen die vom Staat protegierte akademische Kunst aufbegehrten. In den 60er Jahren entfaltete er neben der Malerei weitere Aktivitäten. Gemeinsam mit dem Beuys-Schüler Bernd Lohaus und dem aus Uruguay stammenden experimentellen Poeten Julio Campal veranstaltete Sistiaga 1964 in Madrid eine öffentliche Performance. Im Jahr darauf gründete er mit dem befreundeten Bildhauer Jorge Oteiza und ungefähr einem halben Dutzend weiteren baskischen Malern und Bildhauern eine Künstlergruppe namens "Gaur". Sistiaga war auch daran beteiligt, neutönende Musik - von Stravinsky und Schönberg über Edgard Varèse und Pierre Schaeffer bis zu Boulez, Xenakis und Stockhausen - erstmals ins Baskenland zu bringen. Mitte der 60er Jahre betätigte sich Sistiaga auch als Lehrer, und zwar, gemeinsam mit der befreundeten baskischen Künstlerkollegin Esther Ferrer, nach den antiautoritären und kreativitätsfördernden Maximen des französischen Pädagogen Célestin Freinet. Dagegen gab es aber erhebliche Widerstände - im Franco-Spanien nicht weiter verwunderlich -, und schließlich gab Sistiaga frustriert seine Verpflichtungen auf - um einen Film zu machen.


Wie schon erwähnt, stammte der Keim der Idee von der Sichtung eines Films von Norman McLaren, aber der unmittelbare Anstoß kam von Rafael Ruiz Balerdi. Ruiz Balerdi war ein Mitglied von Gaur, aber Sistiaga kannte ihn schon seit seiner Jugend, als beide in einem Museum in San Sebastián zu Übungszwecken Gemälde kopierten. Ruiz Balerdi hatte mit der Arbeit an einem handgemalten Film mit dem Titel HOMENAJE A TARZÁN begonnen, und er versorgte Sistiaga mit 35mm-Material, so dass dieser nun auch loslegen konnte. Nach den Querelen um seine schulischen Aktivitäten (und immer wieder mal mit dem etablierten Kulturbetrieb und den Kulturbehörden) empfand es Sistiaga als Befreiung, sich losgelöst von seinen bisherigen Aktivitäten in etwas Neues stürzen zu können. In einem Interview mit der Zeitschrift L'Art Vivant sagte er einige Monate nach Fertigstellung des Films auf die Frage, was er damit erreichen wollte, sogar folgendes: "Zunächst fühlte ich die Notwendigkeit, mich an allen zu rächen, an all den Organisationen und Leuten, die mir Hindernisse in den kreativen Weg geworfen hatten; ich wollte mich rächen für ihren Mangel an Sensitivität und Liebe, für ihre Feigheit und Angst vor allem, das kein Konsumprodukt ist oder unmittelbaren materiellen oder politischen Gewinn verspricht, alles, das ihrer Kontrolle der Ökonomie entgeht. Ich fühlte mich gründlich unterdrückt. Ich hatte keine ökonomischen Ressourcen. Ich fühlte mich verzweifelt, nach einer langen Schlacht auf dem Feld des Unterrichts, wo ich versucht hatte, andere, humanere und kreativere Erziehungsansätze durch ihre Anwendung zu etablieren. Im Mai 1968 übertrug ich alle meine direkten Aktivitäten und Verantwortlichkeiten an Andere und begann noch einmal, mit Farbe zu experimentieren, nur diesmal auf Film."


Der Film, der nun zunächst entstand, dauerte nur acht Minuten, und er vereinte abstrakte und erzählende Sequenzen. Die Handlung besteht darin, dass sich ein Kirchturm in eine Rakete verwandelt, im Weltraum Hammer und Sichel sowie dem Dollarzeichen begegnet, dann hat die Rakete (oder ist es wieder die Kirche?) Sex mit dem Dollar. Es hätte noch etwas weitergehen sollen, aber Sistiaga lief die Zeit weg, weil er den Film beim Internationalen Dokumentar- und Kurzfilmfestival Bilbao einreichen wollte. Dort gewann er 1968 den Preis für den besten experimentellen Film. Wenn es nach Sistiaga gegangen wäre, hätte der Film überhaupt keinen Titel haben müssen, aber da es nun mal Usus ist, dass es einen Titel gibt, und weil Baskisch damals im öffentlichen Leben praktisch verboten war, rief Sistiaga Ruiz Balerdi an, der offenbar Talent für das Erfinden sinnloser Wörter hatte, und bat ihn, einen Titel zu nennen, der baskisch klingen sollte, und der "weder zu kurz noch zu lang war". Und so kam der Film zu seinem Titel ERE ERERA BALEIBU ICIK SUBUA ARUAREN (und zwar in dieser Schreibweise). Nach dem erfolgreichen Auftakt war Sistiaga auf den Geschmack gekommen, und er wollte den Film zu einem viel längeren erweitern. Dazu brauchte es einen Geldgeber, und den fand er in Juan Huarte Beaumont, einen großzügigen Kunstsammler und Mäzen, der in vielfältigen Projekten zeitgenössische Künstler aller Art förderte. Unter anderem hatte Huarte in Madrid X Films gegründet, eine Firma, die ohne Gewinnabsicht Avantgardefilme produzierte (auch HOMENAJE A TARZÁN wurde von X Films produziert). Nachdem Sistiaga Huarte seine Idee erläutert hatte, übernahm X Films die Kosten, und zwar nicht nur die Materialkosten, sondern auch Sistiagas Lebensunterhalt während der 17 Monate Arbeit am Film.


Sistiagas ursprüngliches Konzept, den Kurzfilm auszubauen, änderte sich schnell: Er warf die erzählenden Partien hinaus und wollte nun einen rein abstrakten Film machen, der mit dem in Bilbao ausgezeichneten Film nicht mehr viel zu tun hatte. Deshalb wurde der Erstling nachträglich in DE LA LUNA A EUSKADI (was "Vom Mond ins Baskenland" bedeutet) umbenannt, während Ruiz Balerdis enigmatisches Wortgebilde für das nun entstehende opus magnum reserviert wurde. Doch das war noch nicht der Endpunkt. Baskisch war zwar Sistiagas Muttersprache, aber durch das weitgehende Verbot hatte er die Sprache im Lauf der Zeit mehr oder weniger verlernt. Und so bedachte er nicht, dass im Baskischen das "c" nicht üblich ist, als ihm Ruiz Balerdi am Telefon den Titelvorschlag durchgab. Irgendwann später korrigierte Sistiaga diesen Lapsus und ersetzte das ICIK durch das noch "baskischere" IZIK (und die Punkte am Anfang und Ende des Titels kamen auch noch hinzu). Aber der Titel in seiner ursprünglichen Form hatte längst seinen Einzug in die Presse und Bücher gehalten, so dass heute beide Fassungen kursieren, teilweise sogar nebeneinander in ein und derselben Publikation. - Der fertige Film musste (wie jeder Film damals) der Zensur vorgelegt werden, in diesem Fall einem Gremium aus 12 Personen, darunter zwei Priestern, und er erhielt die Freigabe, nachdem Sistiaga die (nicht vorhandene) Bedeutung des vermeintlich baskischen Titels erläutert hatte. Weil man nicht wusste, in welche Schublade man ihn einsortieren sollte, wurde er als Kurzfilm klassifiziert. Es gab sogar, den Regularien entsprechend, eine nachträgliche finanzielle Förderung vom Staat, aufgrund der Einstufung als Kurzfilm allerdings weniger, als Sistiaga eigentlich zugestanden hätte.


Was ist ...ERE ERERA BALEIBU IZIK SUBUA ARUAREN... nun eigentlich für ein Film? Zunächst mal: Er hat keine Ähnlichkeit mit den Filmen von McLaren. (Im Gegensatz zu den drei Filmen EXP. NO.1 bis EXP. III, die der katalanische Apotheker und Freizeit-Regisseur Joaquim Puigvert zwischen 1958 und 1960 machte, und die stark von McLaren beeinflusst sind. Zumindest die ersten beiden (den dritten kenne ich nicht) erinnern insbesondere an BLINKITY BLANK.) Während bei McLarens abstrakten Filmen geometrische Formen dominieren, sind es bei Sistiaga organische. Und während McLaren meist viel Mühe darauf verwandte, identifizierbare Objekte mit möglichst wenig von dem unvermeidbaren Ruckeln und Zittern über die Leinwand zu bewegen oder stillstehen zu lassen, gibt es bei Sistiaga solche identifizierbaren Objekte fast überhaupt nicht, weil die Bilder in rasendem Rhythmus wechseln. Nur in einer wenige Minuten langen Sequenz bleibt ein kreisförmigen Objekt mit Oberflächentextur (in dem man, wenn man mag, einen Planeten mit Kontinenten sehen kann), an Ort und Stelle. Tatsächlich hat sich Sistiaga über weite Strecken des Films überhaupt nicht an die Grenzen der einzelnen Frames gehalten, sondern einfach darüber hinweggemalt. Übrigens entspricht die Anordnung des Films exakt der chronologischen Reihenfolge seiner Entstehung, mit anderen Worten, es gibt keinen einzigen Schnitt. Der deutlich überwiegende Teil des Films ist sehr farbig, es gibt aber auch eine längere Sequenz mit herumwuselnden filigranen weißen Mustern auf schwarzem Grund, in denen man vielleicht zuerst Insekten und dann, wenn die Muster etwas kräftiger werden, einen Schwarm Fledermäuse sehen mag, der nächtens von einem Scheinwerfer angestrahlt wird. Auch diese schwarzweisse Sequenz ist übrigens gemalt und nicht etwa in schwarzes Filmmaterial eingeritzt (wie das McLaren bei BLINKITY BLANK und im Mittelteil von BEGONE DULL CARE oder Len Lye bei FREE RADICALS gemacht haben). Wie ich schon mit Planeten und Fledermäusen andeutete, ist es praktisch unvermeidlich, beim Ansehen eines solchen Films Assoziationen zu bilden. Hier sind es bei mir und Anderen Bilder auf allen mikro- und makroskopischen Größenordnungen, von Elementarteilchen über Einzeller bis zu Galaxien, von blubbernder Lava über ein Asteroidenfeld, das man durchrast bis zu einem Kaleidoskop, das seine geometrische Form überwunden hat und in eine organische Existenz hinein wuchert. Unnötig zu erwähnen, dass solche Metaphern rein subjektiv sind. Man sollte übrigens beachten, dass sich der Eindruck des Films in Bewegung teilweise stark vom Eindruck der einzelnen Screenshots unterscheidet, die ich hier präsentiere. - Wenn man nach einem Vergleich mit anderen Schöpfern von abstrakten und/oder handgemalten Filmen sucht, dann erinnert mich ...ERE ERERA... (wie ich ihn ab jetzt abkürzen werde) am stärksten an die abstrakten Filme von Stan Brakhage. Das gilt nicht nur für die Bilder: Ebenso wie die abstrakten (und auch fast alle sonstigen) Filme Brakhages ist auch ...ERE ERERA... komplett stumm. Einen direkten Einfluss gibt es aber vermutlich nicht. Sistiaga sah seinen ersten und bislang einzigen Brakhage-Film 1995, und von einem Einfluss von ...ERE ERERA... auf Brakhage ist mir zumindest nichts bekannt.


...ERE ERERA... hatte 1970 in Madrid Premiere, und er lief noch im selben Jahr bei verschiedenen Gelegenheiten im Ausland, u.a. beim Kurzfilmfestival in Oberhausen und beim London Underground Film Festival. Seitdem läuft ...ERE ERERA... in unregelmäßigen Abständen irgendwo auf der Welt, auf Festivals, in Museen und dergleichen, z.B. 1979 im Berliner Arsenal, 1982 im Museum Ludwig in Köln und 1986 im Frankfurter Filmmuseum, und erst vor ein paar Monaten in Hanover (New Hampshire). Es besteht also die theoretische Möglichkeit, den Film irgendwann mal auf Leinwand zu sehen. 2007 wurde als Höhepunkt einer Ausstellung in der Tabacalera Donostia, einem Kulturzentrum in San Sebastián (Donostia ist der baskische Name der Stadt), ...ERE ERERA... auf die Wände, Böden und Decken des Gebäudes projiziert, und aus diesem Anlass wurde ein viersprachiges Buch (Baskisch/Spanisch/Englisch/Französisch) mit dem Titel "...ere erera baleibu izik subua aruaren..." herausgegeben, das auf einer beiliegenden DVD den kompletten Film enthält (allerdings ist das Bild an den Rändern beschnitten). Das ist offenbar die einzige Möglichkeit, zu einem vernünftigen Preis an ...ERE ERERA... auf einem digitalen Datenträger zu kommen (bei Sistiagas Distributor in Paris kann man ebenfalls eine DVD bestellen, aber zu einem Preis jenseits von gut und böse). 2011 erschien (ohne DVD) ein weiteres Buch in denselben vier Sprachen mit dem Titel "José Antonio Sistiaga. Lorategi irudikatu bateko islak". Daneben gibt es auch noch weitere Bücher sowie Ausstellungskataloge seiner Gemälde in Spanisch und/oder Baskisch.


Sistiaga hat nach ...ERE ERERA... weitere Filme gemacht, auf die ich hier aber nicht eingehen will. Fast wäre ihm übrigens sein Meisterwerk abhanden gekommen. Bei X Films war für die geschäftlichen Belange ein gewisser Gonzalez Sinde zuständig, und der beanspruchte ...ERE ERERA... als sein Eigentum. Zwar war der von Sistiaga hinzugezogene Juan Huarte auf seiner Seite, doch die Witwe des mittlerweile verstorbenen Gonzalez Sinde hatte seinen Nachlass, und darunter auch ...ERE ERERA..., an einen Filmproduzenten verkauft. Der konnte dann überredet werden, den Film im Austausch gegen zwei von Sistiagas Gemälden herauszurücken.


Einige Informationen für den Artikel habe ich von Sistiaga selbst bekommen, wofür ich ihm herzlich danke. Für die Vermittlung des Kontakts und die Übersetzung der Fragen und Antworten danke ich Nere Pagola und Maider Zendoia von der Baskischen Filmothek (Euskadiko Filmategia / Filmoteca Vasca) in San Sebastián.

Sonntag, 11. Mai 2014

Kurzbesprechung IDA


IDA
Polen / Dänemark 2013
Regie: Paweł Pawlikowski
Darsteller: Agata Kulesza (Wanda Gruz), Agata Trzebuchowska (Anna / Ida Lebenstein), Dawid Ogrodnik (Lis), Adam Szyszkowski (Feliks Skiba), Jerzy Trela (Szymon Skiba)



Polen, Anfang der 1960er Jahre. Die Novizin Anna, die in einem Kloster aufgewachsen ist, steht kurz davor, ihr Gelübde abzulegen. Die Äbtissin fordert sie dazu auf, vorher noch ihre einzige lebende Verwandte, nämlich ihre Tante Wanda Gruz zu besuchen. Die Tante entpuppt sich als Frau mit einem starken Alkoholproblem und einem Geschmack für schnelle Affären, die als aktive Staatsanwältin noch von ihrem Ruf als „blutige Wanda“ zehrt: in den frühen 1950er Jahren war sie an stalinistischen Prozessen beteiligt, in denen sie  gegen „Volksfeinde“ Todesurteile aussprach. Die forsche Mittvierzigerin zögert nicht lange, Anna ins Gesicht zu sagen, dass sie eine „jüdische Nonne“ ist, eigentlich Ida Lebenstein heißt und ihre Eltern während des Zweiten Weltkriegs ermordet wurden. Die beiden unterschiedlichen Frauen machen sich auf, das Grab der Schwester bzw. Mutter und ihres Ehemanns zu suchen. Der Roadtrip des merkwürdigen Frauenduos durch eine marode und trostlose polnische Provinz entwickelt sich nicht nur zu einer Suche nach den Mördern, sondern auch zu einem Herantasten an die eigene Identität...

Die Bauernhöfe, die Wanda und Ida besuchen, sind verfallen, aber dennoch irgendwie idyllisch. Die Bevölkerung lebt ein einfaches, aber zufriedenes und frommes Leben und im nahe gelegenen Wäldchen liegen die Gebeine ihrer jüdischen Nachbarn begraben, die sie vor knapp zwanzig Jahren ermordeten und in deren Häuser sie heute wohnen. Wie bereits Władysław Pasikowskis POKŁOSIE im letzten Jahr greift auch IDA die innerpolnische Debatte um die Beteiligung von Polen am Holocaust wieder auf, die Jan Tomasz Gross‘ Buch „Neighbors: The Destruction Of The Jewish Community In Jedwabne, Poland“ 2001 angestossen hatte und bis heute noch nachhallt. Wanda und Anna/Ida treffen im ehemaligen Haus der Lebensteins die Skibas. Das Familienoberhaupt Feliks verweist die beiden Frauen schroff an seinen Vater Szymon, mit dem er nichts mehr zu tun hat. Später kommt heraus, dass Szymon die Lebensteins (darunter auch Idas älteren Bruder) versteckte, Feliks sie dann aber ermordete. Von Deutschen, die hier nur an einer Stelle in einem Nebensatz erwähnt werden, fehlt jede Spur: die Lebensteins fielen einem polnischen Antisemiten zum Opfer.

Von seiner Machart her ist IDA ein ruhigeres, mehr nach innen gerichtetes Gegenstück zum explosiven POKŁOSIE, der durchaus Backwood-Thriller-Elemente aufwies. Obwohl jedoch Pawlikowskis Film ein „period“-Film ist, thematisiert auch er das Verschwinden jüdischer Identität aus Polen: durch den Holocaust, durch Emigration, durch einen dezidierten, exklusiven und katholisch gefärbten Nationalismus, durch zunehmenden Antisemitismus. Am Ende verschwinden beide Protagonistinnen selbst auf verschiedene Arten. Wanda begeht Selbstmord – und kommt ihrer Degradierung zuvor, die während der antisemitischen Hetz-Kampagnen von 1968 höchstwahrscheinlich erfolgt wäre. Im Zuge der „anti-zionistischen“ Politik wurden von 1968 bis 1971 Polen jüdischer Herkunft mit Berufsverboten belegt, schikaniert, aus Partei-, Staats-, Justiz- und Armee-Ämter entfernt und zur Emigration „ermutigt“. Möglicherweise ist Wanda Gruz teilweise nach Helena Wolińska-Brus modelliert worden, die Anfang der 1950er Jahre als Militäranklägerin stalinistische Prozesse gegen Angehörige der Polnischen Heimatarmee leitete. Die jüdisch-stämmig Wolińska-Brus beging im Gegensatz zu Wanda jedoch nicht Selbstmord, sondern emigrierte 1968 nach Großbritannien, und steht stellvertretend für eine bestimmte Spielart der Entstalinisierung, bei der Juden zu Sündenböcken vergangener stalinistischer Verbrechen gemacht wurden (ein Phänomen, das auch in Ungarn ähnlich zu beobachten war). Auch Ida verschwindet am Ende des Films, um wieder Anna zu werden und sich an das Kloster-Leben zu assimilieren. Dieses Leben im Nonnenkloster kann man denke ich in IDA nicht als Gegenwelt zum realsozialistischen Polen lesen, sondern als andere Seite derselben Medaille. „Keuschheit, Armut und Gehorsam“, das Motto, unter das sich die Novizinnen zu unterwerfen haben, erscheint nicht gerade als Alternative oder als besonders verschiedenartig zum Leben „draußen“ in Volkspolen.

Die eine Protagonistin ist eine depressive Alkoholikerin, die sich selbst praktisch aufgegeben hat, die andere ist eine junge Frau, die kurz davor steht, dem Leben zu entsagen: IDA ist ein durch und durch bedrückender Film. Es ist auch ein kalter Film, ein Film, der in vielen seiner Bilder den Tod atmet (was letztlich zu einem Holocaust-Drama nicht völlig unpassend ist). Auffallend ist, wie distanziert die Kamera mit den Figuren umgeht, wie sie in den exzentrischen und asymmetrischen Bildkompositionen an den Bildrand gedrängt werden, oft nach unten – eine Inszenierungsstrategie, die in Cinemascope natürlich schwer funktioniert, weshalb das „Academy ratio“ (1:1,37) geradezu zwingend scheint. Im Bild-Mittelpunkt stehen meistens nackte Wände, trostlose Schneematsch-Winterlandschaften, marode Treppenhäuser, heruntergekommene Flure, oder aber auch das filigrane Gittermuster einer Fensterfront. Die extreme Einsamkeit der beiden Hauptfiguren wird damit noch expliziter und bedrückender in kunstvollen Schwarzweiß-Bildern visualisiert.

IDA ist aber nicht nur ein Drama über den Holocaust und den Antisemitismus in Polen, sondern ein Film der kulturellen Verweise. Wie bereits andere Besprechungen vermerkten, weist IDA sehr deutlich auf die Filme der Neuen Polnischen Welle. In den Schluss-Credits wird in der Dankesliste etwa Jerzy Skolimowski aufgeführt (als einer von vielen Namen, unter denen auch Alfonso Cuarón auftaucht). Die Szenen in der Tanzhalle, in der Wanda und Ida der Band des trampenden Jazzsaxofonisten Lis‘ zuhören, erinnerte mich etwas an einige Momente in  Andrzej Wajdas POPIÓŁ I DIAMENT („Asche und Diamant“) – wo auch eine Feierlichkeit in einem trostlosen und etwas heruntergekommenen Tanzsaal in der polnischen Provinz stattfindet. Am eindeutigsten dürften jedoch die Bezüge zu MATKA JOANNA OD ANIOŁÓW („Mutter Johanna von den Engeln“) von Jerzy Kawalerowicz sein, der hier schon in diesem Blog besprochen wurde. Gerade die Gelübde-Zeremonie, bei der sich die Novizinnen in voller Tracht, mit dem Gesicht zum Boden und mit ausgestreckten Armen hinlegen, dürfte maßgeblich von Kawalerowicz‘ Film inspiriert sein. Der Subplot der Nonne, die kurzzeitig ihre Tracht ablegt und eine Affäre mit einem Auswärtigen beginnt, dürfte auch auf IDA abgefärbt haben.

Ebenso ist IDA aber auch eine Hommage an Polen als Jazz-Land – was angesichts der Tatsache, dass der Film primär ein Holocaust-Drama ist, zunächst überraschen mag, aber unter einem bestimmten Blickwinkel auch eine gewisse Logik hat. In keinem realsozialistischen Land entwickelte sich eine derartig innige Liebe zum Jazz und eine solch lebendige Szene wie in Polen. Das „Jazz Jamboree“, also das Ende der 1950er Jahre etablierte Internationale Jazz Festival Warschau, wurde zu einer regelrechten Pilgerstätte für Jazz-Liebhaber hinter dem Eisernen Vorhang. Miles Davis, der in den 1980er Jahren mehrmals in Warschau spielte, sagte einmal, dass er nirgendwo auf der Welt so herzlich empfangen wurde wie in Polen. Die polnische Jazz-Szene pflegte einen intensiven Ideen-Transfer mit der internationalen Musik-Szene. In IDA spielt Lis‘ Band etwa nach den eher „leichteren“ Tanznummern eine eigene Version von John Coltranes „Naima“. Polen war auch das europäische Land, in dem die vielleicht experimentellsten Ausdrucksformen von Jazz ab den späten 1960er Jahren geprobt wurden: „Die Polen fingen da an, wo John Coltrane aufgehört hatte.“ – sagte mir ein Kommilitone und ausgewiesener Spezialist der osteuropäischen Jazz-Kultur einmal bei einem Gespräch über das Spätwerk John Coltranes. Worauf ich hinaus will: IDA präsentiert die polnische Jazz-Welt als Fenster des Lebens und der Hoffnung, als eine utopische Alternative zu den beiden anderen Welten, die im Film dominieren, nämlich der sozialistischen und katholischen. In vielerlei Hinsicht gleichen sich letztere in ihrer biederen und grauen Geschlossenheit. Wenn jedoch die Jazz-Musiker spielen, füllen sie die trostlose Tanzhalle mit Leben. Sie sind wahrhaftig internationalistisch und wahrhaftig nächstenliebend und reichen sowohl Wanda als auch Anna über alle Differenzen hinweg eine Hand. Anna/Ida ergreift diese kurzfristig auch, als sie eine Affäre mit Lis beginnt. Als dieser ihr vorschlägt, mit ihm auf die Konzerttour zu reisen und zu leben, lehnt sie dieses „Leben“ ab, begeht in einer gewissen Weise auch „Selbstmord“ – eine melodramatische und vor allen Dingen hochgradig symbolische Wendung: das Jazz-Polen als mögliche Alternative bleibt Utopie.


IDA hatte seine Deutschland-Premiere am 9. April beim 14. goEast Festival des mittel- und osteuropäischen Films, erhielt dort den Hauptpreis des Wettbewerbs und läuft derzeit noch in einigen deutschen Kinos.