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Mittwoch, 14. September 2016

Vienna und die reitende Frau mit der Peitsche haben eine große Schwester

CALIFORNIA
USA 1947
Regie: John Farrow
Darsteller: Barbara Stanwyck (Lily Bishop), Ray Milland (Jonathan Trumbo), Barry Fitzgerald (Michael Fabian), George Coulouris (Pharaoh Coffin), Anthony Quinn (Don Luis Rivera y Hernandez), Albert Dekker (Pike)



Ich liebe exzentrische Westerns! Und die Frage nach meinem liebsten Western würde ich wohl mit JOHNNY GUITAR beantworten, dicht gefolgt von FORTY GUNS. Beide stellen traditionelle Elemente des Genres auf den Kopf und bleiben durch ihre wuchtig expressionistische Inszenierung (ersterer in fast psychedelischen Trucolor-Farben, letzterer in brutal kontrastiertem Schwarzweiss) lange im Gedächtnis. Beide wurden von Jonathan Rosenbaum in seiner Liste „A Dozen Eccentric Westerns“ gewürdigt und beide haben, wenn man so möchte, eine große Schwester. Ihr Name ist CALIFORNIA.

Kalifornien, oder: Das gelobte Land

Die Vorstellung, dass CALIFORNIA so etwas wie ein „normaler“ Western sein könnte, gerät schon in den ersten Sekunden ins Schwanken. Das von einem Chor auf ausgesucht pathetische Weise gesungene Titellied hat gerade die opening credits begleitet – und der Film kann losgehen... Oder auch nicht.


Statt eines konventionellen Filmanfangs...
...eine pastorale Sinfonie mit sakral-hymnischer Note

Idyllische Naturbilder werden in einer „pastoralen Sinfonie“ (im Gegensatz etwa zu einer Stadtsinfonie) aneinandergereiht, während Voice-Overs, gesprochen von mehreren Figuren, das ganze kommentieren. Gott persönlich habe Kalifornien geschaffen und dann aufgehört, weil er sich danach ja nur wiederholen könnte, so die Stimme eines alten Mannes. Die Bäume, sagt ein kleiner Junge, seien riesig genug, um ganze Kirchen daraus zu schnitzen – nein, nicht nur Kirchen, sondern zusätzlich auch eine Synagoge und eine baptistische Mission könne man daraus bauen. Jemand habe eines Nachts mal eine Schaufel aus Versehen im Boden stecken lassen, sagt ein Mann mit eindeutig hispanischer Herkunft – am nächsten Morgen war ein blühender Baum voller Früchte daraus geworden. Kurz: Wer nach diesen zwei Minuten nicht vollends davon überzeugt ist, dass Kalifornien das dufteste Fleck Erden auf der Welt sei, dem ist nicht mehr zu helfen.
Der Gedanke, dass auf eine derartig bizarre Art und Weise ein Hollywood-Mainstream-Western aus den 1940er beginnt, ist schon recht abwegig. Solche pastoral-religiösen Sinfonien kennt man vielleicht aus den späten Filmen Terrence Malicks (dort lediglich noch pathetischer und weniger „demokratisch“ in der Religiosität). Bemerkenswert ist auch: Kalifornien ist nicht nur ein gelobtes Land, sondern auch eine multikulturell-tolerante Utopie, in dem nicht nur WASPs, sondern auch jüdische und spanisch-sprachige Amerikaner Platz haben sollen...


Ein Treck geht gen Westen

... und daher ist es auch logisch, dass ganz viele Leute in dieses gelobte Land gehen möchten. Zum Beispiel ein Siedler-Treck, der von dem strengen Jonathan Trumbo geleitet wird: offensichtlich ein Mann der Pistole und wenigen Worte, der als Bodyguard der Siedler fungiert und dafür von ihnen bezahlt wird. Bei einem Zwischenstopp in der Stadt nimmt der Treck einen komischen Vogel mit: Lily Bishop, eine Frau, die gerade von gutgläubigen respektablen Damen (heute würden sie sich wohl als „besorgte Bürgerinnen“ bezeichnen) aus einem Saloon rausgeworfen wird, weil sie „sündig“ und „böse“ sei. Gegen den ausdrücklichen Widerstand Trumbos wird Lily von dem alten Farmer Michael Fabian in den Treck aufgenommen.
Farmer ist allerdings wohl nicht der adäquate Begriff: Fabian ist Winzer. Er trägt ein paar ausgetrocknete Stöcke mit sich, aus denen später Reben wachsen sollen. Trumbo glaubt nicht so recht daran, doch Fabian erklärt ihm in poetischen Worten, was seine Reben machen werden: „They catch the sun and save it, and then they let loose the warmth in the heart of a man when he drinks the wine.“
Die Wärme in Trumbos Herzen ist allerdings noch nicht so ersichtlich geworden, auch, wenn er ein paar ordentliche Schlücke Wein gut gebrauchen könnte. Er schnauzt die Neue, Lily, zunächst an, weil sie sich mit dem rationierten Wasser die Haare wäscht. Dabei kann sich Trumbo durchaus auf Seite der Mehrheit fühlen: die meisten Trecker haben den Rat der bes... gutgläubigen Frauen beherzigt und meiden Lily wie die Pest, kehren ihr den Rücken zu, sobald sie etwa bei den abendlichen Gesängen und Tänzen auftaucht. Nur der gute alte Fabian spricht gerne mit ihr und redet ihr gut zu („California will have a room for you!“). Nichtsdestotrotz gönnt sich Lily ihre eigene kleine Rache. Abends zockt sie die Trecker beim Kartenspiel ab, und schlägt dann auch Trumbo – nicht, ohne ihn mit einem kleinen „Trinkgeld“ (O-Ton: „grave money“) und einigen sarkastischen Bemerkungen wie einen Deppen dastehen zu lassen. Später kommt Trumbo in ihr Zelt. Irgendwie liegt sexuelle Spannung in der Luft und sie küssen sich. „Mehr“ wird er jedoch nicht bekommen, sagt sie ihm sarkastisch, worauf er ihr eine schallende Ohrfeige gibt – und hier passiert etwas, was man in einem Hollywood-Film der 1940er Jahre kaum erwarten würde: sie bleibt davon völlig unbeeindruckt, und Trumbo, der plötzlich wie ein bemitleidenswertes und hilfloses Würstchen wirkt, zieht dann sprachlos ab, während sie sich dann leicht amüsiert die Wange reibt. Ein Mann, der in vielen anderen Filmen der harte Macker wäre, wird in wenigen Minuten lächerlich gemacht, während eine Frau die Hose anhat – und zwar wortwörtlich.


Zunächst verachtet, verbannt und im roten Technicolor-Kleid...
...zieht Lily Bishop später wörtlich und metaphorisch Hosen an.

Die Stanwyck, die in einem flammend roten Kleid in den Film eingeführt wird (ergo: aus dem Saloon geschmissen wird) – trägt während der Treck-Fahrt eine Hose und ein Männerhemd und nimmt damit Joan Crawfords Aufmachung in JOHNNY GUITAR (wenngleich in weniger flamboyanten Farben) sowie ihr eigenes Kostüm als „high-riding woman with a whip“ in FORTY GUNS vorweg. Worin CALIFORNIA ebenfalls JOHNNY GUITAR einiges vorweg nimmt, ist die merkwürdige, extrem künstliche Farbgebung, die den Film über weite Strecken eher gemalt als fotografiert aussehen lässt. Bereits einige der pastoralen Bilder im Prolog sehen wie gemalte Studioattrappen aus – doch als der Treck vorangeht, sieht CALIFORNIA aus wie die künstliche Plastikwelt eines Nebenstudios aus (was er wohl auch war). Es ist ein Look, der durchaus kritisiert wurde und wird, die dem Film aber, wie ich finde, eine ungewöhnliche, sehr expressionistische Note gibt.
Manch ein Gestein mag nicht nur so aussehen, sondern fast schon nur durch den Anblick riechen wie Plastik – das ändert nichts daran, dass CALIFORNIA ein unglaublich gutes Gespür für seine Räumlichkeiten und den Platz seiner Figuren darin hat. So sehr, dass er über weite Strecken vollkommen auf Schnitte verzichtet. Dies ist ein Punkt, der wiederum FORTY GUNS in Erinnerung ruft, ein Western mit zwei rekordverdächtig langen Plansequenzen: die eine, bei der mehrere Figuren die Hauptstraße des Orts herunter- und dann wieder zurücklaufen, und die andere mit einem Dialog in einem Raum, der in eine Schießerei mündet und schließlich in den Selbstmord einer Nebenfigur in einem Nebenraum. CALIFORNIA hingegen, und das zehn Jahre vor FORTY GUNS, besteht fast nur aus mehr oder weniger langen Plansequenzen.


Trumbos langer Gang durch das Nachtlager – eine
vierminütige Plansequenz
Bei der Erstsichtung fielen mir zwei Stück besonders auf, doch bei der Zweitsichtung merkte ich erst, dass fast ausnahmslos jede Szene schnittlos gefilmt ist. Ein Bravourstück ist sicherlich die erste und ich glaube auch längste Plansequenz des Films. Der Treck begibt sich zur Nachtruhe und Trumbo dreht eine kleine Kontrollrunde: gibt dem einen Siedler Tipps bei der Reparatur des Rads, unterhält sich mit einem Jugendlichen, der selbstsicher (etwas zu selbstsicher sogar) mit einem Gewehr hantiert, schimpft Lily aus, weil sie sich mit Wasser die Haare gewaschen hat, unterhält sich mit Fabian über den Weinbau und äußert darüber sein Unverständnis, verfolgt dann das Gespräch zwischen Fabian und dem Trecker Pennock, der kein Farmer ist, sondern ein (leicht schmierig wirkender) Geschäftsmann. Die schnittlos über einen ganzen Treck und viele Dutzend Meter gefilmte Szene endet schließlich erst viereinhalb Minuten später (die gleich darauf folgende Szene ist mit knapp zweieinhalb Minuten zwar kürzer, aber ebenso schnittlos und kunstvoll choreografiert gefilmt). Einer der großen Verluste der Filmgeschichte ist sicherlich, dass Max Ophüls in seinem amerikanischen Exil keinen Western drehte. Einige wenige Momente in CALIFORNIA (wenn Lily etwa durch eine überfrachtete Ball-Terrasse rennt und die Kamera ihr dabei mit tänzelnder Leichtigkeit folgt) geben einem ein Gefühl davon, wie das hätte aussehen können.
So – noch nicht einmal 20 Minuten des Films sind vorbei, und schon weist er viele exzentrische Elemente auf: eine weibliche Hosenrolle in einem eigentlich „ultramännlichen“ Genre, eine multikulturelle Utopie in einem eigentlich „ultraamerikanischen“ Genre, eine Bevorzugung von kunstvoller mise-en-scène gegenüber konventionellen Schuss-Gegenschuss-Montagen, ein Dekor, das seine extreme Künstlichkeit stark betont, eine ausgefeilte und eher malerische als fotografische Farbdramaturgie, ein Bruch konventioneller Erzähldramaturgie mit dem „gelobten Land“-Prolog.
Und was machen wir mit den Namen? Zum Beispiel mit Jonathan Trumbo? Trumbo? Ein außergewöhnlicher Name, den man nicht so leicht vergisst – so etwa ein vorbei reitender Kapitän der Kavallerie, der Fabian etwas von einem Trumbo erzählt, der vor Jahren einmal desertiert ist (wie sich später herausstellt, war es eben dieser Trumbo, und diese Geschichte holt ihn dann am Ende auch ein). Und der geneigte Cinephile? Denkt natürlich an die große Nummer 1 unter den Hollywood Ten, Dalton Trumbo: das berühmteste Opfer der antikommunistischen Hexenjagd in Hollywood während der McCarthy-Ära. Bloß, dass CALIFORNIA im Januar 1947 seine Kinopremiere hatte, während die HUAC-Hexenjagd im Herbst dieses Jahres erst richtig losging. Ein Zufall also, allerdings der sehr interessanten Art: auch Jonathan Trumbo sieht sich mit politischen Intrigen konfrontiert, geführt von skrupellosen Leuten mit einem ganz undemokratischen Verständnis von Gesellschaft und Politik.
Und Michael Fabian? Ist das etwa eine Anspielung auf die Fabian Society, diese Gruppierung britischer Intellektueller, die ohne Revolution, sondern mit einem evolutionären Sozialismus die Gesellschaft ändern wollte und an der Gründung der Labour Party Anteil hatte? Fabian ist zwar kein Intellektueller, sondern voll und ganz ein Bauer (mit einer gleichwohl ungewöhnlichen Spezialisierung), aber irgendwie passt das: Fabian hält nichts von Hektik und überstürzten Entscheidungen. Er denkt nicht nur in wirtschaftlichen, sondern auch in politischen und sozialen Fragen wie ein Winzer: langsam und mit viel Geduld die Pflanzen wachsen lassen, sodass von dieser nachhaltigen Methode später viele etwas davon haben. Später im Film (und das muss nicht unbedingt als Widerspruch aufgefasst werden) entpuppt er sich als Vertreter einer agrarisch-linken Politik in der „Tradition“ der (gemäß der Chronologie des Films) späteren People‘s Party bzw. Populisten. Aber dazu später mehr.
Wo waren wir stehen geblieben. Ach ja: „The Book calls it Kanaan, but we call it California!“ sagt Fabian zu Lily über den Zielort des Trecks. Wer einen Treck-Western à la THE BIG TRAIL erwartet, wird aber enttäuscht, denn dem kommt der Kalifornische Goldrausch in die Quere!


Gold Rush

Dieser wird nun doch über eine Montage erzählt. Merkwürdig anzusehen ist er dennoch. Die Nachricht vom Goldfund in Kalifornien verwandelt einige der Trecker plötzlich in goldgierige, zombie-ähnliche Wesen, die vor der Kamera wie in Trance paradieren, während ein Chor pathetisch „Gold, Gold, Gold, Gold“ deklamiert. Nun: zumindest der film noir wäre ein schlagendes Argument gegen die Vorstellung, dass Filme aus dem Hollywood der 1940er Jahre eine „unsichtbare Regie“ pflegten. CALIFORNIA aber durchaus auch: etwas, was aussah wie ein Treck-Western, bekommt plötzlich sich aus dem Nichts eine andere Richtung mit einer Montage-Sequenz, die sehr betont expressiv und artifiziell ist.


Die Siedler fallen nach der Verkündung des Goldfundes in zombieartige Trance...

... und hinterlassen ein Trümmerfeld!

Der ganze Treck lässt panisch alles liegen und reitet auf Pferden ohne Wagen oder zumindest ohne Gepäck Richtung Kalifornien. So auch Lily, die sich zusammen mit Pennock auf dem Weg macht – was Trumbo ganz und gar nicht passt und weshalb er sich schlussendlich nicht bei ihr für die Ohrfeige entschuldigt. In der großen Panik bekommt Trumbo dann aber eine Peitsche ins Gesicht geschlagen und fällt von seinem hohen Pferd auf den Boden – etwas, was ihm Lily wenige Minuten im Film zuvor gewünscht hatte.
In einem Trümmerfeld aus liegen gelassenen Sachen bleiben also Trumbo mit starken Schulterschmerzen zurück und Fabian, der es eh nicht eilig hat, nach Kalifornien zu gehen, weil er sich aus Gold nichts macht und die Erde und die Sonne auch unabhängig von dem Goldvorkommen für seine Reben da sein werden. Er übernimmt die „Leitung“ des Zwei-Mann-Trecks: sprich, er pflegt Trumbo gesund. Zusammen brechen sie dann auf und erreichen die nächste Stadt. Fabian hat Trumbo darauf hingewiesen, dass die Verletzung mehrere Wochen zur Heilung bräuchte und so können wir annehmen, dass seit der überstürzten Auflösung des Trecks und der Ankunft der beiden mehrere Wochen vergangen sind.


Pharoah City – oder: Bambule in der Gangster-Stadt

In der nächsten Stadt angekommen, die den merkwürdigen Namen Pharaoh City trägt, möchte Fabian mit einem alten Bekannten anstoßen (und zwar mit seinem selbstgebrannten Brandy, den sein jüngerer Begleiter viel zu stark findet), während Trumbo in den nächsten Saloon geht, der merkwürdigerweise Lilys Namen trägt. Im Saloon trifft er den schmierigen Geschäftsmann des Trecks, Pennock, wieder und setzt sich mit ihm zum Trinken hin. Pennock weist Trumbo darauf hin, schnell zu bestellen, denn „sie“ möge es nicht, bei ihrem Auftritt gestört zu werden. Auftritt Lily, die auf die Bühne erscheint, dann nonchalant durch den Saloon läuft und dabei ein Lied singt, in dem sie  preist, was für ein toller Saloon doch Lilys Saloon sei, dass es toll sei, wie Goldgräber nach Gold suchen und ihre Beute dann bei ihr ausgeben, und dass ein respektables Mädchen bald heiraten wird. Auch bei Trumbo kommt sie vorbei und taxiert ihn mit einem sarkastischen Blick. Dann trifft dieser einen alten Kollegen des Treck, der lamentiert, wie schwierig es in Pharoah City sei, weil man für alles überteuerte Gebühren an einen gewissen Coffin zahlen müsse. Auftritt Pike, ein offensichtlich brutaler Schlägertyp in einer Marineuniform (!), der Trumbos Freund bedrängt, ihn dazu auffordert, zu schweigen und schließlich angreift. Trumbo schlägt dann zurück.


"Lily-i-Lily-i-oh": eine wunderbare Musical-Einlage innerhalb einer
langen Plansequenz
Bis zu Trumbos Schlag ist die gesamte Saloon-Szene, von Trumbos Eintreten in das Lokal, gefilmt im Saloon-Spiegel, über Lilys Auftritt bis zum Beginn der Schlägerei wieder in einer einzigen Plansequenz gefilmt worden. Filme, die heute so etwas mit unsichtbaren digitalen Schnitten machen können, werden heutzutage über den Klee gelobt und bekommen dann Oscars, während CALIFORNIA, in dem alles noch analog gemacht wurde, nach wie vor den Ruf eines B-Westerns hat, der einen auf epischen A-Film macht.
K.O. liegt nun Trumbo in Lilys Zimmer und kommt so langsam wieder zu sich. Sie speist ihn wieder mit einigen sarkastischen Worten ab und es entspinnt sich der folgende Dialog: „You talk awful big, like maybe you own the place.
– I do.
– Maybe I shouldn‘t ask how you got it.
– How do you think I got it?
– What I‘m thinking you wouldn‘t like.“
Lily ist also die rechtmäßige Saloon-Besitzerin. Andeutungsweise hat sie durch Prostitution bzw. dadurch, dass sie mit dem richtigen Mann ins Bett gegangen ist, Besitz erlangt. Der Dialog verläuft nicht ganz so wie in JOHNNY GUITAR, wo Vienna ihrem Johnny dann ins Gesicht sagt, dass sich Frauen im Gegensatz zu Männern niemals wieder reinwaschen können, wenn sie nicht ganz astreine Dinge gemacht haben, egal, wie vermögend sie inzwischen geworden sind.
Jedenfalls scheint es so, dass Lily in ihren neuen Besitz dank der Gnade eines mächtigen Herren gekommen ist, und dieser taucht dann auch auf: ein Mann in einem marineblauen Anzug namens Pharaoh Coffin (sic!). Ein Name der für sich spricht: wie ein ägyptischer Pharao herrscht er autokratisch kraft seines Reichtums über seine persönliche Stadt, presst armen Siedlern das letzte Geld durch überteuerte Pachten und Wassergebühren ab, enteignet sie nach Gutdünken. Ein echter Gangster, der seinem Nachnamen alle Ehre macht, wenn es um die Methoden geht – wer nicht gefügig ist, wird von Pike und Coffins anderen Schlägern verprügelt oder reif für den Sarg gemacht.


Trumbo konfrontiert Coffin mit seiner Vergangenheit
als Sklavenhändler
Trumbo erinnert sich jedenfalls schnell an Coffin, nachdem er die Miniatur eines Schiffs namens „Congo Queen“ in dem Zimmer gesehen hat: Coffin war einst der berüchtigte Kapitän eines Sklavenschiffs. Seinen Reichtum verdankt er dem Sklavenhandel, und – Trumbo sagt es ihm explizit – für seine Taten kann er nicht zur Verantwortung gezogen werden, weil Sklaven nicht als Menschen gelten. Nun: in wenigen Minuten (wenn ich es richtig sehe: wieder komplett ohne Schnitt) eröffnet CALIFORNIA einen kleinen Diskurs darüber, wie es denn nun zu bewerten sei, dass Frauen, die durch Prostitution zu Reichtum gekommen sind, als anrüchig gelten und darüber, dass ein Teil des Reichtums der USA auf einem Massenverbrechen, der Sklaverei, beruht – und die entsprechenden Vermögenden größtenteils als anständige und respektable Bürger gelten. Wir sprechen hier übrigens immer noch von einem eher vergessenen Mainstream-Western aus den 1940er Jahren, und nicht von einem „revisionitischen“ Italo- oder New-Hollywood-Western der 1960er Jahre.
Nun: später im Film kommt heraus, dass Lily den Saloon tatsächlich mit ihren ganz persönlichen Ersparnissen hochgezogen hat. Vielleicht war ausser Prostitution auch ein bisschen professionelle Spielerei dabei. Jedenfalls verdankt sie ihren Saloon nur sich selbst. Als sie ihn verliert (sie verzockt ihn beim Kartenspiel an Trumbo!), geht sie zu Coffin und bereitet sich darauf vor, seine Frau zu werden. Nach einer ruhigen und gutbürgerlichen Ehe sehnte sie sich schon lange, aber so ganz wohl ist ihr dabei nicht. Mit Ottonormalverbrauchern für Geld ins Bett zu gehen erscheint rückblickend dann doch plötzlich moralischer als eine sexfreie Ehe mit einem skrupellosen Gangster  und Verbrecher einzugehen. Das spürt Lily irgendwann während des weiteren Verlaufs, und der Film steht da ganz auf ihrer Seite.
Ich habe hier schon ein wenig vorgegriffen. Nach der Szene zwischen Lily, Coffin und Trumbo kehrt dieser erst einmal zu den Goldsuchern seines Trecks zurück. Da gibt es einen Scharmützel mit Coffins Schlägern. Einer der Goldsucher wirft eine Bombe auf einen kleinen Flussdamm und wird erschossen. Danach kehrt Trumbo in den Saloon Lilys zurück, wo er ihn beim Kartenspiel gegen Lily gewinnt. Lily zieht in Coffins Hacienda ein und Trumbo wird als Saloon-Besitzer von Coffin „hofiert“, damit er ihn verkauft: zunächst mit Geld, dann mit Schlägen und Tritten. Provisorischer Abgang des halbtot geprügelten Trumbo.


So prunkvoll wie verrottet: die Hacienda des Pharao(-Sarges)

Der nächste Teil von CALIFORNIA spielt in der Hacienda des Pharaoh Coffin. Dort sind alle guter Stimmung. Offiziell liegt es daran, dass die Verlobung Pharaoh Coffins mit Lily gefeiert wird. Alles, was in Kalifornien Rang und Namen und vor allem einen gut gefüllten Geldbeutel hat, ist auf die Coffin-Hacienda eingeladen worden. Hinter den Kulissen jedoch spielt sich etwas anderes ab. Während auf der Terrasse getanzt, getrunken und gefeiert wird, zieht sich Coffin mit seinen Geldbeutel-Kumpels in ein Hinterzimmer zurück, um dort über die Zukunft Kaliforniens zu entscheiden. Der Entschluss steht fest: Kaliforniens soll auf keinen Fall ein Teil der Union werden, denn dann würden Recht und Ordnung einkehren und es erschweren, sich auf so schamlose und kriminelle Art zu bereichern. Falls die politischen Entwicklungen doch dazu führen, dass Kalifornien Teil der Union wird, müsse mit Waffengewalt dagegen vorgegangen werden. Da sind sich alle einig bis auf Don Luis Rivera y Hernandez, der den Beitritt Kaliforniens zu den USA zwar nicht befürwortet, allerdings sich weder gegen demokratische Entscheidungen stellen noch Blut vergießen möchte.
Trotzdem: damit, klar wird, dass das alles keine heiße Luft ist, lädt Coffin die feine Gesellschaft in die Kapelle der Hacienda ein, wo in einem kleinen Hinterzimmer ein Waffenbunker lagert. Die Besichtigung der Waffensammlung stürzt Don Luis in noch größere Zweifel – und wurde mit interessiertem Blick von Trumbo beobachtet, der sich als ungeladener Gast in die Feierlichkeit geschlichen hat, um Coffin aus Rache für die lebensbedrohliche Prügel zu töten.


Vordergründig mag auf Coffins Hacienda alles goldig glitzern...
...in den Hinterzimmern wird jedoch ein Putsch vorbereitet.
Es war zwar schon angedeutet in dem vorherigen Teil des Films: „robber barons“, die wie Gangster ganze Landstriche unter ihre Kontrolle bringen und dabei nicht nur die sozialen und wirtschaftlichen Rechte eines großen Teils der Bevölkerung, sondern jegliche republikanische, demokratische Gepflogenheiten mit Füßen treten – ein Schuss Kapitalismuskritik, der wohl den meisten Zeitgenossen nicht wirklich aufgefallen ist, weil CALIFORNIA schließlich nur ein „kleiner“ Western war. Doch in der Hacienda wird aus einem Nebenaspekt geradezu der Hauptplot – und so hat sich dieser Film, der wie eine Screwball-Komödien-artige Auseinandersetzung eines gegensätzlichen Paars auf einem Siedler-Treck angefangen hat, zu einer Art linken Polit-Thriller entwickelt. Das allerdings „nur“ 20 Jahre, bevor einige Italo-Westerns sich in den späten 1960er Jahren in linke, 68er-beeinflusste Proto-Polizieschi wandelten.

Der ehemalige Sklavenhändler wird von paranoiden
Halluzinationen ergriffen.
Skeptisch im Hintergrund: Lily und die heilige Mutter Gottes
Den Aspekt, dass so einige Reichtümer in den USA der Sklaverei zu verdanken sind, hat CALIFORNIA aber nicht aus den Augen verloren. In der ersten Szene, die in der Hacienda spielt, reagiert Coffin plötzlich vollkommen aufgeregt und überzogen auf das Geräusch einer Türklingel – ein merkwürdiges Verhalten, das nicht weiter erklärt wird. Später befindet er sich in der Kapelle (wo der Waffenbunker ist). Seine Verlobte Lily ist dazu gekommen. Sie unterhalten sich, bis sich Coffin plötzlich aus heiterem Himmel aus dem Gespräch ausklinkt. Er hat ein Geräusch gehört und fängt an, wie im Fieberwahn sich umherzusehen. Lily beruhigt ihn: das seien nur Äste im Wind gewesen. „You know for a moment it sounded just like... – naked feet... shuffling across the deck.“ Der ehemalige Kapitän eines Sklavenschiffs, der an posttraumatischen Beschwerden leidet und zwischendurch, offenbar von paranoiden Halluzinationen ergriffen, unverständliches Zeugs brabbelt und sich völlig erratisch benimmt... Nur falls jemand den Faden gerade verloren hat: wir reden hier immer noch von einem Hollywood-Western aus den späten 1940er Jahren, also einem Film, der wahrscheinlich nicht nur in New York und Los Angeles, sondern vielleicht auch in den amerikanischen Südstaaten gezeigt wurde. Wer weiß, vielleicht auch in den Kinos von Florence, Alabama, die von Jonathan Rosenbaums Großvater betrieben wurden. Wie wohl nichtsahnende Kinobesucher in den rassengetrennten Südstaaten CALIFORNIA sahen und wahrnahmen?
Wir waren stehen geblieben bei Trumbo, der sich auf die Hacienda eingeschlichen hat, um Coffin zu töten. Das überlegt er sich dann anders – ein heimliches Gespräch mit Lily trägt auch dazu bei – und reitet dann zu dem Regiment zurück, aus dem er einst desertierte. Dort wollen sie ihn eigentlich an die Wand stellen, oder zumindest einsperren, aber Trumbo möchte seine Freiheit gegen die Informationen über Coffin eintauschen. Ihm wird vorgeschlagen, Coffin politisch zu brechen, um dann zu schauen, ob er sich erhebt – dann würde die Kavallerie eingreifen. Zum politischen Kongress, der über die Zukunft Kaliforniens entscheiden wird, sollen Delegierte gewählt werden – natürlich hat sich Coffin als Kandidat aufgestellt und hält sich bereits für gewählt. Trumbo soll einen Gegenkandidaten organisieren – nach dem Kongress soll er sich bei der Kavallerie wieder melden und darf dann mit Strafminderung rechnen. Gesagt, getan.


Sozialist vs. Kaiser – ein dreckiger Wahlkampf auf dem staubigen Boden des gelobten Landes

Der geeignete Kandidat ist in den Augen Trumbos natürlich der weise, überlegte, ruhige und volksnahe Winzer Michael Fabian. Außer er selbst finden das ganz viele Leute eine tolle Idee – wer soll sich schließlich um seine Reben kümmern? – aber schließlich lässt sich der alte Mann doch überreden.
Hier folgt eine große Ellipse: die Vorbereitung und Durchführung der Wahl wird in einer raschen Montage abgehandelt (es gibt Wahlplakate, und wenn Fabian-Anhänger ihres aufhängen wollen, werden sie von Coffins Leuten verprügelt). Dann folgt eine Bildtafel „Colton Hall, Monterey“ und schon sind wird da. Hier nimmt CALIFORNIA wieder FORTY GUNS wieder vorweg: ein Western, dessen Erzählfluss zwischendurch immer wieder an unerwarteten Stellen durch Ellipsen unterbrochen, vor allem aber dynamisiert wird. In den USA sorgte FORTY GUNS mit diesem „brutal handling of the narrative“ (O-Ton IMDb) für Verwirrung und Unverständnis. In Frankreich wurde dies von den Redakteuren der cahiers du cinéma hingegen mit Bewunderung gesehen und später nachgeahmt. Nun: CALIFORNIA hat so etwas schon zehn Jahre zuvor in einem Western gemacht, wenngleich noch mit einer kleinen Übergangsmontage. 1950 kam CALIFORNIA in Japan in die Kinos, wo Ozu bereits komplette Handlungsstränge auf noch radikalere Weise ausließ, weil er sich mehr dafür interessierte, wie Menschen auf Ereignisse reagieren, nicht für das Äußere der Ereignisse selbst. Heute, in Zeiten des Siegeszugs sogenannter „Qualitätsserien“ (einer der Redakteure der cahiers wird sich wohl im Grab umdrehen), gilt so etwas wohl wieder als Schwäche. Oder (vielleicht nicht nur für mich) als Beweis dafür, dass der Ultra-Minimalist Ozu bis heute ungebrochen ein radikaler Avantgardist bleibt – und dass „abseitige“ und „kleine“ Hollywood-Filme aus den 1940er und 1950er Jahren immer wieder für verblüffende Überraschungen gut sind. Aber ich schweife wieder ab...


Fabian als pro-kalifornischer und pro-Unions-Delegierter: im schicken
Anzug erscheint eine gewisse (wohl nicht unintendierte?) Ähnlichkeit
zu Lincoln durch.
... und trotz Gewalt beim Wahlkampf hat tatsächlich Michael Fabian den eigentlich sicheren Delegiertenposten Pharaoh Coffins gewonnen. Ein gefährlicher Sieg: Fabian wird zunächst von Lily gewarnt, nicht auf dem Kongress zu sprechen, weil sein Leben in Gefahr sei. In der Bar der Kongress-Halle wird hingegen Trumbo von Don Luis angesprochen. Der ist schon etwas betrunken, weil er die politischen Intrigen seiner Großbesitzer-Kollegen nicht mit seinem Gewissen vereinbaren kann und teilt Trumbo mit, dass sich Fabian vorsehen sollte. Als Trumbo dann weggeht, wird Don Luis von Pennock, der ja mittlerweile zu Coffins Vertrauten gehört, angesprochen – später wird der spanisch-stämmige Adelige (von Anthony Quinn übrigens selbst betrunken wunderbar als außerordentlich würdiger Mann dargestellt – eine hispanische adelige Figur dürfte eine weitere exzentrische Note für diese Zeit sein) ermordet in seinem Zimmer aufgefunden. Vorher warnt nun auch Trumbo den frisch gewählten Delegierten Fabian, der sich trotz Drohungen nicht davon abhalten lassen möchte, für den Beitritt Kaliforniens zur Union zu plädieren – er sei schließlich seinen Wählern gegenüber verantwortlich.
Auf dem Kongress schließlich: ein anderer Delegierter, der Coffin nahe steht, warnt vor einem überstürztem Eintritt Kaliforniens in die Union. Kalifornien solle sich lieber erst einmal als freies Kaiserreich... ähm... als freie Republik entfalten. Danach hält Fabian seine Rede und entlarvt die Absichten seines Vorgänger mit dem Hinweis auf seinen kleinen sprachlichen Lapsus. Dann plädiert er dafür, dass Kalifornien Teil der Union und damit des großartigsten Landes der Welt werde. Unter Applaus will Fabian hinaustreten, doch am Eingang wartet Pennock mit gezogener Pistole auf ihn. Der Anschlag auf Fabian misslingt: Trumbo erschießt Pennock, allerdings erst, nachdem dieser einen von Fabians Helfern getötet hat, der sich als Schutzschild vor dem Delegierten geworfen hat.
Mit einem misslungenen Anschlag hat sich Coffin bei seinen Kollegen unbeliebt gemacht, die ihn nun gerne sich selbst überlassen. Ihm ist es einerlei, und er lässt dann Fabian trotzdem noch ermorden, nachdem dieser zu seinen Reben zurückgekehrt ist. Das ganze passiert vor den Augen Lilys, die dann schnurstracks zu Coffin zurückkehrt. Bevor sie ihn allerdings erschießen kann, wird sie vom wachsamen Pike K. O. geschlagen (was ihm wiederum Coffins Zorn einbringt).


Paranoia und Tod in der Hacienda

Auch Trumbo kennt nun kein Halten mehr. Zusammen mit anderen Siedlern macht er sich auf dem Weg zu Coffins Hacienda und stürmt sie. Um zu Coffin zu gelangen, muss Trumbo zunächst an Pike vorbei. Bei der Auseinandersetzung ergibt sich, dass sie beide nicht mit Pistolen duellieren können, sondern mit Messern aufeinander losgehen müssen. Ein Messer-Duell also – wie vieles in dem Film wird zumindest der zweite Teil der Auseinandersetzung in einer einzigen schnittlosen Sequenz gefilmt. Das fügt sich nicht nur in den Stil des Films ein, sondern gibt ihr auch eine große Authentizität: keine schnellen Schnitte, die Stunt-Doubles kaschieren, sondern Ray Milland und Albert Dekker, die die Szene zusammen in echt choreographieren (natürlich sicherlich mit Messer-Attrappen).


Ein Endkampf mit Messern
Mit seinen paranoiden Halluzinationen "verpasst" Coffin hingegen fast
den Showdown
Nachdem Trumbo Pike besiegt hat, geht er ohne Schusswaffe zur Konfrontation mit Coffin. Der hat allerdings gerade offensichtlich anderes zu tun. Er, der sich immer gefürchtet hat, dass die Sklaven auf seinem Schiff ihre Ketten brechen, um ihn zu ermorden, ist im Angesicht des Angriffs auf die Hacienda völlig umnachtet. Er sieht sich von freigelassenen Sklaven umzingelt und verdächtigt Pike, der seine geliebte Lily K. O. geschlagen hat, die Schwarzen befreit zu haben. Delierierend und vollkommen paranoid wandelt er brabbelnd durch sein Arbeitszimmer. Trumbo schleicht sich heran, wird aber von Coffin entdeckt – allerdings in dessen Wahn mit Pike verwechselt. Es kracht ein Schuss und Pharaoh sinkt nieder: Lily, von ihrer Ohnmacht erwacht, hat ihn aus dem Hintergrund erschossen.
Am Ende stehen nun Lily und Trumbo vor dem Grab Fabians, im Hintergrund dessen Reben. Nach dieser ereignisvollen Geschichte können sie sich ihre gegenseitige Liebe eingestehen, doch daraus wird unmittelbar erst einmal nichts. Trumbo wird nämlich zur Kavallerie zurückgehen und die (geminderte) Strafe für seine Desertion antreten: ein, vielleicht zwei Jahre. Sie wird jedenfalls Michael Fabians Reben pflegen und auf ihn warten. Trumbo reitet weg...


Eine aufgeschobene Liebe – oder: dramatisches Ende zwischen Rebstöcken
Das Ende von CALIFORNIA erinnerte mich spontan ein wenig an Paul Schraders LIGHT SLEEPER, ein Film, an dessen Ende ebenfalls ein Liebespaar zusammenfindet, das aber erst einmal warten muss, bis er seine Gefängnisstrafe abgesessen hat. Doch vor allem lädt das Ende dazu ein, es ein bisschen weiter zu spinnen.
Klassisch ginge das so: Lily wird erfolgreiche Winzerin und hat schon ein schönes Weinunternehmen aufgebaut, als Trumbo nach sechs Monaten (wegen guter Führung vorzeitig entlassen) zurückkehrt – und dann leben sie glücklich bis ans Ende ihrer Tage. Doch CALIFORNIA ist kein „klassischer“ Western, wie ich vielleicht ein wenig deutlich machen könnte. Vielleicht geht das ganze auch so weiter:


Nach dem Ende, no. 1: Lily benennt sich nach der Kaiserstadt
Da Lily keine professionelle Winzerin ist, gehen die Reben gnadenlos ein. Weil Trumbo auch nicht zurückkommt, kehrt sie zu ihrem alten Beruf unter einem neuen Namen (wie wäre es mit „Vienna“) zurück und spart sich da wieder so ein großes Vermögen an. In einem Wüstenkaff eröffnet sie dann ihr Saloon, hat eine Affäre mit einem lokalen Kleinkriminellen und fängt sich dann als Außenseiterin Probleme mit den „besorgten Bürgern“ ihrer Stadt ein. Ihrer Neigung, Hose und Hemd zu tragen, geht sie immer noch nach, hat allerdings mittlerweile Geschmack an flamboyanteren Farben gefunden.
Trumbo hingegen geht nach seiner Entlassung auf dem Weg zu Lily verloren, weil ihn vielleicht die restlichen Schergen von Coffin verfolgen. Er entkommt ihnen, und wandert fortan unter neuem Namen (vielleicht „Johnny Logan“) durch die Gegend, mutiert zum Gitarren-spielenden Pazifisten (und wird so „Johnny Guitar“) bis er dann in einem Wüstenkaff, das von „besorgten Bürgern“ terrorisiert wird, seine alte Flamme wieder findet.
Oder kurz: man kann sich CALIFORNIA sehr gut als Prequel zu JOHNNY GUITAR vorstellen. Da stimmen zwar die Darsteller nicht wirklich überein, aber expressive Farbgebung und fieberhafte Atmosphäre von CALIFORNIA geht schon in Richtung von Nicholas Rays meisterhaftem Western.

Wie Vienna und Jessica mag es auch Lily, in großen, barocken Räumen Klavier zu spielen.

Nach dem Ende, no. 2: Lily findet Geschmack an Peitschen
Da Lily keine professionelle Winzerin ist, gehen die Reben gnadenlos ein. Deshalb sattelt sie auf ein klassischeres Geschäft um: Land und Vieh. Durch Talent, Härte und Glück avanciert sie zu einer mächtigen Großgrundbesitzerin, heuert sich eine kleine vierzig-köpfige Privatarmee an und bestimmt mit ihr die Politik der Region. Jahre später kommen dann drei Brüder in die Stadt und fordern ihre Macht heraus. Trumbo hingegen ward nie wieder gesehen...
Oder kurz: man kann sich CALIFORNIA sehr gut als Prequel zu FORTY GUNS vorstellen. Zumindest eine wichtige Personalie bleibt erhalten, nämlich die unvergleichliche und göttliche Barbara Stanwyck. Sie hat die außergewöhnliche Lily Bishop als 40-Jährige bereits wunderbar gespielt – zehn Jahre später spielte sie mit 50 Jahren die wohl bizarrste Viehbaronin der Westerngeschichte und ihre vielleicht schönste Rolle.


And the auteurship goes to...

À propos Personalie: wem verdanken wir eigentlich CALIFORNIA? Als gemäßigter Anhänger der Autorenpolitik würde es für mich auf der Hand liegen, John Farrow die Blumen zu überreichen. Doch irgendwie will es mir nicht in den Kopf, dass der Regisseur des schrecklich konventionellen und eher langweiligen noir-angehauchten Thriller THE BIG CLOCK (1948) nur ein Jahr zuvor einen so ungewöhnlichen Film wie CALIFORNIA gedreht hatte. Auf eine eigene Weise war aber Farrow tatsächlich ungewöhnlicher Mensch. Der gebürtige Australier kam in den 1920er Jahren nach Hollywood und arbeitete dort zunächst als Drehbuchschreiber. Bereits vorher hatte er Gedichte sowie Kurzgeschichten veröffentlicht und sich als eigenständiger Autor einen Namen gemacht. 1936 heiratete er die Schauspielerin Maureen O‘Sullivan. Das Paar war bis zu Farrows Tod 1963 verheiratet und bekam sieben Kinder. Die vier Töchter wurden alle Schauspielerinnen und die 1945 geborene Mia übertraf später ihren Vater an Berühmtheit.
Bis er sich allerdings eigenständig in Hollywood etablierte, dauerte es einige Zeit, denn 1933 wurde er, als gebürtiger Australier, verhaftet, weil er bei seiner Immigration in die USA falsche Angaben gemacht hatte. Seine drohende Abschiebung wurde auf Bewährung ausgesetzt. Seinen ersten „abendfüllenden“ Film, MEN IN EXILE, drehte er 1937. Nach einigen Filmen für RKO meldete er sich freiwillig zum Kriegsdienst und zwar in Kanada, wo er der Marine zugeteilt wurde. Später verfasste er ein Sachbuch über die Geschichte der kanadischen Marine. Aus seinen Erfahrungen heraus galt er wohl als der ideale Mann für Kriegsfilme, und so inszenierte er in den 1940er (während seines Fronturlaubs?) mehrere Kriegs- und Armeefilme: WAKE ISLAND (für den er 1942 als bester Regisseur für den Oscar nominiert wurde), COMMANDOS STRIKE AT DAWN, CHINA und YOU CAME ALONG. 1944 drehte er mit Bobby Watson, dem Filmschauspieler, der am öftesten Hitler darstellte, THE HITLER GANG. Nach dem Krieg inszenierte Farrow nicht nur den wunderbaren CALIFORNIA, sondern auch andere Westerns: COPPER CANYON (wieder mit Ray Milland), RIDE VAQUERO! (wieder mit Anthony Quinn), den 3-D-Western HONDO mit John Wayne. Wie es um die Exzentrizität und Außergewöhnlichkeit dieser Filme bestellt ist, kann ich nicht beurteilen. Farrow drehte auch mehrere Thriller / films noirs: THE BIG CLOCK, den ich gesehen habe, ließ mich wie bereits erwähnt kalt. Farrow war außerdem der erste Regisseur von AROUND THE DAY IN EIGHTY DAYS, wurde aber kurz nach Drehbeginn vom Produzenten gefeuert und durch Michael Anderson ersetzt – bekam aber trotzdem als einer von drei Autoren den Oscar für das beste adaptierte Drehbuch.
Eine späte Ehrung für einen Mann, der viele Interessen hatte, die mit Kino nur bedingt etwas zu tun hatten. Er verfasste nicht nur vor seiner Hollywood-Karriere, sondern auch zwischen seinen Filmen mehrere Bücher (oder drehte er Filme zwischen seinen Büchern?). So war an der Edition eines englisch-französisch-tahitianischen Lexikons beteiligt, schrieb eine Biographie des Pater Damien (ein katholischer Priester, der sich um Lepra-Kranke auf Hawaii kümmerte), eine Geschichte des Papsttums, eine Geschichte der kanadischen Marine in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und eine Biographie des Renaissance-Philosophen Thomas More, dem Autor des Buches „Utopia“. Auf eine gewisse Weise war Farrow also durchaus ein Exzentriker – vielleicht doch der ideale Mann für einen Film wie CALIFORNIA? Sind die sakralen Bezüge (z. B. im Prolog) und die Nebenfiguren der Seefahrt also kleine persönliche Farrow-Akzente?

Nicht weniger erwähnenswert ist der director of photography Ray Rennahan: ein Mann, der aus dem Stummfilm kam und bereits in den 1920er Jahren mit Farbe experimentierte. So war er für Erich von Stroheims THE MERRY WIDOW und THE WEDDING MARCH sowie für Cecil B. DeMilles THE TEN COMMANDMENTS (also die Version von 1923!) für die Farbszenen zuständig. Besonders als Spezialist für Farbfotografie wurde er in den 1930er bis 1950er Jahren für namhafte Filme als director of photography, oder aber zumindest als technischer Berater für Farbfotografie und Spezialist für Technicolor engagiert: er war beteiligt an so unterschiedlichen Filmen wie GONE WITH THE WIND, DRUMS ALONG THE MOHAWK, FOR WHOM THE BELL TOLLS und DUEL IN THE SUN – letzterer aufgrund seines sexuellen Inhalts, seiner flamboyanten Farbdramaturgie und seines opernhaften Pathos möglicherweise ebenso ein Kandidat für eine Liste exzentrischer Westerns. DUEL IN THE SUN findet sich zwar nicht auf Rosenbaums Liste, aber ein anderer Film, den Rennahan (allerdings in Schwarzweiß) fotografierte, nämlich TERROR IN A TEXAS TOWN von Joseph H. Lewis, geschrieben von Dalton Trumbo – ein antikapitalistischer Western, in dem die Hauptfigur ein schwedischer Walfischer ist (gespielt von Sterling Hayden), der nicht mit einer Pistole, sondern mit einer Walharpune bewaffnet ist und damit auch Duelle bestreitet (kein schlechter Film, aber das liest sich besser, als es sich letztendlich sehen lässt).
Um es also kurz zu sagen: dass CALIFORNIA von einem der profiliertesten Kameramänner Hollywoods und größten Spezialisten für Farbfotografie in der Filmindustrie gefilmt wurde, sieht man ihm recht deutlich an.

CALIFORNIA ist oft weniger fotografiert als vielmehr gemalt
CALIFORNIA ist kürzlich in Deutschland auf DVD und Blu-ray in der Western-Legenden-Edition von Koch Media erschienen. Über die Qualität der Edition möchte ich mir kein definitives Urteil erlauben, denn ich habe ihn auf einem Presse-Screener gesehen (den ich zur Besprechung des Films in einem Printmagazin erhalten habe) – zwar ohne Wasserzeichen und in inhaltsgenauer Kopie des Endprodukts, aber vielleicht in einer etwas schlechteren Qualität auf diesem. Ob deshalb manchmal Farbe aus den Rändern der Figuren geradezu auszulaufen scheint oder dies so von den Machern bzw. Ray Rennahan vorgesehen war, kann ich deshalb nicht beurteilen. Der Film ist auch in einer spanischen und einer US-amerikanischen DVD-Edition erhältlich (letzteres allerdings nur mit drei anderen Westerns in einem „Viererpack“, der nicht besonders hochwertig aussieht).

Montag, 11. Juli 2016

Belagerung, Invasion, Isolation – John Carpenter wieder- und neuentdeckt

John Carpenter mit cooler Lederjacke am Telefon – ein Cameo in VILLAGE OF THE DAMNED

Ein „Gesamtkunstwerk des Unbehagens“: so wurde John Carpenters Œuvre im Programmheft einer Retrospektive genannt, die im Wiener Gartenbaukino vom 20. Mai bis 2. Juni dieses Jahres lief (dies mit besonderem Hinblick darauf, dass Carpenter die markante Musik zu seinen Filmen oft selbst komponierte). Als Erschaffer von Ur-Erzählungen bezeichnete implizit der von mir sehr geschätzte Oliver Nöding John Carpenter im Rahmen seiner eigenen Werkschau (hier in der Besprechung von ELVIS). John Carpenters Filme seien der (Alb-)Traum einer isolierten, einsamen Insel – so in einem ausführlichen Essay (englische Übersetzung & französisches Original), in dem Emmanuel Siety die Filmemacher  und Howard-Hawks-Fans Jacques Rivette und John Carpenter vergleicht. Ein Poet des radikal verkürzten Tages und der nie enden wollenden Nacht, dessen Filme geradezu obsessiv um die wiederkehrenden Themen Belagerung, Invasion und Isolation kreisen – so könnte man Carpenter auch bezeichnen und das tue ich hiermit mal.
Auch beim Showdown: immer Zeit und Platz für
eine Hawks-Hommage (THE FOG)
Auf der anderen Seite dieses wiederkehrende Narrativ: der Meisterregisseur, der in den 1970er Jahren großartige Filme inszenierte, irgendwann aber anfing, nur noch totalen Mist zu drehen und bei dem die Welt froh sein sollte, dass er offenbar nun keine Filme mehr drehen wird (sondern nur noch musiziert). Der Startpunkt von „des Meisters John unumkehrbare Dekadenz“ variiert je nach Erzählung: manchmal „alles nach THE THING“ (also 1982) und manchmal „alles nach IN THE MOUTH OF MADNESS“ (also 1994). Dieses Meisternarrativ (als Narrativ des „gefallenen Meisters“ und als „Ur-Erzählung“) finde ich schrecklich langweilig, erkenntnisarm – und versuchte es bereits in meiner ausführlichen Besprechung des sträflich unterschätzten und viel geschmähten MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN zu entkräften. Im Zuge einer umfassenden Retrospektive, für die ich die ersten fünf Monate dieses Jahres in Anspruch nahm, habe ich gemerkt, dass ich in beiden Punkten recht habe: ja, MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN ist John Carpenters bester Film, und ja, das Narrativ des gefallenen Meisters ist absoluter Blödsinn!

Aber das ist nicht der Grund, weshalb ich Anfang Januar eine persönliche Carpenter-Retrospektive startete. Ich brauchte vier Filme, bis ich zu dieser Entscheidung kam, akribisch die Filmographie Carpenters abzuarbeiten (wenngleich nicht wirklich „systematisch“ oder gar chronologisch, sondern eher nach rein technischen Möglichkeiten der Verfügbarkeit). THEY LIVE, den ich in der Uralt-DVD-Fassung mit komischem Bildformat (2.17:1) zu Weihnachten bekommen habe, begeisterte mich Anfang Januar bei der Wiedersichtung. Wenig später, bei einer Schnäppchen-Aktion in der Drogerie meines Vertrauens, kamen die beiden Plissken-Filme hinzu: eine fantastische Wiedersichtung bei ESCAPE FROM NEW YORK, ein etwas befremdliches, aber nicht unbefriedigendes Kennenlernen von ESCAPE FROM L.A. Der berühmteste Recycler des abseitigen Films innerhalb des Mainstreamkinos, Quentin Tarantino, brachte mich zum nächsten Carpenter-Film, als er mich Ende Januar mit seinem neuesten Film THE HATEFUL EIGHT milde enttäuschte – zugleich aber das wirklich dringende Bedürfnis hervorrief, jenen Film zu sehen, auf den sein ausgedehnter Dreistünder zum Teil basierte: THE THING. Eine grandiose Zweitsichtung, die mir den Film nach einer etwas distanzierten Erstsichtung „öffnete“. 

Bennett lehnt ein Gläschen Wein ab und möchte lieber bald bezahlt
werden – Carpenters Cameo in THE FOG
Ich sprach eben von „dringendem Bedürfnis“. Nun, nach THE THING war dieses nicht geringer geworden. Denn zwei Wochen später wachte ich an einem Samstag Morgen auf und spürte ein furchterregendes Alien-Ding in meinem Bauch – nun, das jetzt nicht, aber doch den fast schon irrationalen Zwang, jetzt mal endlich was Neues von Carpenter zu sehen. Wieder in der Drogerie meines Vertrauens – François Truffaut bezeichnete Filmliebhaber als kranke Menschen, wie passend, dass ich also für meine Sucht zur „Drogerie“ gehen musste – stillte ich also mein Bedürfnis, setzte quasi meinen Entzugserscheinungen ein Ende, als ich PRINCE OF DARKNESS zu einem leicht erhöhten Preis erwarb und für den Abend nun Stoff hatte. Von nun an, von Anfang Februar bis Ende Mai, schaute ich regelmäßig jedes Wochenende, meist am Samstag Abend, mindestens einen Carpenter-Film. Die Beschaffung des „Stoffes“ organisierte ich dann auch etwas systematischer, auch wenn ich an manch einem Freitag bangte, dass das Paket nicht rechtzeitig kommen würde. Ich habe im Laufe vieler Wochen geradezu physisch erkannt, welch zwanghaftes, suchthaftes Potential Filmliebhaberei haben kann. Es ist wie Kratzen: das Jucken wird nur noch stärker, aber welch grandioses und erleichterndes Gefühl...

Die umfassende Rundreise durch John Carpenters Œuvre hat sich gelohnt. Am Ende stehen sehr viele Wiedersichtungen voller Genuss, viele Neusichtungen voller Überraschungen – und auch einige Enttäuschungen. Aber nun: Lieblingsregisseure zeichnen sich dadurch aus, dass man auch ihre Schwächen liebt oder zumindest verzeiht. Gewissermaßen hat die Retrospektive bestätigt, was ich implizit schon vor dem Jahr 2016 wußte: dass John Carpenter wohl zu meinen Top-10-Lieblingsregisseuren gehört.

Nun zur eigentlichen Rundreise, chronologisch nach den einzelnen Etappen...


THEY LIVE (1988)
2. Januar – 3. oder 4. Sichtung
Ein Arbeiter und sein Buddy enttarnen eine Invasion neoliberaler Aliens.
Ich habe THEY LIVE bislang immer im Fernsehen gesehen: meist hatte ich den Anfang verpasst und Tugendwächter hatten zusätzlich Hand angelegt (der Hawks‘ianische Kampf zwischen „rivals-to-be-friends“ dauerte dann statt 5 1/2 nur knapp 2 Minuten). So richtig vollständig habe ich ihn nun zwar aufgrund des leicht beschnittenen Bilds nicht gesehen, aber bereits in den ersten Sekunden zeigte sich die schiere Brillanz dieses Films: ein Holzfäller-Typ wandert mit einem großen Rucksack durch die Stadt, lernt dabei verschiedene Winkel kennen (abgeranzte Bahnhöfe, die hektischen Boulevards der Innenstadt, die Slum-Ränder) und wird dabei von Carpenters bluesigen Country-Score begleitet. Mit diesen simplen Mitteln bekommt der Film schon in den ersten Minuten einen eigenen, lebendigen Puls, einen eigenen Rhythmus.
In seinen Themen (es geht wieder einmal um eine Alien-Invasion und um einen Protagonisten, der über weite Strecken des Films komplett isoliert ist) erscheint THEY LIVE als archetypischer Carpenter-Film. Er sticht aber zugleich als sein wohl einzig wirklich politischer Film heraus (vielleicht von gewissen Aspekten der Geschlechterpolitik in THE WARD abgesehen und einigen Details in ESCAPE FROM L.A.). Die persönliche Rache an den „Schrecken der Reagan-Jahre“ bleibt dabei unangenehm ambivalent: Nada und Frank, die Kämpfer gegen die neoliberale Reagan‘schen Invasion, könnten von ihrer Veranlagung her genauso sehr für die andere Seite eingespannt werden. Man kann sie sich heutzutage gut als potentielle Tea-Party- oder Trump-Anhänger vorstellen. Diese Mischung aus dezidiert „linker Reagan-Satire“ und einer Ästhetik des „reaktionär-halbfaschistischen 80er-Jahre Actionkinos“ scheint mir besonders faszinierend (die Anführungszeichen sollen darauf hinweisen, dass ich mir der extremen Vereinfachung des Sachverhalts bewusst bin). Ob er damit singulär ist? Wahrscheinlich nicht (LETHAL WEAPON 2 ist da ein bisschen ähnlich). Trotzdem einer von Carpenters besten und am sträflichsten unterschätzten Filmen.


ESCAPE FROM NEW YORK (1981)
23. Januar – 3. oder 4. Sichtung
Snake Plissken soll aus dem Riesengefängnis Manhattan den Präsidenten retten.
Es ist faszinierend, wie „unspektakulär“ ESCAPE FROM NEW YORK eigentlich ist (worin er nicht nur ASSAULT ON PRECINCT 13 ähnelt – sondern im Bereich der postapokalyptischen Actionfilme auch den ersten beiden MAD MAX-Filmen). Und dabei dennoch so perfekt, so aus einem Guss. Ein Mann, eine Mission, ein Ort, 24 Stunden. Konzentriert, aber nicht gehetzt.
Ich bin etwas enttäuscht, dass ich zu Carpenters vielleicht zweitbestem Film gerade nicht viel mehr zu sagen habe. Kommt das daher, dass er nicht inszeniert wirkt, sondern so, als wäre einfach immer da gewesen?
Die Zivilisation ist untergegangen, Pomp und Kitsch leben weiter:
des Dukes schickes Gefährt
P.S.: recht einzigartig ist der durch und durch individuelle und charismatische Bösewicht, kongenial von Isaac Hayes mit nervösem Gesichtszucken dargestellt. Im Grunde fast ein Unikum in Carpenters Schaffen. Der „Bösewicht“ ist ja oft entweder komplett unsichtbar (THE WARD, SOMEONE'S WATCHING ME!), eine größere Bande (ASSAULT ON PRECINCT 13, VILLAGE OF THE DAMNED), gar eine organisierte Gruppe (THEY LIVE), oder aber ein übertragbares Konzept des Bösen (THE THING) oder gar nur ein Nebel (THE FOG) oder Schleim-Dings (PRINCE OF DARKNESS). Michael Myers in HALLOWEEN würde ich nicht als wirkliche (geschweige denn charismatische) Figur ansehen, sondern eher als latent materialisiertes Konzept. Und Kandidaten aus ESCAPE FROM L.A., VAMPIRES und GHOSTS OF MARS kommen mangels Charisma nicht in Frage. Ernsthafte Konkurrenten findet The Duke (Isaac Hayes) wohl nur in David Jenkins (Sam Neill) aus MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN, aber der hatte nicht einen so furchterregenden Assistenten namens Romero (ein wahrhaft Schrecken einflößender Frank Doubleday) – und auch kein so cooles Auto mit aufmontierten Kronleuchtern und einer Disco-Kugel am Rückspiegel!


ESCAPE FROM L.A. (1996)
24. Januar – Erstsichtung
Snake Plissken soll aus dem Riesengefängnis Los Angeles ein komisches Satellitensteuerungsgerät retten.
Sequel, Remake, auteuristische Variation, Parodie, postmoderne Pastiche?
Es gibt keinen Zweifel daran, dass ESCAPE FROM L.A. über weite Strecken fürchterlich albern ist. Die einzige wirkliche Härte, die erinnerungswürdig ist, kommt relativ früh, als Snake sieht, dass die Leiche seines Verbindungsmanns in einem Casino als Zielscheibe für Messerwurfübungen genutzt wird. Und die unterirdische Schönheitsklinik des Dr. Bruce Campbell ist zugegeben sehr grotesk. Der Rest wirkt ein wenig wie eine Disneyland-Variation von ESCAPE FROM NEW YORK – nicht aus Plastik, sondern größtenteils aus miserablen Computereffekten. Es geht von einem Camp-Höhepunkt zum nächsten, und Snakes Surf-Ritt auf der Welle mit Peter Fonda ist wahrscheinlich die Camp-Krönung von Carpenters gesamten Werk (man könnte ihn aber auch als kleine Selbst-Hommage an den Surf-Ritt am Schluss von DARK STAR sehen).
Nach der Absolvierung verschiedener Stationen wirkt gar der finale Kampf antiklimaktisch. Doch das alles wird irgendwie doch wettgemacht. Denn erstens macht es doch Spaß, Kurt Russell dabei zuzusehen, wie er als Snake Plissken Sachen macht (und seien sie noch so furchtbar albern). Und zweitens hat ESCAPE FROM L.A. das vielleicht stärkste Filmende in Carpenters Karriere. Plisskens Rache ist grausam, aber auch folgerichtig, wenn er mit einem Knopfdruck die Welt ins Mittelalter zurückbeamt. Und plötzlich ergeben die ganzen scheusslichen Computereffekte einen Sinn: Snake Plissken, ein kernig-körperlicher analoger und anarchischer Mann, hat über eine entkörperlicht-digitale, christlich-fundamentalistische Dystopie gesiegt.
ESCAPE FROM L.A. ist nicht der große Wurf, oft holprig inszeniert – aber irgendwie trotzdem liebenswert.


THE THING (1982)
30. Januar – Zweitsichtung
Ein wandlungsfähiges und höchst aggressives Alien-Ding greift eine Polarstation an.
Hochkonzentrierte Paranoia auf engstem Raum – die berühmte Bluttestszene
(und der Beweis, dass sowohl Brian De Palma wie auch Quentin Tarantino
in Sachen Split Diopter von John Carpenter einiges hätten lernen können)
Besonders der fast unmittelbare Vergleich mit Quentin Tarantinos Semi-Remake/Semi-Variation THE HATEFUL EIGHT offenbarte die Stärken von THE THING. Wo Tarantino aus seinem verschneiten Setting ein hoffnungslos ver- und zerlabertes Kammerspielchen macht, bei dem man sich tatsächlich zwischendurch in einer Agatha-Christie-TV-Verfilmung wähnt, lädt Carpenter zu einer wahrhaftigen Apokalypse aus Paranoia und geschundenen Körpern ein.
Ich habe es erst bei PRINCE OF DARKNESS wirklich gemerkt: Carpenters Expositionen wirken oft sehr lang, wann aber die „wirkliche“ Handlung anfängt, bleibt dennoch oft unklar (dazu gleich mehr). Bei THE THING ist das offenkundig. Gerade die Zweitsichtung offenbart, dass von Anfang an etwas nicht in Ordnung ist: natürlich, der Hund, der von den Norwegern verfolgt wird, aber eben auch ein großer Fatalismus seitens der Mannschaft auf der Station.
Überhaupt: Carpenters fatalistischster und pessimistischster Film. Kein Entkommen. Nie wieder ein Ausgang aus der Nacht.


PRINCE OF DARKNESS (1987)
13. Februar – Erstsichtung
Ein Kessel mit grünem Satanszeug wird im Keller einer Kirche gefunden und einige Wissenschaftler versuchen, damit irgendwie fertig zu werden.
PRINCE OF DARKNESS enthält möglicherweise die merkwürdigste Exposition in Carpenters Filmographie (und damit meine nicht nur, weil die opening credits mit 9 Minuten so lang sind). Seine Expositionen sind oft sehr lang – auch, weil die Situation, in die die Protagonisten hineingeraten, von Unsicherheit geprägt sind, und der „Startpunkt“ der „eigentlichen“ Handlung fast immer etwas unklar bleibt. Die Expositionen bei Carpenter sind oft verlängerte Momente der totalen Unsicherheit – wenn diese Momente überhaupt aufhören. Auf eine gewisse Weise fangen also viele seiner Filme „mittendrin“ im Geschehen an. Nun: Carpenter erscheint mir oft eher als „Realist“ denn als „Expressionist“ oder „Impressionist“. Doch die ersten 15-25 Minuten seines ersten Nicht-Studiofilms seit ESCAPE FROM NEW YORK wirken tatsächlich impressionistisch – unfokussiert, unkonzentriert könnte man das nennen, wie hier verschiedene Figuren eingeführt werden: Wissenschaftler, Priester, und diese beiden Studenten, die sich ineinander verlieben, während der andere lieber sein Wochenende beim Feiern als bei semi-obligatorischen Praxisstunden in einer Kirche verbringen möchte. Doch durch die merkwürdige Montage wirkt das alles so flüssig in der Ordnung und so flüchtig in den Emotionen...
So ist der Anfang von PRINCE OF DARKNESS in seiner Machart schon ein wenig jenseitig, verträumt. Der Rest des Films, der Carpenters übliche Themen verarbeitet (eine Invasion durch das grüne Schleimding, eine Belagerung durch die zombieartigen Obdachlosen, Isolation durch zunehmende Dezimierung und Paranoia), ist von der merkwürdigen Exposition nur mäßig geprägt und bietet solides Carpenter-Handwerk. Beide Teile passen irgendwie nicht wirklich zusammen, stehen sich aber nicht im Weg.
Weitere Sichtungen werden vielleicht dennoch offenbaren, dass hier möglicherweise sogar große Carpenter-Kunst lauert.


THE FOG (1980)
20. Februar – Zweitsichtung
Ein tödlicher Nebel mit schauerhaften Geistern belagert eine Küstenstadt und eine Radiomoderatorin muss den Tag retten.
Die wundervolle Adrienne Barbeau als Stevie Wayne
„Solides Carpenter-Handwerk“ war wohl ungefähr mein Urteil bei der Erstsichtung Anfang 2014. Nach der Zweitsichtung revidiere ich: THE FOG ist „große Carpenter-Kunst“. Auf jeden Fall ist er vielleicht der Carpenter-Film mit den schönsten Figuren. Nick und Elizabeth (Tom Atkins und Jamie Lee Curtis), die sich in der einsamen Nacht auf der Straße ein Bier teilen – und später das Bett und ansonsten völlig verloren durch diese Belagerungsgeschichte wandeln. Die windige, aalglatte Bürgermeisterin (Janet Leigh) mit ihrer dauerangepissten Assistentin (Nancy Loomis) – „You‘re the only person I know who can make ‚yes, Ma‘am‘ sound like ‚screw you‘!“. Hal Halbrook als weinseliger Priester. Am wunderschönsten ist sicherlich Stevie Wayne, in der Adrienne Barbeau ihre wohl schönste Rolle (zumindest in Carpenter-Film) gefunden hat und die die wunderbarste weibliche Carpenter-Figur ist, noch vor Laurie Zimmers Leigh in ASSAULT ON PRECINCT 13. Wirklich bewundernswert ist, wie THE FOG sie vollkommen und zu 100 % akzeptiert: dass die Hauptfigur eine alleinerziehende Mutter ist und einem eher „männlichen“ Beruf nachgeht, wird in keiner Weise thematisiert oder gar problematisiert  – sie ist es einfach und vor allem rettet sie den Tag (bzw. bei einem Carpenter-Film: die Nacht). Nicht das „Sein“ bestimmt das „Bewusstsein“ – das „Handeln“ bestimmt das „(Weiter-)Sein“ – was im Kern ziemlich Hawks‘ianisch ist.
(In Zeiten, in denen tatsächlich Leute ernsthaft rumpöbeln, weil eine Frau dieses komische Spiel mit den 22 Spielern und dem Ball kommentiert, ist das alles offenbar keine Selbstverständlichkeit.)


BIG TROUBLE IN LITTLE CHINA (1986)
27. Februar – Erstsichtung
Ein Trucker plagt sich mit komischen chinesischen Geistern in Chinatown rum.
Manche Filme laufen nebenbei wie im Autopilot-Modus: man sieht sie, registriert sie also audiovisuell, statt sie wirklich zu schauen, also intellektuell und emotional zu verarbeiten. So bei mir BIG TROUBLE IN LITTLE CHINA. Die Erinnerungen an diesen Film sind größtenteils bereits wieder verblasst. Kein schlechter Film, nein, sogar makellos gemacht. Aber irgendwie trotzdem egal. In kaum einem anderen Film ist es Carpenter „gelungen“, sich so sehr seelenloser Mainstream-Massenware anzunähern... In Sachen „irgendetwas Fantasy-mäßiges mit ostasiatischem Exotik-Einschlag“ bleibe ich lieber bei THE GOLDEN CHILD.


CHRISTINE (1983)
5. März – Zweitsichtung
Die zarte Liebesgeschichte zwischen einem gemobbten Schüler und einem tödlich eifersüchtigen Auto.
Das unvergesslichste Bild aus CHRISTINE 
Vielleicht der erste Carpenter, den ich jemals sah: damals, in meiner frühen Teenager-Ära als großer Fan von Stephen King, gehörte er zum Pflichtprogramm. Nun, Jahre später, bin ich etwas enttäuscht. Den Ansatz, CHRISTINE als proto-Cronenberg‘ianischen Film über Fetische zu lesen, als Vorgänger von CRASH, finde ich höchst spannend (THE THING könnte man im Grunde auch als proto-Cronenberg‘ianischen body-horror sehen): mir hat sich diese Deutung leider keineswegs aufgedrängt oder als „am Text“ (also an den Bildern) nachvollziehbar gezeigt. Davon habe ich nur Trümmerteile (bad pun intended) gesehen. Vor allem wirkte für mich CHRISTINE wie ein unfokussiertes Teenager-Melodrama, in dem zwischendurch auch ein Killer-Auto zu sehen ist. Ein Film, der nicht weiß, ob Dennis oder Arnie oder Christine die Hauptfigur sein soll (anscheinend irgendwie alle). Neben vielen laberseligen Momenten bleiben aber dennoch einige unvergessliche Bilder hängen. Die junge Frau, die nachts im Inneren des überhell erleuchteten Autos sitzt, das sie offenbar umbringen will (wie genau, versteht man nicht – wohl irgendwie „erwürgen“ oder „ersticken“ – und gerade das macht es noch gruseliger). Und natürlich das ikonische brennende Auto, das eines der Gangmitglieder verfolgt, es überrollt und dann brennend in der Nacht liegen lässt...


VILLAGE OF THE DAMNED (1995)
12. März – Erstsichtung
Ein Alien-Geist schwängert in einer Art massenhaften „unbefleckten Empfängnis“ alle Frauen einer Stadt und die heranwachsenden Kinder bereiten später den Erwachsenen der Gemeinde große Probleme.
Hier soll er also sein: John Carpenters Totalabsturz in die völlige Mediokrität. VILLAGE OF THE DAMNED – für viele ein Mahnmal der Dekadenz eines einst großen Regisseurs, der spätestens in den 1990er Jahren dem totalen Blödsinn verfiel. Viele finden allerdings auch Toast Hawaii lecker und das Spiel mit den 22 Typen und dem Ball total spannend!
VILLAGE OF THE DAMNED, und das kam für mich aufgrund der vielen unfreundlichen Worte über diesen Film überraschend (auch, wenn ich gegenüber solchen Urteilen erst einmal bis zur Sichtung skeptisch bleibe), ist ganz große Carpenter-Kunst. Wie irgendjemand auf die Idee kommt, diesen Film als lächerlichen „baddie“ abzutun, ist mir ein Rätsel.
VILLAGE OF THE DAMNED ist vielleicht Carpenters am wenigsten „abstrakter“ Film, möglicherweise vor allem sein humanistischster. Das Böse ist in den meisten seiner Filme eine absolute, alles infizierende Kraft (am heftigsten in HALLOWEEN) – und hier kommt die Figur des kleinen Jungen David, der aus dem Geist des Bösen gezeugt wurde und für das Böse bestimmt ist, aber im Laufe des Films immer mehr Zweifel an den Tag legt, weil er Gefühle und ein Gewissen entwickelt – und damit zum totalen Außenseiter wird. VILLAGE OF THE DAMNED ist hier fast schon utopisch: das Böse ist gestört, und Humanität kann in Ansätzen doch siegen. Die andere Seite der Medaille ist natürlich, dass die „bösen“ Kinder teilweise mit Erwachsenen konfrontiert werden, die kleinlich, borniert, dumm und teils selbst keine Engel sind – sie zerstören keine Idylle, sondern ein brodelndes Etwas mit einer idyllischen Fassade. Das Mitgefühl des Films gehört auch einer jungen Dorfbewohnerin, die unter schweren Depressionen leidet und in der Gemeinde als Außenseiterin lebt.
In VILLAGE OF THE DAMNED passiert auch ein Wunder. Die Offenbarung des David als Alien-Brut mit menschlichen Gefühlen passiert unter freiem Himmel im Gespräch mit Christopher Reeves Arztfigur. Es ist sonnig hell, aber während des Dialogs verschwindet für einige Sekunden die Sonne (nachdem David gefragt hat „You've lost someone too?“), um dann wieder – gefühlt noch heller – aufzutauchen. Wahrscheinlich ein ungeplanter Umstand, der der Szene eine ungemeine Kraft verleiht.
VILLAGE OF THE DAMNED ist vielleicht auch jener Carpenter-Film, in dem er seine Meisterschaft des Cinemascope-Formats am eindrücklichsten unter Beweis stellt.

Meisterhafte Cinemascope-Komposition mit zwei Außenseitern
Magischer Moment mit verschwindender und wieder auftauchender Sonne

MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN (1992)
19. März – 10., 11. oder 12. Sichtung (?)
Ein totaler Nobody wird unsichtbar, muss damit klar kommen und nebenbei seine Traumfrau erobern sowie einem tödlichen CIA-Agenten entfliehen.
Carpenters Gottwerdung. Sein bester Film. Einer der besten Filme der 1990er Jahre. Ein praktisch unübertreffbares Meisterwerk.
MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN ist Carpenters „Hitchcock“-Man-on-the-run-Film, aber nach der offenbarenden Sichtung von Howard Hawks‘ MAN‘S FAVORITE SPORT? bin ich mir sicher, was die größte Stärke des Films ist: er ist voll und ganz „spät-Hawks‘ianisch“ – ein absolut perfekter Film, der dabei von größtmöglicher Lockerheit und Wärme ist.
Was ich bereits einmal hier auf diesem Blog über diesen Film geschrieben habe, scheint mir weiterhin sinnvoll.


HALLOWEEN (1978)
27. März – Zweitsichtung
Michael Myers flieht aus der Irrenanstalt, um seiner Heimatstadt einen überaus tödlichen Besuch abzustatten.
HALLOWEEN ist sicherlich einer von Carpenters best-inszenierten Filmen aus einer rein technischen Perspektive. Geradezu ein filmästhetisches Lehrstück in Sachen ultrakonzentriertes Filmemachen (also zumindest für erwachsene Zuschauer).
Zugleich ist HALLOWEEN auch Carpenters kältester und auch unmenschlichster Film. Ich bin mir nicht sicher, ob sich das Böse in Form des Michael Myers möglicherweise nicht nur in die intradiegetische Umgebung des Films, sondern auch in den kompletten Film an und für sich hineingefressen hat. In diesem Sinne wäre der Film „übergelungen“.
Ein bemerkenswerter Film, mit dem ich allerdings auch beim zweiten Mal nicht so richtig warm (im fast wörtlichen Sinne) wurde.


IN THE MOUTH OF MADNESS (1994)
2. April – Erstsichtung
Ein Privatdetektiv sucht einen verschollenen Horrorschriftsteller und gerät in dessen tödliche literarische Welt.
Hier ist er also: John Carpenters angeblich „letzter guter Film“ oder zumindest „letztes interessantes Werk“, bevor die völlige Dekadenz zuschlug... Das Narrativ des Regisseurs, der es irgendwann einmal nicht mehr bringt, kennt zumeist ein Zäsurwerk – der letzte Film vor dem Abstieg in die Mediokrität. Als solcher gilt gemeinhin IN THE MOUTH OF MADNESS. Ich widerspreche dem. Das hier ist nicht Carpenter auf dem Weg zu seinem Schlechtesten: vielmehr ist das hier schlicht und ergreifend sein schlechtester Film!
Mit seiner Verzahnung aus 1990er-Jahre-Ironie und postmoderner Dekonstruktion der Erzählung schafft IN THE MOUTH OF MADNESS eine Gruselgeschichte, die nicht gruselig ist, weil sie eh nur „Dekonstruktion“ ist, und zugleich eine Dekonstruktion, die sich als besonders originell geben möchte, aber nicht merkt, dass das Genre der „Dekonstruktion“ seine eigenen Klischees hervorbringt. Kurz: der Film war zumindest für mich einfach nur vollkommen egal. Überhaupt fällt es mir schwer, mich an irgendwelche Bilder zu erinnern. Carpenters Handschrift scheint mir recht abwesend zu sein, und man erkennt sie am ehesten beim „Übergang“ des Protagonisten in die jenseitige Welt, als er durch die schwarze Nacht fährt und dabei einen unheimlichen Radfahrer trifft...
Aber das ist auch schon alles! IN THE MOUTH OF MADNESS ist vielleicht der einzige Film in Carpenters Werk, bei dem ich erst einmal wirklich keine Lust verspüre, mich in näherer Zukunft damit wieder auseinanderzusetzen.


DARK STAR (1974)
9. April – 4. Sichtung
„Warten auf Godot“ im Weltall... (O-Ton Carpenter selbst) – oder: Die Besatzung eines Raumschiffs kämpft mit tödlicher Langeweile, neckischen Gummiballon-Aliens und redseligen Atombomben.
DARK STAR war jetzt ein paar Jahre der „nette kleine Geheimtipp“ und besonders bei meiner dritten Sichtung (März 2015) sah ich ihn sogar als potentiell „großen Carpenter“. Ich weiß nicht warum, aber dieses Mal hat er mir einen Tick weniger gefallen. Trotz der kurzen Dauer schienen mir viele Szenen etwas zu sehr in die Länge gezogen. Die träumerische Melancholie, die mir beim letzten Mal so gefallen hatte, war nicht mehr so greifbar. Trotzdem: immer noch ein sympathischer, entspannter Film, und lieber als jeder einzelne Teil der ALIEN-Teile ist er mir auch. Vielleicht eine Frage der Tagesform.


THE WARD (2010)
17. April – Erstsichtung
Eine pyromanische junge Frau wird in eine Psychiatrie eingewiesen, wo der böse Geist einer ehemaligen Patientin ihr und ihren Mit-Insassinnen nach dem Leben trachtet.
In einer Welt leben zu müssen, in der – zumindest außerhalb Frankreichs – ein so wunderbarer Film praktisch einhellig als totaler Mist gilt, ist zutiefst deprimierend und traurig. THE WARD ist kein Meisterwerk im engeren Sinne, aber er ist unverkennbar das Werk eines Kinomeisters, der alle Register seines Fachs kennt und dabei trotzdem fast nonchalant wirkt. Man könnte auch sagen: THE WARD enthält deutliche Spuren „spät-hawks‘ianischen Feelings“.
Sicher: die Auflösung mag etwas klischeehaft und an den Haaren herbeigezogen sein und der Showdown ist nach dem sehr langsamen Aufbau schlussendlich etwas zu überstürzt. Aber wie viele Filmemacher können schon lange, leere Gänge so unheilschwanger inszenieren? Wie viele Regisseure schaffen es, auf eine derartig filmische, fast dialogfreie Weise die Grundsituation des Geschehens zu fotografieren? Und einen finalen Jumpscare mit einer kleinen Verzögerung von einigen Sekunden so effektiv hinzubekommen?
Ausgelassen tanzende Insassinnen – kurz vor dem Schreckmoment
THE WARD handelt von Frauen, die in einer extrem autoritären Psychiatrie (der Film spielt in den 1960er Jahren) eingesperrt sind, obwohl ihnen eine betreute Sozial-WG, oder ein entspannender zweiwöchiger Urlaub oder eine etwas weniger sexistische, sexuell sexuell repressive, frauenverachtende und latent gewalttätige Gesellschaft ganz gut tun würde. In dieser bedrückenden Umgebung schleicht sich dann dennoch einige „spät-hawks‘ianische“ Momente ein, unter anderem, als die Mädchen sich eine Pause gönnen, eine Rock‘n‘Roll-Platte („Run Baby Run“ von den Newbeats) auflegen und zu tanzen beginnen. Vielleicht einer der schönsten, zumindest einer der ausgelassensten und fröhlichsten Momente in Carpenters Filmographie (der aber auch jäh wieder unterbrochen wird – wir befinden uns schließlich in einem Horrorfilm). Die schönsten und dabei furchterregendsten opening credits hat THE WARD ohnehin.
Bei THE THING war das schon bemerkbar und hier wird es wieder deutlich: wenn Carpenter einem externen Komponisten mit einem Score beauftragt, haucht er ihnen offenbar vorher seinen Geist ein (mit Ausnahme von MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN, wo der Score eher an Bernard Herrmann orientiert wurde) – der wunderschöne und effektive Score des Südafrikaners Mark Kilian wirkt für mich extrem Carpenter‘ianisch (auch wenn viele das verneint haben), wie einst Ennio Morricones Score zu THE THING Carpenter‘ianisch klang.


GHOSTS OF MARS (2001)
17. April – Erstsichtung
Auf dem Planeten Mars soll ein Gefangener von einem Ort in den anderen eskortiert wird, was sich aufgrund eines roten Nebels, der die Anwohner in wilde Dekapitations-Junkies verwandelt, schwierig gestaltet.
GHOSTS OF MARS ist die kleine, verschmutzte, radioaktive Recycling-Tonne in Carpenters Œuvre: als hätte er einen Teil ASSAULT ON PRECINCT 13, einen Teil THE FOG, einen Teil THE THING, einen Teil Uran und einen Teil materialisierte Albernheit in einen Mixer gesteckt und durchgequirlt – um dann die Mischung einem anderen Regisseur zu geben...
Tatsächlich scheint GHOSTS OF MARS thematisch der absolut ultimative Carpenter-Film zu sein, eine Art Resumee seiner bisherigen Filme – und ist ästhetisch zugleich vollkommen untypisch: GHOSTS OF MARS scheint oft unruhig inszeniert, nervös, voller merkwürdiger point-of-views mit Handkamera, mit Szenen, die sich in befremdlichen Fade-Outs geradezu auflösen. Einige Wochen später merkte ich, dass dieser Ansatz bereits im Vorgänger VAMPIRES angelegt war und hier radikalisiert wurde. Ein ästhetisches Experiment, das meiner Meinung nach recht misslungen ist. Die verschachtelte Struktur (die eigentliche Handlung ist ein Flashback, in dem es dann wiederum eigene Flashbacks gibt – die teilweise selbst „Unter-Flashbacks“ haben) wirkt zudem weniger überfordert als teils eher wie eine Parodie ihrer selbst.
Dennoch: GHOSTS OF MARS würde ich in Richtung ESCAPE FROM L.A. einordnen (tatsächlich war er ursprünglich als dritter Plissken-Film geplant). Vorwürfe eines Qualitätskinos sind hier undenkbar, eine leichte Albernheit durchzieht viele Szenen, die Macho-Atmosphäre (gleichwohl gebrochen durch die weibliche und andeutungsweise lesbische Hauptfigur) mit ihren vielen nur teils gelungenen One-Linern wirkt irgendwo zwischen ranzig und bemüht – aber irgendwie kann ich diesem Film nicht wirklich böse sein und habe ihn fast schon ein klein wenig lieb. Nun gut: Betonung auf „klein wenig“. 


MASTERS OF HORROR: CIGARETTE BURNS (2005)
7. Mai – Erstsichtung
Ein Kinobesitzer sucht nach einem Film, dessen Sichtung in Chaos, Gewalt und Mord münden soll.
Nach GHOSTS OF MARS war Carpenter angeblich kurz vor dem Zusammenbruch durch Erschöpfung und dies war seine erste Rückkehr zum Film – erst einmal im Fernsehformat. Und vieles in CIGARETTE BURNS fühlt sich ein wenig nach Fernsehformat an. Über das Niveau okay kommt er kaum je hinweg. Dass das Thema des Films im Film nicht für postmodern-ironische Uneigentlichkeits-Spielchen genutzt wird, ist eigentlich angenehm, aber Carpenter macht weder semantisch noch visuell wirklich etwas aus dem spannenden Grundthema, dass Film etwas grundsätzlich Gefährliches ist. Nur gegen Ende taucht eine wirklich tolle Idee auf: ein Filmbesessener schlitzt sich den Bauch auf, nimmt seine Gedärme raus und versucht, sie in einen Filmprojektor einzuwickeln. Ein drastischer, grausig-splatteriger Moment, vor allem aber auch ein sehr poetisches und tiefsinniges Bild über das Filmemachen und das Filmelieben (auch wenn übereifrige Tugendwächter hierzulande anderer Meinung sind).
Ansonsten: für einen einstündigen Film okay, plätschert etwas vor sich hin, aber Norman Reedus hält das ganze mit seiner charismatischen Präsenz etwas zusammen.


MASTERS OF HORROR: PRO-LIFE (2006)
7. Mai – Erstsichtung
Ein christlich-fundamentalistischer Fanatiker belagert mit seinen Söhnen eine Abtreibungsklinik, wo sich seine von Satan geschwängerte Tochter barrikadiert hat.
Der Beginn ist recht unscheinbar und könnte ein bisschen von einem beliebigen TV-Schichtarbeiter stammen. Doch die zweite Hälfte von PRO-LIFE hat es in sich und vereint alles Gute, was man von einem Ur-Carpenter‘schen Belagerungsszenario erwartet, mit einem netten kleinen Paradoxon als Beigabe (der christliche Fundamentalist, der im Grunde die Geburt des Antichristen befürwortet). Und bietet dann trotzdem noch einige Überraschungen. Der Vater (vorzüglich grimmig von Ron Perlman gespielt) ist rasch als Un-Sympath etabliert, doch wie später die Satansbrut und der Satan dargestellt wird, hat es in sich – zumal in einem Film, der nur die Episode einer Fernsehserie ist: das Biest wird erstaunlich menschlich und verletzlich dargestellt und schlussendlich gar als trauerndes Elternteil. Wie vielen Filmemachern würde es gelingen, dies zu zeigen, ohne, dass es lächerlich wirkt? Und wie Carpenter am Ende das Schicksal einer der Figuren einfach durch eine Ellipse offen lässt, hat fast schon etwas freches. Von wegen Carpenter bringt es seit Anfang der 1990er nicht mehr!


BODY BAGS (1993)
7. Mai – Erstsichtung
Rahmenhandlung: ein verrückter und recht pietätsloser Pathologe, der verdächtig wie John Carpenter aussieht (wahrscheinlich, weil er von ihm gespielt wird) brabbelt im Leichenschauhaus verwirrtes Zeug und führt die drei Episoden ein.
„The Gas Station“: eine Studentin wird bei ihrem Nachtjob an der Tankstelle von zweifelhaften Gestalten und einem Serienkiller belagert.
„Hair“: ein Mann in den „besten Jahren“ mit leichten Geheimratsecken probiert ein Wundermittel gegen Haarausfall, das drastische Nebenwirkungen hat.
„Eye“ (inszeniert von Tobe Hooper): nach einer Augentransplantation bekommt ein Ex-Baseballspieler furchterregende Visionen und mörderische Impulse.
Belagerung des Tankstellen-Kassiererhäuschens: hier ein penetranter,
aber noch harmloser Kunde
Carpenter auf Fernsehformat ist gewissermaßen die Belagerung eines Tankstellen-Kassiererhäuschens und die Episode „The Gas Station“ bietet mit seinem nächtlichen Serienmörder-Belagerungsszenario in knapp einer halben Stunde ein funkelndes Stück Carpenter-Essenz: trotz der albern-selbstironischen Rahmenhandlung 100 % straight, von der ersten Minute an spannend, voller Unheil in jeder Ecke des Bildes – und auch zusammengestaucht auf das Format 1.33:1 schlägt sich Carpenter überaus tapfer (sehr geschickt baut er einige Bildkompositionen statt in der Horizontale in der Vertikale auf).
„Hair“ präsentiert in den ersten Momenten etwas, was wie eine manische Screwball-Komödie im übersteuerten Camp-Modus wirkt und zugleich auch wie eine hintergründige Satire auf Männlichkeitsfantasien. Ein wunderbarer Stacy Keach –
...ein kleiner Exkurs an dieser Stelle: eine sträflich unterschätzte Qualität Carpenters ist jene, oftmals das Beste aus seinen Schauspielern herauszubekommen. Ja, es gibt einige schwache Filme in seiner Filmographie, doch abgesehen von vielleicht DARK STAR, wo die Darsteller manchmal etwas hölzern wirken, fiele mir spontan kein Carpenter-Film mit schlechten Darstellern ein. Die Sorgfalt reicht bis zu den Nebendarstellern, die oft sehr charaktervoll und charismatisch sind – man denke nur an Charles Cyphers, der gleich sechs frühe Carpenter-Filme mit seinem unvergesslichen Gesicht veredelte, oder Frank Doubleday, ohne dessen markante Präsenz weder ASSAULT ON PRECINCT 13 noch ESCAPE FROM NEW YORK denkbar wären.
– ein wunderbarer Stacy Keach also jammert sich durch den Beginn der Episode, weil sein Haupthaar schwindet und legt seiner Freundin das ganze als absolut ultimative existentielle Krise dar. Als er seine Kur bei einem zwielichtigen Arzt bekommen hat, weicht die absurde Screwball-Komödie einem bizarren Fetisch-Groteske: dieser Mann findet fast schon erotisches Vergnügen an seinen neuen, Rockstar-mäßig langen Haaren (das hat fast schon was von einem Cronenberg-Film, den Cronenberg nie drehte) – ein bisschen lustig ist das schon, wenn Stacy Keach mit, ähm, „Haarteil“ quietschvergnügt vor dem Spiegel steht und sich bewundert. Dann endet das ganze mit einem typischen Carpenter-Invasions-Szenario (die Haarimplantate waren Alien-Dinger, die nun das Gehirn des eitlen Mannes übernehmen).
Die von Tobe Hooper gedrehte Episode „Eye“ ist übrigens auch toll, und Mark Hamill bekam dann wiederum von Carpenter später die schöne und tragische Rolle des Gemeindepriesters in VILLAGE OF THE DAMNED.

Ein Toupet sieht nicht schick aus, stattdessen gibt es neue Haare beim Wunderdoktor
– mit streitbaren ästhetischen Ergebnissen und schrecklichen Nebenwirkungen

SOMEONE‘S WATCHING ME! (1978)
7. Mai – Erstsichtung
Eine junge Frau wird von einem Telefon-Stalker bedroht.
In Form und Inhalt ist der TV-Film SOMEONE‘S WATCHING ME! Carpenters allerreinster „Hitchcock-Film“: ohne die vielen Implikationen über Voyeurismus und vielleicht ein bisschen länger, als es ihm gut tut. Solide, wenngleich nicht übermäßig originelle Thriller-Kost.
Ein bemerkenswertes Detail ist sicherlich, dass Adrienne Barbeaus Nebenfigur, eine Arbeitskollegin der Protagonistin, bei einem kurzen Dialog als lesbisch präsentiert wird – das aber im Verlauf des Films nicht mehr die geringste Rolle mehr spielt. Sie ist einfach nur da und hilft dann auch der Protagonistin im Kampf gegen den Stalker. Ein wundervoller Respekt für eine Nebenfigur – wie Brian De Palma das ganze schamlos ausgeschlachtet hätte, ist gut vorstellbar.


STARMAN (1984)
22. Mai – Erstsichtung
Ein hochentwickelter Alien reist mit einer Frau in Gestalt ihres verstorbenen Mannes durch die USA, um sein Raumschiff nach Hause noch rechtzeitig zu bekommen.
Der Starman und Jenny beim Abendessen: Carpenters schönstes Paar
STARMAN wird oft als Carpenters „Entschuldigung“ für die nihilistischen Gewalt-Exzesse von THE THING interpretiert. Ich würde es etwas positiver formulieren: STARMAN ist die B-Seite von THE THING. Den größeren Gegensatz sehe ich eher zu HALLOWEEN, insofern das Roadmovie um das Alien im menschlichen Körper Carpenters wärmster Film ist. Wo in anderen Carpenter-Filmen (und teils auch hier) Menschen oft unmenschlich sind, zeigt er hier, dass man kein Mensch sein muss, um menschlich zu sein. 
Die Mischung aus SciFi, Liebesfilm, Roadmovie und Paranoia- und Verfolgungsthriller ist insgesamt gelungen, auch, wenn ich mir von letzterem etwas weniger gewünscht hätte und dafür ein wenig mehr Roadmovie und Liebesfilm. Es gibt, nach meinem Geschmack, zu viel Plot, zu viele Wendungen, zu viele Verfolgungsmomente. Dafür erscheinen die Szenen, in denen die beiden Protagonisten einfach nur sich selbst und miteinander sein können, mit dieser langsam entstehenden Freundschaft und schließlich Liebe, zu kurz. An Karen Allen und Jeff Bridges wäre das bestimmt nicht gescheitert!
Das ist freilich Jammern auf hohem Niveau. Und wer kann schon einem Film widerstehen, der solche Dialoge hat:
– „Stay clear of that bozo.“
– „Define bozo!“
– „Jerk.“


VAMPIRES (1998)
28. Mai – Zweitsichtung (erste ungekürzte Sichtung)
Vampirjäger jagen Vampire und besonders den Obervampir.
VAMPIRES sollte etwas besonderes sein: nämlich John Carpenters einziger „wirklicher“ Western (ASSAULT ON PRECINCT 13 und später auch GHOSTS OF MARS kommen dem recht nahe und mit viel Fantasie könnte man THE THING als Schnee-Western lesen)! Doch spätestens nach einer Dreiviertelstunde ertappte ich mich dabei, wie ich etwas ungeduldig auf die Uhr schaute. Es gibt keinen Zweifel daran, dass es unendlich viel Spaß macht, James Woods in einer schönen Hauptrolle zu sehen. Und trotzdem ist dieser Film eine Enttäuschung. Ästhetisch mixt er auf sehr uneinheitliche Weise den typisch minimalistisch-ruhigen Carpenter-Stil und ein Herumexperimentieren mit merkwürdigen Überblendungen und Fade-Outs – ohne, dass das auch nur annähernd harmonieren oder gut aussehen würde. 
VAMPIRES ist nicht nur enttäuschend, sondern auch schmerzhaft. Es ist ein Film, bei dem man sich ehrlich wünscht, er sei besser geworden.


ELVIS (1979)
29. Mai – Erstsichtung
Elvis, wie er leibt, lebt und legendet.
ELVIS hat den Atem eines wahren Epos und dabei doch eine kammerspielartige Intimität. Dabei wartet er mit einer tollen Überraschung auf: Kurt Russell – der zur gleichen Zeit als Elvis absolut perfekt und, durchaus im guten Sinne, „fehlbesetzt“ ist. Russell legt, besonders in der ersten Hälfte, seinen Elvis erstaunlich androgyn an, spielt ihn mit einer großen Künstlichkeit und sieht eher wie ein Elvis-Imitator als wie Elvis aus – damit sorgt er für eine sehr erfrischende Irritation. Später (also auch bei zunehmender Legendenbildung) wird Russell immer „natürlicher“, nähert sich dabei paradoxerweise immer mehr der Legende Elvis an, bis man stellenweise fast denkt, dass der „King“ höchstpersönlich da steht. Das ist eine grandiose Leistung von Kurt Russell, und dass Carpenter ihn später für viele weitere Filme verpflichtete, ist kein Wunder.
Jenseits von Russell hat ELVIS, besonders im ersten Drittel, einige schier magische Filmmomente: wenn ein Autokorso in den opening credits zu fetzigem Rock‘n‘Roll durch die Wüste von Nevada fährt – wenn Klein-Elvis durch einen scheinbar magisch belebten Herbstwald voller fallender Blätter rennt – wenn Teen-Elvis auf dem Rasen im Pausenhof seine Gitarre nimmt und zu singen anfängt.
Trotz der scheinbaren Exzentrik im Gesamtwerk ist ELVIS ein geradezu Ur-Carpenter‘ianischer Film über Belagerung und Isolation. Ein Film über eine Märtyrer-Figur, die von hysterischen Fans belagert wird und zwischen Mensch-Sein und Legenden-Sein auch zunehmend im Kreise seiner Freunde und seiner Familie isoliert wird. ELVIS ist dennoch nicht ohne Makel. Mit zunehmender Laufzeit funktioniert er doch etwas zu sehr wie ein typisches Biopic (Kindheit, Aufstieg, Glorie, Fall, Wiederauferstehung) – wobei sich natürlich die Frage stellt, inwiefern der Film selbst ein Klischee geformt hat, dass es so damals noch nicht gab. Unbemerkt blieb ELVIS keineswegs: ich kann mir nicht vorstellen, dass James Mangold Carpenters Film in Vorbereitung zu seinem Johnny-Cash-Biopic WALK THE LINE nicht gesehen hat. 
Mit 163 Minuten ist ELVIS der längste Film in Carpenters Filmographie, die ansonsten keinen einzigen Film über zwei Stunden enthält (und die meisten sind den anderthalb Stunden näher als der 120-Minuten-Marke) – vielleicht einen Tick zu lang. Trotzdem unter den eher unbekannteren Werken des Meisters ein sehenswerter Film.

Klein-Elvis rennt durch einen belebten Herbstwald
Teen-Elvis singt auf dem Pausenhof

ASSAULT ON PRECINCT 13 (1976)
30. Mai – 6. oder 7. Sichtung
Ein Polizist, zwei Polizeisekretärinnen und zwei Schwerverbrecher werden in einer Polizeistation von einer Gang belagert.
Was gibt es viel über dieses Wunderwerk zu sagen? Über diesen Film, der mit jeder neuen Sichtung neues Erstaunen über seine Brillanz hervorruft, und dabei doch immer wieder Neues entdecken lässt.
So etwa der erste Angriff – ein Moment des puren Kinos: mit Schalldämpfern schießen die Gangmitglieder auf das Gebäude, und fast lautlos wird alles im Empfangsraum der Polizeistation zerbrochen oder durch die Luft gewirbelt... Ein Moment, der fast noch spektakulärer ist als die späteren, „richtigen“ Angriffe.
Napoleon und Leigh: das schönste Paar in Carpenters Filmographie,
das nicht zusammen kommt
Dieser wunderschöne „kleine“ Augenblick, bei dem ich tatsächlich drei Mal zurückspulen musste: Napoleon fragt Lieutenant Bishop, ob dieser eine Zigarette für ihn habe, und als dieser mit „No [kurze Pause] I‘m sorry“ antwortet, verliert Napoleon kurz, aber doch sichtlich die Fassung, weil sich eben ausgerechnet ein Polizist bei ihm entschuldigt hat. ASSAULT ON PRECINCT 13 wird oft als Carpenters RIO BRAVO bezeichnet. Wenn Hawks‘ Meisterwerk tatsächlich ein Film darüber ist, wie ein heruntergekommener Mann (Dude – Dean Martin) seine Würde wiederfindet, dann ist ASSAULT ON PRECINCT 13 auch ein Film darüber, wie ein Krimineller mit legendärer Aura (Napoleon Wilson – Darwin Joston) wieder zu einem respektierten, gesellschaftlich integrierten und „normalen“ Menschen wird – wenn auch unter außergewöhnlichen Umständen. Und am Ende aufrecht stehend und gleichberechtigt mit einem Polizisten in die Morgendämmerung hinausläuft.
Und dann auch diese sexuelle Spannung zwischen Leigh und Napoleon: sie war natürlich schon immer da, aber bei dieser Neusichtung spürte ich Funken sprühen wie nie zuvor.

Und jetzt zum Dessert...
(John Carpenter als verrückter Pathologe in BODY BAGS)

John Carpenter wieder- und neuentdeckt – Die großen Überraschungen:
– VILLAGE OF THE DAMNED
– THE WARD
– BODY BAGS


John Carpenter wieder- und neuentdeckt – Die großen Enttäuschungen:
– IN THE MOUTH OF MADNESS
– VAMPIRES
– CHRISTINE


John Carpenter wieder- und neuentdeckt – Eine persönliche und provisorische Präferenzliste:

1 MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN


2 ASSAULT ON PRECINCT 13
– ESCAPE FROM NEW YORK


3 THEY LIVE

4 THE THING


5 THE FOG

6 VILLAGE OF THE DAMNED

7 THE WARD

8 BODY BAGS


9 PRINCE OF DARKNESS

10 STARMAN

11 HALLOWEEN

12 ELVIS


13 SOMEONE‘S WATCHING ME!

14 DARK STAR


15 ESCAPE FROM L.A.

16 CHRISTINE

17 PRO-LIFE


18 GHOSTS OF MARS

19 CIGARETTE BURNS

20 BIG TROUBLE IN LITTLE CHINA


21 VAMPIRES


22 IN THE MOUTH OF MADNESS