Samstag, 24. September 2016

Und sie dreht sich doch!

Kurze und höchst unvollständige Geschichte der rotierenden Raumstation

Die Hauptdarstellerin betritt die große Bühne (Collier's, 22. März 1952,
Illustration Chesley Bonestell nach Vorlagen von Wernher von Braun)
Kürzlich lief wieder einmal Stanley Kubricks epochaler 2001: A SPACE ODYSSEY im Fernsehen. Darin gibt es bekanntlich eine riesige Raumstation in Form eines rotierenden Rades. Genau betrachtet sind es eigentlich zwei Räder, die durch ihre gemeinsame Achse miteinander verbunden sind, und von denen eines noch im Bau befindlich ist, aber auf diesen feinen Unterschied soll es hier nicht ankommen. Die Rotation dient natürlich dazu, durch die Zentrifugalkraft eine Art von künstlicher Schwerkraft im äußeren Bereich der Station zu erzeugen. Die heutige Raumstaion ISS sieht aber ganz anders aus, ist viel kleiner, und vor allem rotiert sie nicht (abgesehen von einem sehr kleinen Betrag, der dazu führt, dass die Station der Erde immer dieselbe Seite zuwendet), und das galt auch für alle ihre Vorgänger (Skylab, die Saljut-Stationen, Mir). Es gab also nie ein reales Gegenstück zum Design der rotierenden Station in 2001: A SPACE ODYSSEY. Haben somit Kubrick und sein Co-Autor Arthur C. Clarke dieses Konzept erfunden? Kenner der Materie wissen natürlich, dass das nicht der Fall ist.

2001: A SPACE ODYSSEY
In diesem Zusammenhang wird gern der Name Pawel Kluschanzew genannt. Im Film DER WEG ZU DEN STERNEN (DOROGA K ZVEZDAM) von 1957 zeigte dieser russische Regisseur ebenfalls eine ringförmige rotierende Raumstation. DER WEG ZU DEN STERNEN ist kein Spielfilm, sondern eine 50-minütige populärwissenschaftliche Dokumentation mit eingestreuten Spielszenen. Neben einer Rückschau, in der der russische Raumfahrtpionier Konstantin Ziolkowski im Mittelpunkt steht, geht es vor allem um die nähere Zukunft der bemannten Raumfahrt, wie sie sich 1957 (im Jahr des Sputnik) aus sowjetischer Sicht darstellte. Kluschanzew hatte dazu den führenden Raumfahrtkonstrukteur Michail Tichonrawow und weitere Experten als Berater. Es wurde gelegentlich auf die Ähnlichkeit gewisser Szenen in DER WEG ZU DEN STERNEN und 2001: A SPACE ODYSSEY hingewiesen, z.B. in diesem Artikel von Mark Wade, Autor der Encyclopedia Astronautica. Hat Kubrick womöglich bei Kluschanzew geklaut? Ich will hier nicht auf die Innenausstattung der jeweiligen Raumstation und auf Details einzelner Szenen eingehen - mir geht es hier nur um die äußere Form der Stationen und um die Rotation. Und hier bekommt Kubrick einen Freispruch erster Klasse, denn das Konzept war schon Jahre vor DER WEG ZU DEN STERNEN in der amerikanischen Populärkultur verankert, und in der theoretischen Raumfahrtliteratur existierte es noch viel länger.

DER WEG ZU DEN STERNEN - es rotiert nur der torusförmige Teil der Station; links unten ist ein Mondraumschiff angedockt
Schon Ziolkowski schrieb 1903, dass man im Weltraum durch Rotation künstliche Schwerkraft erzeugen kann. Das erste konkrete Konzept eines ringförmigen rotierenden Raumflugkörpers legte der österreichisch-slowenische Ingenieur Herman Potočnik vor, in seinem Buch Das Problem der Befahrung des Weltraums - Der Raketenmotor, das er 1928 unter dem Pseudonym Hermann Noordung veröffentlichte. In das allgemeine Bewusstsein ist dieses Werk nicht vorgedrungen - dafür war die Zeit noch nicht reif, und Potočnik selbst konnte durch seinen frühen Tod 1929 auch nicht viel zur Popularisierung seiner Ideen beitragen. Aufmerksam gelesen wurde sein Werk aber von den Mitgliedern des in Berlin ansässigen Vereins für Raumschiffahrt (VfR), in dem sich Wissenschaftler, Techniker und Enthusiasten wie Hermann Oberth, Walter Hohmann, Rudolf Nebel und Max Valier versammelt hatten. Mitglied im VfR war auch der damals noch recht junge Wernher von Braun, der somit um 1930 herum mit Potočniks Ideen in Berührung kam.

Skizze aus Das Problem der Befahrung des Weltraums - Der Raketenmotor von Herman Potočnik
(Quelle: Wikipedia)
Zeitsprung rund 20 Jahre in die Zukunft: Wernher von Braun hat jetzt schon eine Karriere als Chefentwickler der "Wunderwaffe" V2 (und in diesem Zusammenhang als Sturmbannführer der SS) hinter sich, und nun ist er als "Beutewissenschaftler" in den USA. Nach einem fünfjährigen Aufenthalt in Fort Bliss bei El Paso (Texas), der anfangs noch den Charakter einer Internierung trägt, übersiedelt er mit seinem Team (darunter viele alte Kollegen aus Peenemünde) nach Huntsville (Alabama), wo er ziviler Chefwissenschaftler in einer Raketenentwicklungsabteilung der US Army wird. Doch von Braun ist mit seiner Situation nicht zufrieden. Denn sein eigentliches Ziel ist von jeher die bemannte Raumfahrt, und davon will die damalige US-Regierung nichts wissen. Statt Flausen über Raumstationen und Flüge zum Mond und zum Mars will man von ihm atomar bestückbare Mittelstrecken- und Interkontinentalraketen, um den neuen Erzfeind Sowjetunion in Schach zu halten, und der Ausbruch des Koreakriegs 1950 hat diese Position noch zementiert. Doch von Braun ist nicht gewillt, das hinzunehmen, und er geht in die PR-Offensive.

2001: A SPACE ODYSSEY
Ebenso wie der mit ihm befreundete Publizist Willy Ley, der auch schon Mitglied im VfR gewesen war (der aber durch seine Emigration 1935 Nazi-Verstrickungen entging), schrieb von Braun allgemeinverständliche Bücher, mit denen er die Raumfahrt (und insbesondere die bemannte Raumfahrt) popularisieren wollte. Entscheidend wurde aber vor allem eine Artikelserie mit dem Titel Man Will Conquer Space Soon! (ja, das Soon war unterstrichen), die von März 1952 bis April 1954 in acht Ausgaben der Zeitschrift Collier's erschien, und die ungeahnte Breitenwirkung entfaltete. Wernher von Braun, Willy Ley und der Harvard-Astronom Fred Whipple waren die Hauptautoren, auch der in der Luft- und Raumfahrtmedizin tätige Physiker Heinz Haber (der später bei uns durch seine Wissenschaftssendungen in ARD und ZDF bekannt wurde) und andere trugen Artikel bei. Redaktionell betreut wurde die Serie von dem Schriftsteller und Journalisten Cornelius Ryan, damals Mitherausgeber von Collier's (Ryan schrieb auch die Buchvorlage zu THE LONGEST DAY über die Invasion in der Normandie). Ein beträchtlicher Teil des Erfolgs der Artikelserie war den instruktiven und teilweise spektakulären Illustrationen zu verdanken, die von drei damals führenden Grafikern im Grenzbereich von Wissenschaft und Science Fiction stammten, nämlich Fred Freeman, Rolf Klep, und vor allem vom genialen Chesley Bonestell.

Der Anfang des ersten und der komplette zweite Artikel in der Collier's-Serie
(Illustration oben Chesley Bonestell, unten Fred Freeman)
Im Editorial zur Artikelserie, das den Titel What Are We Waiting For? trägt, wird schon fünfeinhalb Jahre vor Sputnik das Wettrennen ins All mit der Sowjetunion ausgerufen, und interessanterweise wird eine öffentliche Äußerung von Kluschanzews Berater Tichonrawow als Beleg dafür zitiert, dass das Rennen auf sowjetischer Seite bereits im Gang ist. Im darauf folgenden ersten Artikel der Serie mit dem Titel Crossing the Last Frontier legt Wernher von Braun seine damaligen Pläne für ein amerikanisches Weltraumprogramm dar. Und in deren Zentrum steht eine ringförmige rotierende Raumstation mit einem Durchmesser von ca. 75 Metern, die in einer Höhe von 1700 km alle zwei Stunden die Erde umkreisen sollte. Die Neigung der Bahn zum Äquator würde ungefähr 65° betragen, so dass durch die Eigendrehung der Erde innerhalb kurzer Zeit große Teile der Erdoberfläche überflogen würden. Die Außenhülle der Station sollte nicht aus einem massiven Material bestehen, etwa einer Aluminium- oder Titanlegierung, sondern aus luftdichtem Nylongewebe, das kompakt verpackt in den Weltraum geschossen und erst dort zu seiner Form aufgeblasen werden sollte. Zur Energieversorgung der Station sollte ein solarthermisches Kraftwerk mit einer Leistung von 500 kW dienen, als Arbeitsmedium war Quecksilber vorgesehen. Bei der Rotationsgeschwindigkeit legt sich von Braun nicht genau fest, aber er gibt zwei Zahlenbeispiele: Wenn sich die Station alle 22 Sekunden um ihre Achse drehen würde, würde im äußeren Bereich eine künstliche Schwerkraft von ⅓ g herrschen, und bei einer Drehung alle 12,3 Sekunden wäre es 1 g. Im kurzen nächsten Artikel erläutert Willy Ley anhand einer sehr detaillierten Schemazeichnung von Fred Freeman weitere technische Einzelheiten der Raumstation.

Weitere Bilder aus den Collier's-Artikeln. Links oben die Macher der Serie (es fehlen Freeman und Ryan)
Der Zweck der Station war einerseits die Erdbeobachtung zu verschiedenen wissenschaftlichen und praktischen Zwecken. So sollte etwa eine ganze Schar von Meteorologen mit ihren Instrumenten permanent die Atmosphäre beobachten, um gleich im Orbit Wetterprognosen zu erstellen - dieser Aspekt findet sich eins zu eins auch in Kluschanzews Raumstation in DER WEG ZU DEN STERNEN. Andererseits sollte die Station als Abflugbasis für bemannte Missionen zum Mond (und später zum Mars) dienen. Von Braun diskutiert auch eine mögliche militärische Nutzung der Station, zur militärischen Aufklärung, aber auch als Träger von Atomraketen. Zum Projekt gehört auch ein astronomisches Observatorium in unmittelbarer Nähe zur Raumstation, aber räumlich abgekoppelt, um nicht durch die Rotation und die Erschütterungen gestört zu werden. Von Braun entwarf damit also einen Vorläufer des Hubble-Teleskops (Fred Whipple geht in einem anderen Artikel weiter auf diesen Aspekt ein). Diese ganzen Ideen hatte von Braun schon länger mit sich herumgetragen. Bereits 1946 hatte er der Army einen schriftlichen Vorschlag für eine solche Raumstation samt von ihm angefertigter Skizze vorgelegt, war aber auf taube Ohren gestoßen.

In der Schwerelosigkeit schwebende Schreibstifte in DISNEYLAND: MAN IN SPACE (oben) und
2001: A SPACE ODYSSEY - hat sich Kubrick hier vielleicht wirklich bedient?
Was an der damaligen Sichtweise auffällt (und das schließt Kluschanzew ein), ist die Tatsache, dass die zukünftigen Fähigkeiten und die Bedeutung unbemannter Satelliten dramatisch unterschätzt werden. Aber man sollte nicht vergessen, dass erst Jahre später die ersten integrierten Schaltkreise vorgestellt wurden - die spektakuläre Entwicklung der Halbleitertechnik war damals noch nicht im Entferntesten absehbar, und daran hing auch die Entwicklung der Satellitentechnik zu einem großen Teil. - Die Collier's-Serie wurde im April 1954 sozusagen mit der Königsdisziplin abgeschlossen: Wernher von Braun diskutiert den bemannten Flug zum Mars, den er vage für Mitte des 21. Jahrhunderts prognostiziert. Dabei erwähnt er auch eine Option, die Eingang in die Science Fiction (einschließlich 2001: A SPACE ODYSSEY) gefunden hat, nämlich die Möglichkeit, Crew-Mitglieder für die Dauer der Reise in einen Tiefschlaf zu versetzen.

Willy Ley (links) und Heinz Haber in DISNEYLAND: MAN IN SPACE
Die Artikelserie hat das Thema Raumfahrt ungemein populär gemacht und aus der Sphäre der Science Fiction in die einer realen Option in einer greifbar nahen Zukunft versetzt. Und sie machte aus einem weithin unbekannten deutschen Wissenschaftler mit etwas dubioser Vergangenheit einen strahlenden amerikanischen Helden des Fortschritts (von Braun und seine Frau wurden 1955 US-Bürger). Wernher von Brauns Popularität wurde nun durch Radio- und Fernsehinterviews quasi zum Selbstläufer, und auf diesen Zug sprang auch Disney auf. In der Serie DISNEYLAND, die von Disney in Zusammenarbeit mit dem Sender ABC produziert wurde, wurde das Thema der Artikelserie in aktualisierter Form ins Fernsehen getragen, wobei verbal vorgetragene Informationen mit Schaubildern und Modellen auf sehr unterhaltsame Weise mit witzigen und gelegentlich fast surrealen Zeichentricksequenzen, Animationen mit Modellen und einigen Realaufnahmen mit Schauspielern kombiniert wurden.

DISNEYLAND: MAN AND THE MOON - Wernher von Braun stellt das neue Modell seiner Raumstation vor
In der ersten der drei Folgen, MAN IN SPACE (1955), erläutern Willy Ley, Wernher von Braun und Heinz Haber Grundsätzliches zu den physikalischen Grundlagen, zum Ablauf eines Raumflugs und zur (begrenzten, aber doch gegebenen) Tauglichkeit des Menschen fürs All. In MAN AND THE MOON (1955) geht es um den bemannten Flug zum Mond - vorerst noch ohne Mondlandung, sondern nur mit einer einmaligen Umrundung des Trabanten, wobei erstmalig seine Rückseite betrachtet und fotografiert wird. Von Braun, diesmal der einzige Experte im Studio, erklärt den Ablauf der Mission, wobei auch diesmal eine rotierende Raumstation als Startpunkt dient. Im Vergleich zu der Version von 1952 ist diese nun etwas kleiner, hat drei statt zwei dicke Streben, und zusätzlich viele "Speichen" (in Wirklichkeit Kühlrohre), die an einen Fahrradreifen erinnern. Während die Station aus Collier's mit Sonnenenergie betrieben wurde, besitzt die neue Version einen Kernreaktor im nicht rotierenden Zentrum der Station (wo auch Raumschiffe andocken können). Der Grund für diesen Sinneswandel wird nicht erklärt, ich kann mir aber vorstellen, dass er von den seit 1954 existierenden Atom-U-Booten mit kompakten Kernreaktoren an Bord inspiriert wurde. Diese Folge hat auch eine ausgedehnte Spielsequenz mit den vier Astronauten in ihrem Mondraumschiff, die sich in Ausstattung und Tricktechnik nicht hinter zeitgenössischen Hollywoodfilmen über Raumflüge verstecken muss, dabei aber - allen damaligen Fehleinschätzungen zum Trotz - viel realistischer ist. In MARS AND BEYOND (1957) schließlich dient dieselbe Raumstation wie in der zweiten Folge auch als Startpunkt zum Roten Planeten. Von Braun und sein Kollege Ernst Stuhlinger warten aber mit einer neuen und extravaganten Idee auf: Die Flotte von sechs Raumschiffen, die gemeinsam die Reise absolvieren, wird nicht von konventionellen chemischen Treibstoffen angetrieben, sondern von Ionentriebwerken, wobei Kernreaktoren an Bord der Schiffe die Energie für einen kontinuierlichen Betrieb der Triebwerke liefern und Cäsium als Medium zur Erzeugung des Rückstoßes dient.

DISNEYLAND: MAN AND THE MOON - die Station wird im Orbit zusammengebaut
Diese drei Sendungen sind in mehrerlei Hinsicht auch heute noch sehenswert; inszeniert und moderiert wurden sie von Ward Kimball. Ein Modell der Raumstation aus den Folgen 2 und 3 wurde in der zweiten Hälfte der 50er Jahre von der Firma Strombecker als Plastikbausatz im Maßstab 1:300 (bezogen auf die Maße, die von Braun genannt hat) als Disney Space Station verkauft. Basierend auf den originalen Druckgussformen von damals, wurde der Bausatz in den 90er Jahren erneut herausgebracht - diesmal mit eher nostalgischem statt futuristischem Flair.

CONQUEST OF SPACE
Wir können also festhalten, dass die rotierende Raumstation 1952 in der amerikanischen Populärkultur angekommen ist, und auch so schnell nicht wieder verschwand. Und von der Populärkultur im Allgemeinen ist es nicht mehr weit bis Hollywood. 1955 brachte Paramount CONQUEST OF SPACE in die Kinos. Regisseur war Byron Haskin (der kurz zuvor den Klassiker THE WAR OF THE WORLDS inszeniert hatte), Produzent war George Pal - da waren namhafte Leute am Werk. Wie im Eröffnungsartikel der Collier's-Serie gibt es eine Raumstation, von der aus eigentlich demnächst der erste Testflug zum Mond starten sollte. Doch da wird der Testflug vom Hauptquartier auf der Erde kurzfristig abgesagt und stattdessen der sofortige Flug zum Mars befohlen. Der Kommandant der Station sträubt sich heftig gegen diese Entscheidung, beugt sich aber schließlich dem Befehl und übernimmt auch die Rolle als Kommandant des Marsraumschiffs. Doch dummerweise sind da die Gefahren der kosmischen Strahlung, die das Nervensystem angreift. Nachdem anfangs ein Besatzungsmitglied der Station (als warnendes Exempel) einen minder schweren Anfall erleidet, trifft es auf dem Flug zum Mars ausgerechnet den Kommandanten mit voller Härte. Er steigert sich in einen religiösen Wahn hinein und bringt mit erratischem Verhalten die Mission in höchste Gefahr ...

CONQUEST OF SPACE
CONQUEST OF SPACE wurde inspiriert von dem fast gleichnamigen Buch The Conquest of Space, das Willy Ley (Text) und Chesley Bonestell (Illustrationen) schon 1949 herausgebracht hatten, sowie von Wernher von Brauns Buch Das Marsprojekt bzw. The Mars Project, das er im Wesentlichen schon 1948 geschrieben hatte, das aber erst 1952 auf Deutsch und 1953 auf Englisch erschien. Der etwas schwachbrüstige Plot um den Kommandeur mit Weltraum-Rappel stammt allerdings nicht aus diesen Büchern, sondern wurde erst für den Film erfunden. Chesley Bonestell war auch direkt am Film beteiligt, als Verantwortlicher für Astronomical Art, wie es in den Credits heißt. Wenig überraschend ist das Design des Films sehr eng an die Collier's-Artikel angelehnt. Beispielsweise erkennt man in meinem ersten Bild oben deutlich eine Art Aufsatz auf dem eigentlichen ringförmigen Körper der Station. Es handelt sich dabei wohl um die gekrümmten Spiegel des Solarkraftwerks, die die Sonnenstrahlen auf eine Metallröhre fokussieren, in der das Quecksilber zirkuliert und dabei erhitzt wird. Und einen solchen Aufsatz besitzt auch die Station in CONQUEST OF SPACE - ebenso wie die in QUEEN OF OUTER SPACE.

CONQUEST OF SPACE
1958 erschien QUEEN OF OUTER SPACE, den ich leider nicht online auftreiben konnte - die Screenshots sind aus dem Trailer (ich habe für diesen Artikel keine DVDs gekauft, es gibt aber zu allen hier erwähnten Filmen welche). Auf der Venus gibt es nur Frauen, die von einer permanent maskierten männerhassenden Königin regiert werden. Die rotierende Raumstation im Film wird den Informationen nach, die ich finden konnte, schon am Anfang des Films zerstört, durch Todesstrahlen der Venusianerinnen. Eher versehentlich fliegt dann ein Raumschiff mit vier Astronauten zur Venus und rückt die Dinge (aus irdisch-männlicher Sicht) wieder zurecht. Eine der Venus-Damen wird von Zsa Zsa Gabor gespielt, und Eric Fleming hat sowohl in QUEEN OF OUTER SPACE als auch in CONQUEST OF SPACE eine Hauptrolle (etwas später war Fleming der Star der Westernserie RAWHIDE an der Seite des Nachwuchsdarstellers Clint Eastwood). Regisseur von QUEEN OF OUTER SPACE war ein Edward Berns. Dieser durchaus vielbeschäftigte Regisseur hatte 1956 für dasselbe Studio (Allied Artists, das frühere Monogram) WORLD WITHOUT END inszeniert, und aus diesem Film wurden einige Szenen in QUEEN OF OUTER SPACE wiederverwendet. Auch Kostüme und Utensilien aus FORBIDDEN PLANET sind hier offensichtlich einer Zweitverwertung zugeführt worden. Heute gilt dieser recyclingfreudige Film als ein Camp-Klassiker.

QUEEN OF OUTER SPACE - eine Raumstation und ihr Ende, Teil 1
Von 1963 bis 1968 (mit längeren Pausen zwischen den Staffeln) flimmerte die Puppentrickserie SPACE PATROL über die englischen Bildschirme. In den USA hieß die Serie PLANET PATROL, weil es in den 50er Jahren schon eine amerikanische Serie mit dem Titel SPACE PATROL gab. Das ringförmige Ding in der Serie fliegt aktiv durch das All, ist also eher ein Raumschiff als eine Raumstation, und es rotiert auch nicht selbst, sondern es wirbelt nur eine Art Kraftfeld darum herum. SPACE PATROL galt lange als verloren, aber vor ungefähr 20 Jahren fand Roberta Leigh, die Schöpferin der Serie, längst vergessene Kopien wieder.

SPACE PATROL
Bei MUTINY IN OUTER SPACE (1965) haben wir wieder das von Braun'sche Konzept in Reinkultur: Die rotierende Raumstation als Ausgangs- und Rückkehrpunkt für Flüge zum Mond. Auf dem Erdtrabanten gibt es bereits eine bemannte Station, und dort wurden kürzlich mysteriöse Eishöhlen gefunden. Als ein Raumschiff Proben aus den Höhlen zur Raumstation bringt, ist einer der beiden Astronauten mit einem tödlichen Pilz infiziert. Der Kommandant der Raumstation ist stark überarbeitet, und er wird zwar nicht komplett verrückt wie sein Kollege aus CONQUEST OF SPACE, aber er trifft fatale Fehlentscheidungen, die es dem Pilz ermöglichen, den Körper des mittlerweile toten Astronauten zu verlassen und die ganze Station zu überwuchern. Da der Kommandant weiterhin uneinsichtig ist, bahnt sich unter seinen Offizieren eine Meuterei an, um zu retten, was noch zu retten ist. Unterdessen erwägt man im Hauptquartier, die Station mit Atomraketen zu vernichten, um eine Kontamination der Erde mit dem Pilz zu verhindern ...

MUTINY IN OUTER SPACE - die Station erst blitzblank und dann vom Pilz überwuchert
Der von einem Hugo Grimaldi (sowie ungenannt Arthur C. Pierce) inszenierte MUTINY IN OUTER SPACE ist ein ziemlicher Billigheimer. Die Handlung ist einfallslos, die Spezialeffekte sind dürftig. Unter den Namen der Beteiligten fallen nur zwei Söhne berühmter Väter ins Auge, Harold Lloyd jr. als Darsteller und Josef von Stroheim beim Tonschnitt. Die physikalisch-technischen Sitten sind ein bisschen verlottert, denn bei Innenaufnahmen in der Station ist der Korridor nach links gekrümmt und nicht nach oben, wie es sein müsste, wenn die äußere Begrenzung durch die Rotation zum Boden wird. Mit anderen Worten, die künstliche Schwerkraft wirkt hier nicht radial nach außen, sondern entlang der Drehachse, was natürlich kompletter Humbug ist. Immerhin gibt es auch einen Fortschritt zu vermelden: Während die Station in CONQUEST OF SPACE eine reine Männerdomäne ist, gibt es hier eine Wissenschaftlerin und einen weiblichen Lieutenant, und beide dürfen nicht nur gut aussehen, sondern auch technische Geräte bedienen und eigene Entscheidungen treffen. (Kluschanzews Raumstation hat übrigens einen sehr hohen Frauenanteil.) Die blonde Lt. Engstrom in MUTINY IN OUTER SPACE wirkt sogar noch etwas autonomer als Lt. Uhura, die im Folgejahr ihren Platz auf der Brücke der Enterprise einnahm. Es gibt in MUTINY IN OUTER SPACE übrigens auch einen Doktor, der sich freundschaftlich mit dem uneinsichtigen Kommandanten wegen dessen angegriffener Gesundheit kabbelt, und der in dieser Hinsicht an "Pille" erinnert.

MUTINY IN OUTER SPACE - hier geht es linksrum statt nach oben
Ebenfalls 1965 drehte Anthony M. Dawson alias Antonio Margheriti innerhalb von nur drei Monaten seine Gamma-Eins-Tetralogie. Die vier Filme, in denen jeweils die rotierende Raumstation Gamma 1 vorkommt, kamen aber erst 1966 ins Kino, als auch die Enterprise und die Orion in die unendlichen Weiten aufbrachen. Bekannter als die italienischen dürften die englischen Titel sein, die da lauten: WILD WILD PLANET, WAR OF THE PLANETS, WAR BETWEEN THE PLANETS und SNOW DEVILS. Ich kenne keinen davon, der Screenshot ist aus einem Trailer für WAR OF THE PLANETS. 1968 schließlich, im Jahr, als 2001: A SPACE ODYSSEY das Licht der Welt erblickte, inszenierte der durch seine brachialen Yakuza-Filme bekannte Kinji Fukasaku als Sequel zu Margheritis Tetralogie den Kracher THE GREEN SLIME mit der weiterentwickelten Raumstation Gamma 3, der in deutlich unterschiedlichen japanischen und amerikanischen Versionen veröffentlicht wurde.

WAR OF THE PLANETS
Wurde eigentlich auch Kluschanzew von den Collier's-Artikeln beeinflusst, zumindest indirekt? Davon gehe ich aus, denn sein Berater Tichonrawow wusste sicher darüber Bescheid. Die hochrangigen sowjetischen Raumfahrtforscher (und zu denen zählte Tichonrawow) wurden vom Geheimdienst mit allen verfügbaren Informationen über ihre amerikanischen Kollegen und deren Aktivitäten versorgt, und die Collier's-Artikel waren ohnehin für jedermann frei zugänglich. Jeder sowjetische Diplomat konnte sie mit seiner Post in die Heimat schicken, um sie den interessierten Kreisen zugänglich zu machen, und das ist sicher auch geschehen.

THE GREEN SLIME - eine Raumstation und ihr Ende, Teil 2
Übrigens fand auch Disney Anklang in der Sowjetunion. Im August 1955 fand in Kopenhagen der sechste International Astronautical Congress (IAC) statt, und dort wurde in einer Sondervorführung DISNEYLAND: MAN IN SPACE gezeigt. Bei diesem Kongress waren auch sowjetische Wissenschaftler zugegen. Einer von ihnen war der Physiker Leonid Sedow, der Vorsitzende einer Kommission der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften, die das Sputnik-Programm vorantrieb. Sedow bat um leihweise Überlassung einer Kopie des Films, um ihn in der Sowjetunion zu zeigen. Doch Walt Disney persönlich ließ ihn abblitzen. Und zwar, wie sich Ward Kimball erinnerte, weil die sowjetische Regierung Ende der 30er Jahre eine Kopie von SCHNEEWITTCHEN UND DIE SIEBEN ZWERGE "für zwei Wochen" entliehen hatte und erst zehn Jahre später in arg ramponiertem Zustand zurückgab. Doch Sedow gab nicht so schnell auf. Im September des Jahres schrieb er einen Brief an Frederick C. Durant, den damaligen Vorsitzenden der International Astronautical Federation IAF (die die jährlichen IACs veranstaltet). Eine Überlassung einer Kopie, zu welchen Bedingungen auch immer, würde die Ost-West-Zusammenarbeit beträchtlich voranbringen, meinte er in dem Brief. Ob sich Durant als Vermittler einspannen ließ, und ob Sedow doch noch eine Kopie von MAN IN SPACE bekam, ist mir allerdings nicht bekannt.

DISNEYLAND: MAN AND THE MOON - die Reise zum Mond kann beginnen
Und wie steht es nun mit Kubrick? Ich nehme an, dass auch er schon in den 50er Jahren von Wernher von Brauns Ideen gehört oder gelesen hat, weiß es aber nicht mit Bestimmtheit. Aber da ist ja auch noch Arthur C. Clarke, und bei dem ist die Beweislage eindeutig. Ausgangspunkt der gemeinsamen Arbeit an 2001: A SPACE ODYSSEY war Clarkes 1951 erschienene Kurzgeschichte The Sentinel, und ab 1964 schrieben Clarke und Kubrick parallel und in enger Abstimmung den Roman und das Drehbuch zum Film. Und Clarke war nicht nur Schriftsteller, sondern auch ein Wissenschaftler, der sich intensiv mit Fragen der Raumfahrt befasste. Schon 1945 hatte er als Erster in einem wissenschaftlichen Artikel vorgeschlagen, geostationäre Satelliten zum Aufbau eines weltumspannenden Kommunikationsnetzes zu verwenden. Die Eigenschaften der geostationären Bahn waren schon länger bekannt, aber erst Clarke erkannte, dass nur drei solche Satelliten, die ein gleichseitiges Dreieck aufspannen, genügen, um den größten Teil der Erdoberfläche (alles außer den Polgebieten) abzudecken. Clarke war auch seit 1934 langjähriges Mitglied und zeitweise Vorsitzender der British Interplanetary Society, so etwas wie das britische Gegenstück zum VfR (aber anders als der deutsche Verein wurde die Interplanetary Society nie von staatlichen Stellen vereinnahmt).

2001: A SPACE ODYSSEY
1951 fand der zweite IAC in London statt, und auf dem Kongress wurde ein ausführlicher Vortrag von Wernher von Braun (der nicht persönlich anwesend war) über die Möglichkeit einer Reise zum Mars verlesen (und darin wurde bestimmt auch die Raumstation erwähnt). Und Vorsitzender dieses Londoner Kongresses war kein anderer als Arthur C. Clarke. Als Schriftsteller schrieb Clarke nicht nur Science Fiction, sondern auch populärwissenschaftliche Bücher über Raumfahrt mit ähnlicher Ausrichtung wie die von Willy Ley und von Braun. Und in mindestens einem davon (nämlich The Exploration of Space von 1951) wird die Erzeugung künstlicher Schwerkraft in rotierenden Raumfahrzeugen diskutiert. Clarke steckte also tief drin in der Materie, und er war mit dem Konzept der rotierenden Raumstation mindestens seit 1951 vertraut. Es brauchte also nicht den Umweg über Kluschanzew, um ihm (und damit Kubrick) diese Idee einzugeben.

Nach oben gekrümmte Flure bei Kluschanzew (oben) und Kubrick - prinzipbedingt notwendig,
wenn man die Physik ernst nimmt, und deshalb kein Indiz für Ideenklau
Diese kleine Chronologie bis 1968 erhebt keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit. 2001: A SPACE ODYSSEY war zweifellos für lange Zeit der tricktechnische und ästhetische Höhepunkt der Entwicklung, aber er war nicht einmal ein vorläufiger Endpunkt, denn schon im selben Jahr 1968 ging es ja mit THE GREEN SLIME weiter. Danach gab es noch viele Raumstationen, die ganz oder in Teilen rotierten, in letzter Zeit etwa in THE MARTIAN und ELYSIUM. Aber weil dieser Artikel höchst unvollständig ist, ist er hier auch schon (fast) zu Ende.

2001: A SPACE ODYSSEY
Mitglieder der Houston Section des American Institute of Aeronautics and Astronautics (AIAA) haben die Collier's-Artikel in hoher Qualität gescannt und in acht aufeinanderfolgenden Ausgaben ihrer Zeitschrift Horizons wiederveröffentlicht. Hier kann man die Hefte als PDF frei herunterladen, es handelt sich um die Ausgaben July/August 2012 bis September/October 2013. Dafür bedanke ich mich (unbekannterweise) bei den Leuten, denn es handelt sich um faszinierenden Lesestoff. Meine Collier's-Bilder hier habe ich aus diesen PDFs extrahiert.

2 Kommentare:

  1. Wieder einmal ein spannendender und kenntnisreicher Text. Deine ominöse Zeit bei der NASA schlägt also noch immer Früchte ;-)
    Viel habe ich dem nicht beizufügen. Höchstens: bei den Margheriti-Filmen kann ich dir nur empfehlen, sie möglichst weit unten in deiner to-see-Liste anzusiedeln. Zumindest die zwei, die ich gesehen habe (welche es waren, weiß ich nicht mehr genau – ich glaube, WAR OF THE PLANETS war dabei), waren eher dröge, labertaschig und einfallslos inszeniert.

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    1. Ach ja, meine Zeit bei der NASA - auch schon wieder mehr als fünfeinhalb Jahre her ...

      In Wirklichkeit gehöre ich zur "Generation Mondlandung" und habe damals als kleiner Knirps mit Sondererlaubnis zum Aufbleiben bis mitten in die Nacht vor dem Fernseher geklebt. Wenn nicht noch zu meinen Lebzeiten die Außerirdischen landen, wird das das Aufregendste bleiben, was jemals im Fernsehen kam.

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