Montag, 5. April 2010

Die Macht des Vollmonds


Vorbemerkung:
Dieser Text wurde von mir bereits in einem Film-Tagebuch veröffentlicht, das ich während einiger Zeit in einem Film-Forum  führte. Ich habe ihn  beinahe unverändert übernommen, da der Admin des betreffenden Forums mir auf meine Anfrage hin gestattete, meine seinerzeitigen Einträge als mein geistiges Eigentum zu betrachten.  "Whoknows Presents" wird nämlich z.T. von Leuten gelesen (man ahnt ja glücklicherweise nicht, wo ich es überall verlinkt habe), die das ehemalige Tagebuch nicht kennen, und es liegt mir am Herzen, ihnen manche  meiner früheren unmassgeblichen Betrachtungen zu Filmen nicht vorzuenthalten. Im Falle von zukünftigen "Übernahmen" werde ich auf diesen Hinweis verzichten und bitte “alte" Bekannte und Freunde, sich im Zweifelsfall  meinen Haftungsausschluss anzusehen.

Bei dieser Gelegenheit möchte ich mich bei meinem alten Kumpel Joe Ratzi dafür bedanken, dass er es mir erlaubt, im Osservatore Romano für neue Blog-Einträge Werbung zu betreiben. Die Rückmeldungen der Kurie fallen jedoch zum Teil noch spärlicher aus als die der Hustler-Leser.



So sind die Tage und der Mond
(Il y a des jours ... et des lunes, Frankreich 1990)
Regie: Claude Lelouch
Darsteller: Gérard Lanvin, Patrick Chesnais, Marie-Sophie L., Vincent Lindon, Annie Girardot, Gérard Darmon, Phillipe Léotard, Serge Reggiani, Anouk Aimée u.a.

Episodenfilme, die ganz auf ein grosses Ensemble bauen, haben es bei mir nicht leicht, weil ich sie automatisch an Robert Altman's Meisterwerk "Short Cuts" (1993) messe, zu dem sie entweder hinführen oder das sie nachahmen - und an dem sie, insbesondere wenn es wie in "Magnolia" (1999) zu allem Überfluss noch Frösche regnet, für gewöhnlich scheitern. Der Vergleich mit Altman scheint mir gerechtfertigt, gilt "Short Cuts" doch sozusagen als Mutter aller Ensemblefilme, als unerreichter Höhepunkt.

Claude Lelouchs "Il y a des jours ... et des lunes" ist in dieser Hinsicht eine Ausnahme, was wohl nicht bloss mit dem Herkunftsland Frankreich, sondern vor allem mit der eigenartigen poetischen Stimmung, ja traumhaften Schwerelosigkeit, die den Film im Gegensatz zu Altman's bewusst auf dem Boden bleibendem Mix aus Erzählungen von Raymond Carver durchzieht, zu tun haben dürfte. Bereits am Anfang erfahren wir zu den Klängen eines seltsam unstimmigen Chansons, das eine an einem Tisch im Freien sitzende Hochzeitsgesellschaft singt, eine der Hauptfiguren des Films werde in 18 Stunden vor unseren Augen sterben. Dies der Ausgangspunkt eines heiter-melancholischen Werks, dem man gleich anmerkt, dass es nicht wie andere Filme ist und dessen Titel auf jene Tage anspielt, die man lieber vermeiden würde, weil das unsagbar Grosse (der Vollmond) sich über uns unbedeutende Wesen lustig macht, die wir schreien und flüstern, andere zum Lachen oder Weinen bringen - und eventuell sterben!

"Il y a des jours ... et des lunes" beginnt in einer Frühlingsnacht, in der Vollmond, eine Mondfinsternis und die Zeitumstellung zusammenfallen. Eine solche Nacht habe es in sich, berichtet ein redseliger Rentner, in dessen Wohnung Dutzende von Fernsehapparaten aus unterschiedlichen Zeiten herumstehen, einer Meinungsforschern; und er warnt eindringlich vor dem Mond, dessen Macht unserem Leben eine katastrophale Wende zu geben vermöge. - Tatsächlich wirken die Erlebnisse der Hauptpersonen, von denen uns Lelouch temporeich und in rasch wechselnden Szenen (wodurch der Zuschauer regelrecht in den Sog des Geschehens hineingezogen wird) erzählt, auf den ersten Blick alltäglich, wenn auch leicht skurril: Ein Lastwagenfahrer, der seine Lieferung (Autos) wegen der fehlenden Stunde nicht rasch genug nach Paris bringen kann, schnappt sich einfach einen Wagen, mit dem er durch die Gegend fährt und eine junge Frau mitnimmt (sie ist ihrem Mann in der Hochzeitsnacht davongelaufen und möchte ans Meer); ein Arzt, der sich intensiv um seine Patienten kümmert, so intensiv, dass er sich nicht einmal Zeit für seine schwangere, noch verheiratete Geliebte nimmt; ein Restaurantbesitzer, der beim Glücksspiel alles verloren hat und von seiner Frau, mit der er noch um das Sorgerecht für die gemeinsame Tochter spielt, verlassen wird; eine mögliche Käuferin, die dem Koch nicht passt; ein einsamer Gast aus Rio, der ein Hotelmädchen zu sich aufs Zimmer bestellt, damit er mit jemandem reden kann; ein von einer jungen Frau umgarnter schwuler Priester, Komödianten, die mit dem Bus unterwegs sind (sie bereichern den Film mit beinahe surrealistisch anmutenden Chanson-Szenen). - Alle diese und andere Figuren scheint nichts zu verbinden, ausser der fehlenden Stunde, die sie an diesem Tag wohl brauchen könnten. Sie leben einfach ihr Leben, das aus Lieben, Weinen, Trennung, Trost, Hoffnung und ständiger Todesnähe besteht. Und doch hat Lelouch, der seine Geschichten immer wieder von einer zu Beginn auf einem unsichtbaren, scheinbar in der Luft hängenden Piano gespielten und sich zunehmend formenden Melodie  begleiten lässt, für das Ende (jemand kommt tatsächlich ums Leben) eine Überraschung bereit, die scheinbar banal wirkt, aber jedes "Konzept" von Zufall in Frage stellt.


Dem kleinen Meisterwerk, das - ohne die "Ikonen" des französischen Kinos (Deneuve, Huppert, Depardieu etc.) in Anspruch zu nehmen - mit einem hervorragenden Ensemble etwas völlig Eigenes auf die Beine stellt, haftet etwas Mystisches an. Es wirkt unwirklich und doch leicht zugänglich, erzählt wundersame Geschichten - und stellt Fragen: Weshalb hat der Mond angeblich solche Macht über uns? Warum beschert er uns diese Leidenschaften und Obsessionen? Muss er ein Menschenopfer fordern? Macht er sich über unsere nichtigen Zweifel lustig - oder ist alles doch bloss das, was auch immer wir unter "Zufall" verstehen mögen?

Lelouch, der sogar seine Darsteller (er arbeitet gerne immer mit den gleiche Schauspielern, die ihn wie eine Familie umgeben sollen) bis zum Ende über den Handlungsablauf im Unklaren liess, soll seinen 31. Film in 31 Tagen gedreht haben. Ich weiss nicht, ob diese Behauptung bloss in die Welt gesetzt wurde, um den mysteriösen Charakter von "Il y a des jours ... et des lunes" zu unterstreichen; auf jeden Fall fand der in Frankreich stets umstrittene Regisseur (ist er nun trivial oder genial?), dessen Anfänge mit der Nouvelle Vague in Verbindung gebracht werden und der schon für "Un homme et une femme" (1966) den Oscar für das beste Originaldrehbuch erhalten hatte, bei Kritikern und Zuschauern für einmal grossen Anklang - verdientermassen! - Ich schaue mir den Film gerne an einem Abend an, an dem ich weder Probleme wälzen noch unterhalten, sondern einfach von einer unaussprechlichen Leichtigkeit erfüllt werden möchte. Dass er diese Wirkung zu erzeugen vermag, ist einem Balanceakt zu verdanken, wie ihn sonst bloss ein Meister des Soufflés zustande bringt: Wäre eine "Zutat" falsch dosiert oder im ungünstigen Moment eingesetzt, würde das Kunstwerk in sich zusammenfallen. Erst am Ende, wenn die luftige Köstlichkeit aus dem Ofen genommen wird, darf ein Moment des wahrhaft Tragischen einsetzen. Lelouchs kleiner Triumph über das Medium Film mit all seinen Tücken ist in diesem Punkt mit Jim Jarmusch's "Night on Earth" (1991) vergleichbar, dessen Hang zur Schwerelosigkeit auch erst mit dem ächzend hervorgebrachten Wort "Helsinki" am Ende aufgehoben wird.


Was noch hinzuzufügen wäre: Für alle, die sich näher mit dem unterschätzten Poeten des französischen Films beschäftigen möchten, dürfte "Il y a des jours ... et des lunes" der ideale Einstieg sein.

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